Von nun an wechselten sich Jia Jias Tante und ihre Großmutter mit dem Schlafen ab. Sie wollten sichergehen, sagten sie, dass immer jemand wach war, falls das Aquarium erneut Feuer fangen sollte. Im Lauf des Tages war ein Elektriker gekommen und hatte eine alte Steckdose als Brandursache ausgemacht. Obwohl er die Leitungen erneuert hatte, ging Jia Jias Tante seither beharrlich stundenlang im Wohnzimmer auf und ab, bis um zwei Uhr früh ihre alte Mutter den Wachposten übernahm.
Jia Jia musste mit der Arbeit bei Frau Wan fertig werden. Die Unruhe ihrer Tante und Großmutter belastete sie, und sie brauchte das Honorar für ihre Reise. Als Jia Jia Frau Wan anrief, um alles zu vereinbaren, sagte ihr diese, sie sei mit den Kindern in Amerika und bedauere es sehr, die Fertigstellung des Gemäldes nicht miterleben zu können. Aber das Dienstmädchen sei in der Wohnung.
Tatsächlich fand Jia Jia beim Eintreffen Frau Wans Ehemann auf dem Sofa vor, wo er Rauchringe in die Luft blies. Sie war verwundert, ihn dort allein vor einem Aschenbecher aus Bronze sitzen zu sehen, der von ausgedrückten Yunyan-Zigaretten, Walnussschalen und benutzten Servietten überquoll. Sein Pferdeschwanz saß jetzt tiefer, offenbarte aber immer noch die wenigen grauen Strähnen hinter den Ohren. Sein Bart schien sogar noch länger geworden zu sein.
»Verzeihen Sie die Unordnung, ich wusste nicht, dass Sie kommen«, sagte er.
Mit einem beschämten Lächeln leerte er den Aschenbecher, wusch ein paar Trauben für Jia Jia und stellte sie auf einem Teller auf den Schuhschrank im Eingangsbereich ab.
»Ich hatte nicht vor, eine so lange Pause einzulegen«, sagte Jia Jia. »Es tut mir leid, aber ich habe Sie nie gefragt, wie Sie heißen.«
»Mein Name ist Du Fan, aber Sie können ruhig Alter Du zu mir sagen. Und mit dem Bild hat es keine Eile. Überhaupt keine Eile.« Er machte sich auf den Weg zurück zum Sofa und wedelte mit der Hand zu dem Bild hin, als wollte er es wegscheuchen.
»Falls ich Sie störe, Herr Du, kann ich auch ein andermal wiederkommen, wenn Sie nicht da sind«, sagte Jia Jia. »Morgen zum Beispiel.«
»Aber nein«, brummte er in seinen Bart. Leicht nervös suchte er nach einer Beschäftigung für seine Hände. »Ich mache mir einen Drink.«
Auf dem Esstisch stand bereits eine angebrochene Cognacflasche, der Alkoholgeruch erfüllte die abgestandene Luft in der Wohnung. Herr Du schenkte sich ein Glas ein.
»Und Frau Wan und die Kinder sind im Urlaub in den USA?«, erkundigte sich Jia Jia, während sie eine Palette aus Blautönen zusammenstellte.
