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Normalerweise mochte Rebecca keine Musik bei der Arbeit, aber jetzt schaltete sie das DAB-Radio an, das Chaz und Alan ihr zu Weihnachten geschenkt hatten. Sie brauchte in diesem kleinen Zimmer irgendein Geräusch. Opernklänge erfüllten den Raum – irgendwas von Puccini, glaubte sie, dem Lieblingskomponisten ihrer Mutter, ein lyrischer und trauriger und tief empfundener Gesang –, und schon fühlte sie sich nicht mehr so allein. Sie schaltete den Wasserkocher ein und konzentrierte sich darauf, einen Artikel über Eleanor Fraser zu schreiben. Das würde die Sache am Kochen halten, so ein schöner Artikel mit menschlichem Aspekt. Sie hatte Eleanor sogar dazu überreden können, dass sie ein Bild von ihr mit dem Stoffhäschen machen durfte. Sie knipste es gleich mit ihrem Handy, weil sie die Angelegenheit nicht so lange herausschieben wollten, bis Chaz dazukommen konnte. Rebecca war über Eleanors Zustimmung erstaunt gewesen, aber die Leute waren immer für eine Überraschung gut. Manche, von denen sie überzeugt war, sie könnte sie leicht zu einem Bild überreden, konnten sich als kamerascheu entpuppen, während andere, von denen sie vermutet hatte, sie würden vor jedem Fotografen die Flucht ergreifen, sich nur zu bereitwillig ablichten ließen. Wahrscheinlich musste man den richtigen Augenblick erwischen, überlegte sie. Eleanor hatte ihr sogar einen Schnappschuss von ihrem Bruder mitgegeben. Es war ein etwa zwanzig Jahre altes Papierbild, aber es würde reichen. Man sah darauf ein breites Gesicht mit einer Narbe auf einer Wange, dünnem, zerzaustem Haar und Augen, die die Kamera mit kaltem Desinteresse betrachteten. Rebecca scannte das Bild ein und verschickte es als Anhang mit den Emails.

Sie blätterte ihr Notizbuch durch, fand Mona Maxwells Telefonnummer und wollte sie gerade auf dem Agentur-Handy anrufen, doch dann stockte ihre Hand über dem Hörer. Da war immer noch diese Nachricht, die ihr wie etwas Bösartiges auflauerte. Sie benutzte stattdessen ihr persönliches Handy. Sie hörte, wie das Telefon in Kirkbrig House fünfmal klingelte, ehe jemand den Anruf entgegennahm.

»Mona«, sagte sie und war froh, dass ihre Stimme ruhig klang. »Rebecca Connolly, ich war am Samstag bei Ihnen.«

»Ja, Rebecca, ich erinnere mich.« Die Stimme der Frau klang trocken. »Das ist ja erst zwei Tage her. Ich sehe, dass Sie im Fall meines Bruders sehr aktiv gewesen sind.«

Aus irgendeinem Grund hatte Rebecca Gewissensbisse, sie wusste nicht, warum das so sein sollte. »Ja. Ich hoffe, dass es Sie nicht zu sehr mitgenommen hat.«

»Wieso sollte mich das mitnehmen? Ich will, dass die Wahrheit ans Licht kommt, was immer das ist. So hätte es Murdo auch gewollt. Dieser Dodge, von dem ich in Ihrem Artikel gelesen habe, glauben Sie seine Geschichte?«

»Wer kann das schon sagen, Mona.«

»Natürlich, es ist ja auch nicht Ihre Sorge, nicht wahr? Wahrheit oder nicht, es ist eine Story.«

Rebecca konnte nicht recht ausmachen, ob Mona sie attackierte oder nicht. Der Ton dieser Frau war ja immer so brüsk. »Mir ist die Wahrheit sehr viel lieber. Aber in diesem Fall kann ich nur sagen, was die Faktenlage ist, dass er diese Behauptung gemacht und eine eidesstattliche Erklärung unterzeichnet hat.«

»Die allerdings nicht vor Gericht geprüft werden kann, weil er tot ist.«

»Das stimmt. Aber es ist ein Anfang, Mona. Sie haben selbst gesagt, Sie könnten nicht glauben, dass James Stewart schuldig ist.«

»Ja, das habe ich.«

Etwas an ihrer Stimme ließ Rebecca fürchten, dass sie diese Meinung gerade überdachte. Das geschah schon einmal, wenn Leute etwas in gedruckter Form vor sich sahen. Dann bekommen die Dinge ein anderes Leben, eine andere Perspektive. Etwas, worüber sich die Leute sicher waren, etwas, das sie unterstützt haben, konnte sich ändern.

Rebecca beschloss, voranzupreschen. »Ich wollte Ihnen eine Frage stellen, Mona, wenn ich darf.« Sie wartete auf eine Antwort, doch am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Das interpretierte sie als Zustimmung. »Erinnern Sie sich an einen jungen Mann namens Evan?«

Wieder Schweigen, nur von ein paar schwachen Klickgeräuschen in der Leitung unterbrochen. Rebecca überlegte, ob die Sicherheitsbehörden das Telefon schon wieder abhörten, wenn sie es denn je getan hatten. Falls sie vor zehn Jahren Interesse an Maxwell gehabt hatten, würden sie sich jetzt wieder für den Fall interessieren? Sie dachte an die Leute in den Gehaltsklassen über Roach, die eine inoffizielle Untersuchung angeordnet hatten. Wer immer zum Hörer gegriffen und Roachs Chef angerufen hatte, hatte der ein Büro in Holyrood oder Westminster?

»Mona?«, fragte Rebecca, als sie ein paar Sekunden lang nur Klicken gehört hatte und fürchtete, die Frau könnte auflegen.

»Ich habe ihn nie kennengelernt«, sagte sie nun.

»Aber Sie wussten von ihm?«

»Ich war damals noch in China, und zwischen den beiden war was, so ungefähr zwei Jahre vor meiner Rückkehr, also reden wir von der Zeit vor … dreizehn, vierzehn Jahren.«

Mary hatte erzählt, dass der Vorfall in der Bar Jahre her war.

»Aber Ihr Bruder hat ihn erwähnt?«

»Ja, wir haben uns regelmäßig geschrieben, während ich im Ausland war, und er hat mir immer von seinen Partnern erzählt. Es waren wirklich nicht so viele, wie die Presse nach seinem Tod angedeutet hat. Und es waren auch nicht alle jünger als er.«

»Aber Evan schon?«

»Ja, ich bin mir nicht sicher, wie groß der Altersunterschied zwischen den beiden genau war, aber Murdo war um die vierzig und ich glaube, Evan Anfang zwanzig.«

»Wie James.«

»Ja, wie James.«

»Erinnern Sie sich an seinen Nachnamen?«

Wieder Schweigen. Noch mehr Klicken und Kratzen. »Rose, wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht. Evan Rose.«

Rebecca schrieb den Namen auf. Mit einem Fragezeichen dahinter. »Und hat Ihr Bruder Ihnen irgendwas von ihm erzählt?«

»Nur, dass er Probleme gemacht hat.«

»Was für Probleme?«

»Mehr hat er nicht gesagt. Evan hat Probleme gemacht, und er musste die Sache beenden. Da hatte er James entweder gerade kennengelernt, oder er hat ihn kurz darauf getroffen.«

Rebecca unterstrich den Namen einmal, zweimal, dreimal. »Ich nehme an, Sie wissen nicht, wo sich dieser Evan Rose jetzt aufhält?«

»Doch, zufällig weiß ich das.«

»Wo?«

Wieder klickte es ein paarmal in der Leitung. »Auf einem Friedhof in Edinburgh.«