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Eine Brise wehte durch die Äste der Bäume auf dem Anwesen von Kirkbrig House, traf auf das hölzerne Klangspiel und ließ es klappern, als Mona Maxwell die beiden Schlösser brachte. Das Yale-Schloss und das Bartschloss. Sie waren angelaufen und rostig. Rebecca starrte sie an, wollte sie mit der bloßen Kraft ihrer Gedanken dazu bringen, zu den Schlüsseln zu passen, die Stephen Jordan in der Hand hielt. Sie mussten passen.

Sie mussten einfach.

Rebecca hatte ihr Auto aus der Werkstatt abgeholt – Martin Bailey schuldete ihr hundertfünfzig Pfund. Da es sich herausgestellt hatte, dass Stephen Jordan keinen Führerschein hatte, war sie gefahren. Welcher Mann in den Dreißigern, vielleicht Vierzigern konnte heutzutage nicht Auto fahren, fragte sie sich. Die Antwort saß auf dem ganzen Weg nach Appin neben ihr.

Sie hatte befürchtet, es würde eine unbehagliche Fahrt werden, aber es stellte sich auch heraus, dass der Anwalt sehr redselig war. Sehr lustig. Sogar charmant. Aber sie sprachen ja auch nicht über Dinge von größerer Bedeutung. Er erkundigte sich nach ihrer Familie, und sie erzählte ihm von ihrem Vater und ihrer Mutter. Er berichtete ihr von seinen Eltern, Mum und Dad lebten beide noch, waren Anwälte gewesen, aber inzwischen beide im Ruhestand. Er hatte ihre Kanzlei übernommen. Er war geschieden. Es hatte nicht funktioniert, mehr sagte er dazu nicht.

Das gibt’s heutzutage ziemlich häufig, dachte sie.

Er fragte sie nicht nach Simon, und sie überlegte, ob er alles bereits wusste, obwohl er erklärt hatte, dass er Simon nicht besonders gut kenne. Vielleicht erwartete er, dass sie ihrerseits berichten würde, nachdem er ihr von seiner gescheiterten Ehe erzählt hatte. Aber das verkniff sie sich.

Stattdessen fragte sie: »Warum machen Sie das hier?«

»Was meinen Sie?«

»Warum helfen Sie Mrs Stewart?«

»Ich befolge die Anweisungen meiner Mandantin.«

»Aber Sie werden nicht bezahlt.«

Ein winziges Lächeln tauchte auf. »Und wir sollten uns nur von Geld motivieren lassen?«

Sie dachte über ihren Schwur in Keil Chapel nach, diesmal die Story bis zum Ende zu verfolgen, selbst wenn es keine zahlende Kundschaft gab. »Okay, Sie haben recht.«

Er schwieg einen Augenblick. »Manchmal muss man etwas tun, weil es das Richtige ist. Ich mache meine Arbeit, weil ich glaube, dass jeder das Recht auf eine Verteidigung und ein faires Verfahren hat. Das ist nicht immer so. Die Waagschalen der Justiz sind oft zugunsten der Anklage geneigt. Und ich tue, was ich kann, um das Gleichgewicht wiederherzustellen.«

»Also sind alle Ihre Mandanten unschuldig?«

»Ganz gewiss nicht. Aber ich denke nicht in den Kategorien Schuld und Unschuld. Ich denke nur an das, was sich beweisen lässt und was nicht.«

»Also ist es Ihnen gleichgültig, was diese Leute gemacht haben?«

»Natürlich nicht. Und ich hatte deshalb schon schlaflose Nächte. Aber ich komme immer wieder auf meine Überzeugung zurück, dass jeder die bestmögliche Verteidigung verdient, selbst wenn sie aus der Tasche des Steuerzahlers bezahlt wird. Wenn der Staat Anklage erhebt und die Ankläger bezahlt, sollte er auch die Verteidigung finanziell unterstützen.«

»Warum?«

»Wegen des Grundprinzips, dass jeder als unschuldig gilt, bis ihm die Schuld nachgewiesen wird. Wenn jemand, der kein Geld hat, eines Verbrechens bezichtigt wird und sich keinen Anwalt leisten kann, wird er weggesperrt, ohne dass das Beweismaterial gründlich gesichtet wird. Das ist keine Gerechtigkeit, das ist Tyrannei. In diesem Fall mache ich es, weil ich glaube, dass es das Richtige ist.«

»Sie haben Dodger also geglaubt?«

Er dachte darüber nach. »Ich höre in meinem Beruf viele Lügen, nicht nur von meinen Mandanten. Ich glaube, dass das, was ich von Mr Dodge gehört habe, der Wahrheit entspricht.«

»Warum?«

»Weil er dem Tod nah war. Weil er es loswerden musste. Weil er mit dem letzten Atemzug noch etwas Gutes tun wollte.«

