An dem Tag, als Jia Jia nach Lhasa fliegen sollte, wartete Xiao Fang vor ihrer Haustür. Die Frau ihres Vaters trug eine rosarote Seidenbluse und blaue Jeansshorts. Ihr Haar war glatt, schwarz gefärbt und von einer Spange mit Burberry-Karo zusammengehalten. Der tiefrote Lippenstift gab ihrem alternden Mund das Aussehen getrockneter Preiselbeeren, die Shorts saßen zu knapp und standen ihr nicht. Aber sie hatte sich immer schon wie ein junges Mädchen aufgeführt, ging stur ihren eigenen Weg, ohne an die Folgen zu denken; für sich und ihre Familie war sie stets der Mittelpunkt der Welt. Und jetzt hatte sich auch Jia Jias Vater dieser Familie angeschlossen.
Jia Jia trug ihren Koffer die Treppe hinunter. Nach Osten hin war der Himmel blau, aber dort, wo sie war, trübte es sich ein.
»Jia Jia!« Xiao Fang nahm die Sonnenbrille ab und winkte damit. »Bist du im Aufbruch? Ich habe deine Tante gefragt, sie sagte mir, dass du heute nach Tibet fliegst. Ich fahre dich zum Flughafen.«
Jia Jia sah sich nach ihrem Vater um.
»Ich bin allein«, sagte Xiao Fang. »Dein Vater weiß nicht, dass ich hier bin. Er wird alt, weißt du? Er hat Verdauungsprobleme, und die Schulter tut ihm ständig weh. Willst du wieder zu uns ziehen, Jia Jia?«
»Wieder zu euch ziehen?«
»Wir haben zwei leerstehende Zimmer, eines hat sogar ein eigenes Bad, da kannst du …«
»Nein«, sagte Jia Jia. »Ich meine, nein, das ist nicht nötig, vielen Dank. Ich bin hier gut untergebracht.«
Xiao Fang machte ein betrübtes, grimmiges Gesicht, wie ein getretener Hund, dem Unrecht geschehen ist.
Seufzend sagte sie: »Deine Tante macht auch eine schwierige Zeit durch.«
Ihre Stimme hatte den Ton einer Mutter angenommen, die ihrem Kind etwas Schwieriges so schonend wie möglich beibringen will. Jia Jias Mutter hatte nie so mit ihr gesprochen: Sie hatte einfach nur gelacht, geweint, geliebt und gehasst, mit aller Lebenskraft, die sie in sich trug, und Jia Jia vor keiner Wahrheit abgeschirmt, ob sie nun schön war oder erschütternd.
Aber Jia Jia wusste auch noch, wie sehr sie sich als Kind gewünscht hatte, ihre Mutter würde, wenn sie ihr abends übers Haar strich, ihr auch zuflüstern, dass sie wieder als komplette Familie leben würden und die Frau, die da vor ihr stand, nur ihre Tante Fang Fang sei, nichts weiter. Stattdessen hatte die Mutter Jia Jia in den Arm genommen, manchmal ins Haar ihrer Tochter geweint und sie dann wieder mit einem sanften, fernen Lächeln auf den Lippen hin und her gewiegt. Sie hatte nie auch nur den Versuch gemacht, ihr irgendetwas zu erklären.
»Meine alte Wohnung steht leer«, fuhr Xiao Fang fort. »Wenn du möchtest, kannst du auch dort wohnen. Ihr würdet euch alle wohler fühlen, du, deine Großmutter und deine Tante.«
»Sag meinem Vater, er soll auf sich aufpassen. Ich besuche ihn, sobald ich wieder da bin.«
»Denk zumindest darüber nach, deiner Tante zuliebe. Lass mich dich fahren.«
»Ich habe mir ein Taxi bestellt«, sagte Jia Jia.
Xiao Fang nahm den Griff des Koffers und half Jia Jia, ihn zu dem schwarzen Toyota zu wuchten, der vor dem Eingangstor wartete. Sie strahlte und winkte noch einmal mit der Sonnenbrille, bevor sie sie wieder aufsetzte. Jia Jia dachte daran, wie ihr Vater am Tisch des Restaurants die Mundwinkel hochgezogen und die Zähne gebleckt hatte.