»Sie ist in Boston und kauft Bettbezüge«, sagte Herr Du. »Die Kinder sollen dort aufs Internat gehen.«
»Aber die Kinder sind doch noch so klein!«, rief Jia Jia. »Haben Sie ein Haus in Boston?«
»Ein guter Freund von mir wird sie vor Ort betreuen. Wir kennen uns seit der Mittelschule. Sobald die Schule angefangen hat, kommt Wan Lian für ein paar Tage zurück. Eigentlich wollte sie gestern schon zurückkommen.«
Er drückte die Faust ans Ohr, als würde er telefonieren, und fuhr fort: »Aber dann hat sie mich angerufen und gesagt: ›Ach, die Matratzen sind viel zu weich, davon kriegen die Kinder einen krummen Rücken, ich muss ihnen neue Matratzen kaufen. Und ich muss ihnen Schuhschränkchen für die neuen Turnschuhe kaufen, die wir in New York besorgt haben, sonst fängt es in diesen kleinen Zimmern schnell an zu riechen. Ich muss Huihui einen neuen Tennisschläger kaufen und Yingying Ballettschuhe, ich muss dies kaufen, ich muss jenes kaufen.‹« Er leerte seinen Cognac in einem Zug und sprach weiter. »Was hätte ich mich über eine weiche Matratze gefreut, als ich klein war. Die Kinder müssen lernen, erwachsen zu werden, wir sollten sie nicht so verwöhnen, finden Sie nicht auch? Haben Sie Kinder?«
Jia Jia schüttelte bedauernd den Kopf, um ihm zu zeigen, wie leid es ihr tat, dass sie ihm in Ermangelung eigener Kinder nicht beipflichten konnte.
»Sind Sie denn verheiratet?«, fragte er.
Jia Jia überlegte kurz und schüttelte dann erneut den Kopf.
»Sekunde.« Herr Du verschwand im Schlafzimmer und kam mit einer akustischen Gitarre zurück, die er sich umgehängt hatte. Er zog einen Stuhl vom Esstisch weg, setzte sich und machte sich daran, die Gitarre zu stimmen. »Könnten Sie mir mein Glas reichen? Und die Zigaretten.«
Jia Jia händigte ihm das Glas und die Tabakwaren aus, dazu den Bronzeaschenbecher, der von vielen Jahren im Einsatz schon ganz fleckig war.
»Ich singe Ihnen etwas vor!« Er klopfte auf die Gitarre. »Was wollen Sie hören?«
»Ganz egal«, sagte Jia Jia.
»Unterschätzen Sie mich bloß nicht, Lady. Ich singe jeden Mittwoch in meinem Jazzclub! Ich bin ziemlich gut. Für meine Frau singe ich praktisch nie. Na los, sagen Sie mir, was Sie hören wollen!«
»Suchen Sie doch etwas aus.« Jia Jia wandte sich wieder ihrem Bild zu, griff nach dem Pinsel und wartete, dass er anfangen würde.
Er zündete sich die letzte Zigarette aus dem Päckchen an, nahm einen langen Zug und ließ sie dann auf dem Aschenbecherrand balancieren, wo sie zu einer Art Räucherstäbchen wurde. Er spielte ein paar Akkorde auf der Gitarre, lauschte der Tonfolge, um sicher zu sein, dass alles stimmte. Dann fing er an.
Jia Jia staunte über die Reinheit seiner eindringlichen Stimme; sie hatte mit etwas Rauerem gerechnet. Aber sein Gesang war wie ein klarer, sonnenheller Tag auf dem Gipfel eines Berges. Es war ein englischsprachiges Lied, das Jia Jia bekannt vorkam, auch wenn ihr der Titel nicht einfiel.
Seine englische Aussprache war gut, aber er ersetzte einen Großteil des Textes mit »la-la-la« oder »da-di-da«. Die Zigarette war heruntergebrannt, und er drückte sie im Aschenbecher aus, zerquetschte sie.
»Wir lassen uns scheiden«, sagte er über die letzte Kadenz hinweg.
Dann spielte er einen dissonanten Akkord, kniff die Augen fest zu, öffnete den Mund und heulte laut, wie ein Neugeborenes. Seine Gesichtshaut war knittrig wie ein ausgewrungenes Handtuch.
»Wir haben gestritten, und …« Er schnippte mit den Fingern. »… dann sagt sie mir einfach so, dass sie mich verlassen will.«
»Was ist mit den Kindern?«, fragte Jia Jia.
Er vergrub das Gesicht in den Händen und antwortete nicht auf ihre Frage.