Nun schwieg Rebecca. Sie fuhr noch eine Meile, ehe sie fragte: »Wenn die Schlüssel passen, was ist der nächste Schritt?«

»Das ist, fürchte ich, erst der Anfang. Ich kann einen Antrag für eine weitere Überprüfung auf der Grundlage der neuen Beweismittel stellen; das wären also der Schlüssel und Mr Dodges Aussage. Ich habe mir auch kurz Einzelheiten des ersten Verfahrens angesehen, und wir könnten vielleicht eine Anderson-Revision beantragen, obwohl das immer riskant ist.«

»Was heißt das?«

»Dass James nicht angemessen juristisch vertreten wurde. Sein Team hat nicht genug aus der Tatsache gemacht, dass nur wenig Blut an seinem Körper war, auch nicht aus dem Streit, den sein Vater mit Maxwell hatte. Da könnten wir also ein bisschen Verhandlungsspielraum haben.« Er wackelte ein wenig mit der Nase. »Aber das ist mindestens unsicher. Wir haben auch die Option, uns an die Schottische Kommission zur Revision von Strafverfahren zu wenden und herauszufinden, ob die den Fall untersuchen und ein Wiederaufnahmeverfahren empfehlen.«

»Sicher ist das doch die beste Möglichkeit – wenn eine offizielle Stelle sich die Sache ansieht. Hat größeres Gewicht, oder nicht?«

Sein kurzes Lachen klang ironisch. »Ja, das sollte man meinen, aber die Staatsanwaltschaft und die Polizei können denen genauso viele Schwierigkeiten machen wie gewöhnlichen Sterblichen. Es gibt aber absolut keine Vermutung, dass in diesem Fall irgendjemand sich etwas zuschulden kommen ließ – sie haben anscheinend alles korrekt abgewickelt –, also könnten sie die Sache in einem freundlicheren Licht sehen.«

Rebecca dachte daran, dass Sawyers Geschichte praktischerweise gleich in den Akten verschwunden war. Das hatte im Endeffekt nichts zu bedeuten, aber es war trotzdem falsch.

»Egal wie«, fuhr Jordan fort, »es gibt keine Garantie dafür, dass das Gericht diese neuen Beweismittel akzeptiert, selbst wenn die Schlüssel passen.«

»Warum nicht?«

»Man hätte Mr Dodges Aussage als Geständnis mit Sonderwissen betrachten können, wenn er es zur damaligen Zeit abgelegt hätte – bestimmte Elemente darin konnte nur der wirkliche Mörder wissen. Aber seither ist viel Zeit vergangen. Während des Verfahrens und später in den Medien sind Einzelheiten zum Tatverlauf veröffentlicht worden. Und die Staatsanwaltschaft wird sicher damit argumentieren, dass Dodge auf diese Weise davon erfahren haben könnte.«

»Aber die Schlüssel? Wie hätte er an die Schlüssel kommen können?«

»Die werden helfen, sein Geständnis zu untermauern, da bin ich mir sicher, aber die Staatsanwaltschaft könnte behaupten, wir hätten sie von Mona Maxwell bekommen.«

»Was? Die könnten behaupten, Mona hätte uns die Schlüssel gegeben? Warum sollte sie das machen?«

Er lächelte. »Ich sage nicht, dass sie es machen werden. Ich spiele hier nur den Advocatus Diaboli. Wir haben es mit einem Gericht zu tun. Anwälte sagen alles, was ihrem Fall hilft oder Zweifel aufwirft.«

»Aber die Schlüssel werden helfen?«

»Falls sie passen.«

Mona ordnete die Schlösser in der Küche auf der Arbeitsfläche an, und der Anwalt legte die beiden Schlüssel daneben. Alle drei starrten die Gegenstände eine Sekunde lang an, ehe Jordan zunächst das Bartschloss nahm und den Schlüssel hineinsteckte.

Der Augenblick der Wahrheit, dachte Rebecca.

Jordan versuchte, den Schlüssel zu drehen.

Er schien zu klemmen.

Mist.

Er zog ihn heraus, pustete aus irgendeinem Grund darauf und versuchte es noch einmal.

Der Schlüssel ließ sich ein wenig drehen, hakte aber wieder.

Doppelter Mist.

Mona schnalzte mit der Zunge und verschwand im Vorratsraum, kehrte dann mit einer Dose Schmieröl zurück. Jordan gab ein wenig davon ins Schloss, fuhr mit der Tülle rund um das Schlüsselloch und träufelte auch etwas auf den Schlüssel selbst. Er warf Rebecca einen Blick zu, der zu sagen schien, dass es jetzt um alles ging, und schob den Schlüssel erneut ins Schloss.

Pause.

Er versuchte den Schlüssel zu bewegen.

Der Schlüssel drehte sich im Schloss.

Draußen lieh das Windspiel der Brise eine Stimme.