Am Flughafen wimmelte es von Eltern mit Kindern, die der Stadt für die Sommerferien entfliehen wollten; sie stießen zusammen und wuselten in alle Richtungen, wie eine gehetzte Herde. Jia Jia musste zwei separate Sicherheitschecks über sich ergehen lassen, bis sie am Check-in-Schalter war.
»Wann in aller Welt schaffen sie endlich diese absurden Sicherheitschecks ab?«, rief eine Männerstimme irgendwo hinter ihr. »Sehen Sie nur die Frau da, die hat ihre Handtasche gar nicht abgegeben. Völlig sinnlos, das Ganze. Und man muss doch auch keine fünf Leute bezahlen, um eine Durchleuchtungsanlage zu bedienen.«
Jia Jias Telefon klingelte. Es war noch einmal Xiao Fang.
»Hast du schon eingecheckt?«, fragte sie. »Wann geht dein Flug?«
»Gegen sieben. Ich stehe gerade in der Schlange. Was ist denn noch?« Jia Jia griff in ihre Handtasche und fischte ihren Pass heraus. Die Europäerin vor ihr wuchtete ihren Rucksack auf das Band und verließ den Schalter. Jia Jia reichte dem Airline-Mitarbeiter ihren Ausweis.
»Ich habe dir gerade etwas Geld überwiesen. Für deine Reise«, sagte Xiao Fang.
»Das überweise ich gleich zurück, sobald ich eingecheckt habe.«
»Behalt es doch, für den Notfall.«
»Ich kann es nicht behalten«, sagte Jia Jia.
»Dein Vater möchte, dass du es bekommst. Es ist sein Geld. Du musst dich nicht schlecht dabei fühlen, wir wollen beide einfach nur sicher sein, dass du auch wirklich eine gute Zeit dort hast«, beharrte Xiao Fang.
Der Airline-Angestellte gab Jia Jia ihre Bordkarte mitsamt den übrigen Dokumenten zurück. Mit einem roten Stift umkringelte er die Uhrzeit und das Gate zum Boarding und stand dann auf, um ihr den Weg zu den Gates zu weisen. Er lächelte, setzte sich wieder und winkte den nächsten Fluggast heran.
»Jia Jia, lass uns doch etwas für dich tun«, redete Xiao Fang weiter. »Wir konnten dir nie richtig unser Beileid aussprechen, als dein Mann gestorben ist.«
»Ich brauche das Geld nicht«, entgegnete Jia Jia.
Die Schlange vor dem nächsten Sicherheitscheck wand sich durch die ganze Halle.
»Aber ich behalte es für den Moment und gebe es euch dann zurück, wenn ich wieder da bin«, gab sie schließlich nach, damit Xiao Fang endlich auflegen würde. Es funktionierte. Xiao Fang wirkte zufrieden.
Jia Jia war unter den letzten Passagieren, die ins Flugzeug stiegen. Diese Gewohnheit hatte sie von Chen Hang übernommen, der es nicht leiden konnte, auf andere zu warten, und deshalb lieber gleich der Letzte war, dessen Ticket gescannt wurde. Ein paar Minuten, nachdem sie sich auf ihren Sitz gezwängt hatte, gab eine Frauenstimme die Flugnummer durch sowie weitere Einzelheiten zum Flug. Anschließend wiederholte sie den ganzen Sermon noch einmal auf Englisch und überließ die Passagiere dann wieder ihren eigenen gedämpften Gesprächen.
Graue Wolken schwebten über den dämmrigen Himmel. Die zehn, fünfzehn Minuten, bis das Flugzeug startklar war, hatte Jia Jia immer schon als emotionalsten Teil einer Reise empfunden. Jedes Mal, wenn sie in ein Flugzeug stieg, betrachtete sie die Flughafengebäude und die Startbahnen von der abgeriegelten Kabine aus mit großer Melancholie.
Das Flugzeug entfernte sich vom Gate, steuerte auf die Startbahn zu und hob schließlich ab, sauste empor und weg von Peking, erhob sich über die Wolken und verhüllte die Stadt vor Jia Jia. Danach spürte man nichts mehr davon, dass es sich überhaupt voran bewegte. Erstaunlich, dachte Jia Jia, wie sehr das menschliche Empfinden davon abhängt, was das Auge sieht. Wenn wir nichts anderes mehr erkennen als endlosen, kondensierten Wasserdampf oder den Horizont oder die Dunkelheit, dann fühlen wir uns von der Welt unter uns so unsagbar abgetrennt, als wären alle Bande an unser Heimatland durchschnitten. Und die anderen Passagiere auf ihren zugewiesenen Plätzen sind bloß Fremde in derselben Kabine, die zum gleichen Ziel reisen, nur um sich dort wieder zu trennen.
