12

Der tibetische Reiseführer redete ununterbrochen. Er nannte sich T.S., Jia Jia hatte gleich wieder vergessen, wofür die Abkürzung stand.

T.S. sagte ihr, er erinnere sich gut an ihren Mann, Gäste aus Peking vergesse er grundsätzlich nie. Er habe selbst ein Jahr in Peking gelebt und dort »authentisches Mandarin« gelernt, wie er das nannte, sogar eine Freundin habe er dort gehabt. Aber natürlich, sagte er, habe er nicht in Peking bleiben wollen, er sei stolz auf seine Heimat und habe immer zurückkehren wollen, um seine Kultur zu fördern. Es sei sein Ehrgeiz gewesen, Reiseführer zu werden, und das habe er auch geschafft. Chen Hang sei sein zwanzigster Gast aus Peking gewesen, und Jia Jia sei die Nummer zweiunddreißig.

Chen Hangs Reise sei weitgehend nach Plan verlaufen, erinnerte sich T.S., bis er ihn eines Morgens gebeten habe, die letzte Station auszulassen.

»Eigentlich wollten wir zum Lamaling-Kloster fahren«, erzählte T.S. und kratzte sich am Kopf. »Aber Ihr Mann war an dem Morgen ein bisschen merkwürdig. Er wirkte sehr aufgebracht, als ich ihn am Hotel abgeholt habe, und brüllte mich an, ja, regelrecht angebrüllt hat er mich: ›Vergessen Sie die ganzen Tempel, ich habe genug Tempel gesehen, fahren wir woanders hin!‹«

Die beiden Männer hatten sich mit einer Karte von Tibet in die Lobby des Hotels gesetzt, und T.S. hatte sämtliche Sehenswürdigkeiten in Tagesausflugsdistanz vorgeschlagen, von denen er glaubte, dass sie Chen Hang auch nur ansatzweise interessieren könnten. Chen Hang hatte sich alles schweigend angehört und aufmerksam genickt, bis er schließlich entschied: »Fahren wir in Ihr Dorf.« T.S. setzte ihm auseinander, sein Heimatdorf sei viel zu rückschrittlich, ohne ordentliche Touristenunterkünfte oder Restaurants: Wo wolle Chen Hang dort schlafen und essen? Er schlug vor, Chen Hang in der nächstgrößeren Stadt unterzubringen, dann könnten sie einen Tagesausflug ins Dorf machen, wenn er es unbedingt sehen wolle.

»Ich schlafe bei Ihnen«, hatte Chen Hang erwidert. »Ich komme selbst aus einfachen Verhältnissen. Ich kann überall schlafen.«

»Er hat in dem Zimmer übernachtet, das ich früher mit meinen Brüdern geteilt habe. Sie sind beide ausgezogen, als sie geheiratet haben.« T.S. reckte den Daumen hoch und sagte: »Ihr Mann hat nicht zu viel versprochen, das ärmliche Leben auf dem Land schien ihm wirklich nichts auszumachen. Er hat sogar auf den Qingke-Feldern geholfen!«

Jia Jia kam der Verdacht, dass ihre ganze ausgeklügelte Reiseroute sinnlos war. Sie überlegte, direkt ins Heimatdorf ihres Reiseführers aufzubrechen, entschloss sich dann aber, die vielen Tempel trotzdem zu besuchen und dabei auf jedes Detail zu achten, für sich selbst eine Bedeutung daraus zu ziehen. Wann immer sie in den nächsten Tagen Bildern oder Gegenständen begegnete, bei denen Fische eine Rolle spielten, blieb sie davor stehen und betete. Aber der Fischmann gab ihr keine Hinweise.

Erst auf der Fahrt nach Nyingchi, als sie auf dem Rücksitz des Wagens döste, erschien ihr der Fischmann im Traum. Sie schien in diesem Traum keine Erinnerung mehr an die Geschehnisse zu haben, die sie hierhergeführt hatten: Chen Hangs Traum, sein Tod, die Zeichnung, Leo, ihr Auszug, das Wandgemälde, die Reise, Ren Qi. Sie war mit dem Fischmann allein in einem grenzenlosen weißen Raum, und der Fischmann schwamm durch die Luft, weg von ihr. Jia Jias Beine waren schwach und zittrig, sie saß auf dem Boden und warf keinen Schatten in irgendeine Richtung. Verwirrt rief sie dem Fischmann hinterher, nicht weil sie ihn als das Einzige erkannt hätte, wonach sie suchte, sondern weil außer ihm kein Lebewesen in Sicht war.