»Ich hätte nie gedacht, dass sie mich verlässt«, sagte er schließlich.
Jia Jia steckte ihren Pinsel in das abgeschnittene Unterteil einer Plastikflasche. Die waldgrüne Farbe zerlief und färbte das Wasser milchig grün. Sie überlegte, ob Chen Hang sie wohl früher oder später um die Scheidung gebeten und ob er danach jemand anders geheiratet hätte. Wenn er Jia Jia auf diese Weise verlassen hätte, würde sie dann heute hier stehen und malen und Herrn Dus Schluchzen lauschen?
Es spielte keine Rolle mehr. Als sie Herrn Du mit der Gitarre auf dem Schoß dort sitzen und weinen sah, als wollte er, dass sein Herz vor ihren Augen zersprang, da erlebte Jia Jia kurioserweise einen Augenblick heiteren Glücks. Als hätten ihre Herzen sich flüchtig berührt.
»Jia Jia«, stieß Herr Du plötzlich hervor und blickte auf, »ich habe ganz vergessen, Sie zu fragen, ob es Ihnen wieder richtig gutgeht? Hat sich jemand um Sie gekümmert, als Sie krank waren?«
»Ich bin zu meiner Großmutter gezogen«, sagte Jia Jia. »Meine Tante wohnt auch dort.«
»Ihre Tante … Li Changs Frau, nicht wahr? Er ist ein guter Kerl. Na, lassen Sie mich wissen, wenn ich irgendwie helfen kann.« Er wischte sich lächelnd die Tränen weg.
Für den Rest des Nachmittags sang Herr Du, während Jia Jia malte. Er wechselte zwischen englischen und chinesischen Liedern, gab alles zum Besten, vom Jazz über Rockballaden bis zur Volksmusik. Wenn Jia Jia ein Stück erkannte, summte sie mit.
Gegen Abend brachte sie eine zusätzliche Stunde damit zu, die Bettelschale in der Mitte des Wandgemäldes zur Perfektion zu bringen. Liebkost von den Händen des uralten Buddha erstrahlte sie wie ein Saphir.
Herr Du hatte nicht mehr viel gesagt und nur mit der Hand gewedelt, als Jia Jia ihm sagte, sie sei fertig. Als sie aufbrach, stand vor der U-Bahn eine Horde von Männern und Frauen an. Jia Jia legte ihre Tasche auf das Band der Durchleuchtungsmaschine am Eingang, und ein Grüppchen Frauen mittleren Alters mit Fotoapparaten um den Hals schob sie durch den Metalldetektor.
Jia Jia ließ die anderen Leute zuerst einsteigen; sie hatten es offensichtlich eiliger, nach Hause zu kommen. Sie nahm sich vor, nach ihrer Rückkehr aus Tibet Fahrstunden zu nehmen. Sie fühlte sich jetzt leichter, weil sie das Bild bei Frau Wan beendet hatte. Sie ließ Dinge nicht gern unabgeschlossen, und in gewisser Weise erschien es ihr als gutes Omen für die Reise. Sie malte sich aus, was Leo wohl sagen würde, wenn er das Wandgemälde sehen könnte.
Er würde sie sicher dafür loben, dachte sie.
Ein paar Tage später bat Frau Wan Jia Jia, bei ihr vorbeizukommen. Das Dienstmädchen war wieder da und bestückte erneut den Kühlschrank mit Flaschen. Diesmal schien es sich um japanischen Sake zu handeln.
Herr Du war nicht zu Hause.
»Es ist genau das, was ich wollte!«, begeisterte sich Frau Wan, beugte sich vor und fuhr mit dem Zeigefinger über das Gemälde. »Dieser Teich sieht aus, als wäre er echt! Und erst die Augen des Buddha! Sie sind so gütig … so liebevoll.«
Sie kniete auf dem Marmorboden nieder, die Hände vor der Brust gefaltet, schloss die Augen und betete, als säße der Buddha jetzt, da das Bild vollendet war, leibhaftig vor ihr.