Das Hotel lag versteckt in einer kleinen Straße im Zentrum von Lhasa, nicht weit von der Barkhor-Straße. Es war ein Hotel für Geschäftsreisende, und offenbar hatte sich kein Mensch große Gedanken über seine Gesamtwirkung gemacht: ein riesiger Schuhkarton aus Beton mit einem dunkelroten Deckel als Dach. Mit einem dumpfen, beklemmenden Schmerz in den Schläfen, der von der Höhenlage kam, zog Jia Jia auf ihrem Zimmer ein langes, weißes Leinenkleid über. Draußen auf der Straße boten die unterschiedlichsten kleinen Läden örtliches Obst und Gemüse an, Elektroartikel, Zigaretten. Jia Jia hatte kein konkretes Ziel, darum ging sie ein paar Straßen lang hinter zwei schwarzen Hunden her und kam an einen Fluss, den sie schon vom Wagen aus gesehen hatte. Einer der Hunde humpelte auf einem Hinterbein und trank aus einer Pfütze; der andere, kleinere war bereits vorausgetrottet. Früher am Tag hatte es geregnet, die Sträucher zu beiden Seiten der Straße waren feucht. Der Fluss floss zwischen kahlen Ufern hindurch, nichts als Sand und Steine. Jia Jia riss zwei Seiten aus ihrem Skizzenbuch, legte sie auf einen Felsen und setzte sich im Schneidersitz darauf.
Sie machte sich daran, die Fische im Wasser zu zeichnen, obwohl sie von ihrem Platz aus gar keine sehen konnte. In ihrer Vorstellung waren sie matt und grau, wie praktisch alle Flussfische, die sie kannte. Sie waren unterschiedlich groß, schossen aber alle mit starken Schwanzflossen voran, selbst die Setzlinge.
Gerade skizzierte sie die Flossen eines Fisches, da ertönte hinter ihr ein lauter Rumms, und sie hörte einen Mann fluchen. Sie drehte sich um und sah eine dürre, unscheinbare Gestalt auf der Seite am Boden liegen, ein grünes Spiralnotizbuch an die Brust gedrückt. Vor dem Mann lag eine Krücke. Er trug ein weites, karamellfarbenes Hemd mit Brusttasche und kurzen Ärmeln und eine verwaschene blaue Hose. Jia Jia zögerte kurz, dann half sie dem Mann hoch und reichte ihm seine Krücke.
»Danke«, sagte er und klopfte sich den Staub von den Kleidern. »Viel zu rutschig hier für einen Krüppel.«
»Sie haben einen Pekinger Akzent«, bemerkte Jia Jia.
Er stutzte und hob wie zur Bestätigung leicht die Krücke. »Sind Sie auch aus Peking? Was machen Sie hier?«
»Ich zeichne.«
»Es ist immer wieder schön, jemanden aus Peking zu treffen.« Er gab ihr die Hand. »Wie heißen Sie?«
»Wu Jia Jia.«
»Und Sie sind Künstlerin? Ich bin Autor. Ren Qi ist mein Name. Zeigen Sie mir Ihre Zeichnungen!« Er brachte den Kopf näher an Jia Jia heran und lugte in ihr Skizzenbuch. Sie wich instinktiv einen kleinen Schritt zurück, und er warf ihr einen betretenen Blick zu, weil er sich für diese nicht beabsichtigte Unhöflichkeit schämte.
Jia Jia zeigte ihm ihre Zeichnungen, und er studierte sie alle eingehend, ohne etwas dazu zu sagen. Ihr fiel auf, dass er sehr viel jünger war, als sie ursprünglich angenommen hatte; er musste erst Mitte, Ende zwanzig sein.
»Zeichnen Sie weiter! Ich setze mich hierher und lasse mich inspirieren«, sagte er schließlich und ließ sich vorsichtig zu Boden sinken. »Verflixt! Hier ist ja alles ganz nass!«
Fast den ganzen Nachmittag über zeichnete Jia Jia Fische, und Ren Qi blickte konzentriert ans andere Ufer, während die Sonne über ihnen ihre Bahn zog. Ren Qi hielt die Augen halb geschlossen, als ob er meditierte, und malte mit dem Zeigefinger ununterbrochen Schriftzeichen auf sein Bein. Hin und wieder erzählte er Jia Jia etwas über Tibet. Das Land werde als dritter Pol der Welt bezeichnet. Der höchstgelegene Süßwassersee der Welt befinde sich hier, aber sein Name? Der falle ihm gerade nicht ein. Fast die Hälfte der Weltbevölkerung hänge von den Süßwasserreserven des tibetischen Hochlands ab. Wenn man einmal den Namen einer hiesigen Blume nicht kenne, solle man einfach »GeSang-Blume« sagen. Jeder Mensch, der in Tibet lebe, könne singen und tanzen.
»Meine Frau ist Tibeterin«, sagte er. »Und ich kann bestätigen, dass sie ausgesprochen gut tanzt und singt.«
Jia Jia lachte. »Sind Sie Reiseführer?«
»Ich recherchiere einfach nur viel für meine Texte, Wu Jia Jia. Meine Frau war allerdings tatsächlich Reiseführerin. So haben wir uns kennengelernt. Aber dann hat sie ihren Beruf aufgegeben und ist mit mir nach Peking gekommen.« Er sah sie von der Seite an. »Was machen die Fische?«
Diesmal blieb er sorgsam auf Abstand, wie ein junger Mann beim ersten Date.
»Mögen Sie Kunst?« Sie reichte ihm ihr Skizzenbuch.
»In der Theorie schon. Ich mag vieles, aber immer in der Theorie. Heutige Künstler werden zu Robotern herangezüchtet. Und nicht nur Künstler, wenn man ehrlich ist, auch Autoren und Musiker. Sogar Sportler! Sie malen, schreiben oder spielen ständig das Gleiche, immer und immer wieder. Die gleichen Vögel und Berge, die gleichen Schriftzeichen und Geschichten. Aber im Kern, Wu Jia Jia, bleiben wir trotzdem Menschen, darum werden gelegentliche Abweichungen vom rein Mechanischen entweder zum größten Geniestreich oder zur absoluten Katastrophe. Und wir alle leben für diese Momente, in denen sich das Genie Bahn bricht.«
Er blätterte in ihrem Buch, zog eine Zigarette hinter dem Ohr hervor und roch daran.
»Tja, wie’s aussieht, male ich ganz mechanisch Fische«, sagte Jia Jia.
»Wissen Sie was? Ich glaube, hier ist etwas. Etwas Bedeutsames.« Er hielt eine Seite zwischen den Fingern und blätterte hin und her. Dann riss er die Seite heraus.
Jia Jia nahm ihm das Skizzenbuch weg.
»Das hier ist das Beste. Stecken Sie sich das in die Brieftasche«, sagte er. »Alles andere können Sie wegwerfen. Aber in dem hier steckt Gefühl. Als ob …« Er hielt das Blatt in die Sonne und dachte kurz nach. »Als wäre in diesem kleinen Fischbauch aller Stolz und alle Einsamkeit der Welt verborgen. Das erinnert mich an meine Frau.«
»Stolz und einsam. Ist Ihre Frau so?«
Er reichte Jia Jia das Blatt.
»So sind wir alle, die meiste Zeit. Zumindest einsam«, sagte er.
Jia Jia betrachtete die Skizze. All die Jahre des Malens und Zeichnens: als hätte sie Squash gespielt, in einem abgeschlossenen Raum Bälle gegen die Wand geschlagen. Nie hatte ihr jemand gesagt, dass in ihrer Kunst Gefühl steckte – von ihren Dozenten hatte sie sogar meistens das Gegenteil gehört –, und sie war sich nicht ganz sicher, was Ren Qi damit meinen konnte.