»Ich bringe Ihnen etwas aus Tibet mit«, sagte Jia Jia.
»Nur ein reiner und gütiger Mensch wie Sie ist fähig, ein so eindringliches Gemälde zu schaffen.« Frau Wan erhob sich und drückte Jia Jia den Arm. Ihr Griff war eisern und passte kaum zu ihrem mageren, zerbrechlichen Körper.
»Ich höre, mein Mann war hier, als Sie das letzte Mal gekommen sind«, fuhr sie fort. »Hat er Ihnen erzählt, dass ich umziehe? Die Luft hier im Zentrum ist einfach zu schlecht.«
»Ja, schrecklich.«
»Ich will es Ihnen nicht verhehlen, wir lassen uns scheiden. Die Kinder sind jetzt in Amerika, das fand ich einen guten Zeitpunkt, um das hinter uns zu bringen. Ich kann einfach nicht mehr bei ihm bleiben. Er ist nie zu Hause. Da kann ich genauso gut allein leben. Seit über zwei Monaten haben wir nicht mehr als Familie zusammen gegessen. Zwei Monate! Das sind mehr als sechzig Tage. Und diesmal, als ich wiederkam, sah es in der Wohnung aus wie nach einem Einbruch! Ein einziges Chaos!« Frau Wan drehte sich im Kreis und deutete auf diverse Dinge.
Dann griff sie nach ihrer Handtasche und zog zwei Stapel druckfrischer Hundert-Yuan-Scheine hervor, die von Papiermanschetten zusammengehalten wurden.
»Wie könnte ich auch nur einen weiteren Tag mit diesem Mann verbringen?«, sagte sie und gab Jia Jia das Geld. »Zählen Sie doch noch einmal nach, ja? Ich bin in letzter Zeit ein bisschen durcheinander. Er ist so schmuddelig, verstehen Sie? Selbst direkt nach dem Duschen finde ich ihn noch schmuddelig.«
»Er liebt Sie offenbar sehr«, sagte Jia Jia; sie wusste nicht recht, was sie Frau Wan sonst sagen sollte. Das Geld schob sie direkt ins Seitenfach ihrer Handtasche, als Zeichen ihres Vertrauens.
»Wir haben zwei Kinder«, sagte Frau Wan. »Liebe und Leidenschaft bringen einen nicht durch ein ganzes gemeinsames Leben. Irgendwann geht es in der Ehe auch darum, dass zwei Menschen miteinander auskommen und ruhige Tage zusammen verbringen, dass man Gesellschaft hat, wenn man alt ist. Das begreift er nicht.«
»Aber was machen Sie mit dem Bild, wenn Sie ausziehen?«, fragte Jia Jia.
»Ich bin überzeugt, der alte Du wird sehr glücklich damit werden. Wenn Sie mich fragen, es wird ihm guttun. Sie müssen mich unbedingt anrufen, wenn Sie zurück sind, ja? In meinem neuen Wohnzimmer habe ich eine noch größere Wand.« Sie breitete die Arme weit aus, um die Ausmaße der Wand anzudeuten. »Da möchte ich ein neues Bild. Ein größeres!«
Jia Jia willigte ein und schnürte sich die Turnschuhe zu, um aufzubrechen.
»Herr Du hat eine wunderbare Singstimme«, sagte sie im Gehen zu Frau Wan.
»Hat er für Sie gesungen? Früher sang er hier von morgens bis abends, bis unser zweites Kind kam. Mir war das zu laut. Ich habe lieber eine ruhige Umgebung.« Frau Wan rieb sich den Nacken, verzog das Gesicht. »Ich werde wohl alt. Selbst an warmen Tagen wie heute habe ich ständig das Gefühl, dass mir der Wind in den Nacken bläst.«
Sie hüllte sich in einen blauen Schal und brachte Jia Jia zur Tür.