»Meine Frau ist vor einem Monat verschwunden«, sagte Ren Qi. »Eines Morgens ist sie zum Friseur gegangen und nicht wiedergekommen. Auch die Polizei konnte sie nicht finden. Ich habe es nicht mehr ausgehalten, jeden Tag zu Hause zu sitzen und zu warten, darum bin ich hierher gereist, um nach ihr zu suchen. Ich dachte mir, vielleicht ist sie ja an ihren Geburtsort zurückgekehrt.«
»Ist sie hier geboren, in Lhasa?«
»Nein, nein. Sie stammt aus diesem Dorf.« Er zog eine zusammengefaltete Landkarte aus seinem Notizbuch und deutete auf einen Punkt im südöstlichen Teil des Landes, an der Strecke von Tibet nach Sichuan. »In ein paar Tagen fahre ich hin, wenn ich ihre Freunde hier in Lhasa getroffen habe.«
Das Dorf war nur ein kleiner Punkt auf der Karte, inmitten einer Ansammlung identischer Punkte, die für die zahllosen Dörfer entlang der Straße standen. Für einen Moment beneidete Jia Jia Ren Qi um sein klares Ziel. Er ließ die Karte noch kurz aufgeschlagen, dann schob er sie in sein Notizbuch zurück. Wo Jia Jia hinwollte, fragte er nicht.
Bevor es Abend wurde, verabschiedeten sie sich.
»Schön, Sie kennengelernt zu haben, Künstlerin Wu Jia Jia.« Ren Qi hielt ihr die Hand hin, und Jia Jia drückte sie fest. Seine Handfläche war rau wie Ingwer.
Sie blickte ihm nach, während er auf eine steinerne Brücke zu humpelte, im Begriff, den Fluss zu überqueren. Dann rief sie ihm hinterher.
»Können Sie mir helfen?«, rief sie. »Ich bin auf der Suche nach einem Fischmann!«
Er hüpfte auf dem gesunden Bein und drehte sich um.
»Klar! Wo finden wir den?«, brüllte er über das Rauschen des Wassers hinweg.
»Das weiß ich nicht!«
Er hielt sich das Notizbuch hinters Ohr, um ihr zu zeigen, dass er sie nicht verstanden hatte.
»Ich sagte, ich weiß es nicht! Mein Mann hat es gewusst, aber er ist tot!«
»O Mist!«
Jia Jia raffte den Saum ihres weißen Leinenkleids hoch und rannte zu der Brücke. Er wartete in der Mitte auf sie, und sie kam auf ihn zu.
»Geben Sie mir Ihr Telefon«, sagte sie, außer Puste. Er zog es aus der Hosentasche, sie tippte ihre Nummer ein und speicherte sie. »So. Rufen Sie mich an, wenn Sie Ihre Frau gefunden haben, und dann kommen Sie und helfen mir. Ich bin auf der Suche nach dem Fischmann.«
In der Nacht regnete es erneut, und die Luft roch nach Lehm. Jia Jia schluckte ein paar Tabletten gegen ihre Kopfschmerzen und wartete auf die Wirkung. Jedes Mal, wenn sie kurz vorm Einschlafen war, weckte ihr Herzschlag sie wieder auf, als säße ein kleiner Mensch in ihr gefangen, der an die Wände hämmerte. Schließlich stand sie auf, weil sie in dem Zimmer keine Luft mehr bekam, und ging in ihrem smaragdgrünen Seidenmorgenmantel nach draußen. In einer Ecke des Hotelhofs entdeckte sie ein paar schmale, gerade Bäume, die dicht beieinander standen. Sie setzte sich auf den Stein darunter. Der Regen sickerte durch das schwarze Blätterdach und traf sie in schweren, kalten Tropfen; sie glaubte, dass so ein bisschen Regen ihr helfen könnte, einen klareren Kopf zu bekommen. Der Hund vom Morgen trottete mit seinem verletzten Bein an ihr vorbei und sah sich nach ihr um. Zitternd vor Kälte lächelte sie das Tier an. Es kam heran, als hätte es Mitleid mit ihr. Es war ein mageres Geschöpf und erinnerte sie an Ren Qi. Sie merkte, dass auch der Hund bibberte.
»Gehen wir«, sagte sie.
Sie stand auf, und der Hund folgte ihr bis zum Fuß der Treppe, wo er sich ein paar Mal um sich selbst drehte und sich dann hinlegte.
Zurück auf ihrem Zimmer zog Jia Jia sich aus und stieg ins Bett. Bis zum Morgen trommelte der Regen an die Fenster. Und sie lag im Halbschlaf da, während ihr Herz stark und schnell im Takt des Wassers hämmerte.