Er musste sie gehört haben. Sie hatte laut genug gerufen.

»Wartet nicht mit dem Essen auf mich«, sagte er mit eingerosteter Stimme. »Wartet nicht auf mich. Fangt ruhig schon an. Wo zum Teufel bin ich überhaupt?«

Beim Sprechen wedelte er weiter mit den Flossen und schwamm davon, ohne Jia Jias Hilferuf zur Kenntnis zu nehmen. Jia Jia kroch auf den Ellbogen zu ihm hin, zog die Beine nach wie ein verwundeter Soldat. Sie beschimpfte den Fischmann.

»Du Miststück! Hilf mir doch, du kaltschnäuziger Scheißkerl! Na gut! Dann lass mich eben liegen!«, brüllte sie.

Als sie aufwachte, stellte sie fest, dass sie das Hotel erreicht hatten, in dem sie die nächsten beiden Nächte verbringen sollte, und dass sie nicht mehr wusste, wie der Traum zu Ende gegangen war. An diesem Nachmittag schloss sie sich in ihr Zimmer ein; sie wollte eine grobe Bleistiftskizze machen, solange ihr das Bild noch frisch im Gedächtnis war, damit sie, zurück in Peking, noch einmal versuchen konnte, den Fischmann zu malen. Sie achtete darauf, den Körper so detailgenau wie möglich zu zeichnen, und je weiter der Fischmann Gestalt annahm, desto mehr dehnte sich ein Ballon der Hoffnung in ihr aus. Mit jeder Linie, die ihr Bleistift zog, klopfte ihr Herz schneller, ihre Muskeln spannten sich. Als sie schließlich, mit zitternden Händen, weil sie den Bleistift so fest umklammerte, den Körper fertig hatte, hielt sie ihn neben die Zeichnung, die sie zu Hause im Bad gefunden hatte.

Nichts ähnelte sich.

Als die beiden Zeichnungen vor ihr lagen, verwandelte sich das hoffnungsvolle Gefühl in ihr in Wut, als hätte es eine chemische Reaktion durchlaufen. Sie fühlte sich, als stünde sie urplötzlich am Ende eines langen, beschwerlichen Weges. Was machte sie da eigentlich, malte Bilder wie ein Kind, setzte all ihre Hoffnung auf Erkenntnisse über sinnlose Zeichnungen? Konnte sie überhaupt irgendetwas anderes?

Jia Jia rief bei der Rezeption an und verlangte eine Schere. Während sie wartete, zog sie ihren Nagelknipser aus der Reisetasche und machte sich daran, ihre Fischzeichnungen zu zerschneiden und zu zerreißen. Mit dem Skizzenbuch fing sie an, riss alle Fische heraus, die sie an dem Tag am Fluss gezeichnet hatte, die Bilder, die »mechanisch« gezeichnet waren, wie Ren Qi es formuliert hatte. Am liebsten hätte sie alle auf einmal durchgeschnitten, aber der Stapel war zu dick, darum zerfetzte sie eins nach dem anderen und spülte alles in der Toilette hinunter. Danach zog sie das Blatt hervor, das gefaltet im Reißverschlussfach ihrer Brieftasche steckte.

»In dem steckt Gefühl«, hatte Ren Qi gesagt.

Eine junge Frau im langen, schwarzen Rock brachte ihr die Schere. Noch bei geöffneter Tür schnitt Jia Jia das Bild entzwei, mitten durch, direkt vor der Frau. Da ging es hin, das Bild, in dem Gefühl steckte. Als der Teil mit dem Fischkopf zu Boden fiel, breitete sich auf dem Gesicht der jungen Frau ein Ausdruck von Panik und Unbehagen aus. Sie stand wie erstarrt, mit leicht geöffnetem Mund.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte Jia Jia. Sie wollte gefasst klingen, aber ihre Stimme kippte, als steckte ihr etwas in der Kehle, das sie nicht hinunterschlucken konnte. Sie zog die Ärmel über die Hände herunter, grub die Nägel der linken Hand in die Handfläche der rechten, räusperte sich und setzte noch einmal an.

Die junge Frau war schneller. »Tut mir leid, tut mir sehr, sehr leid, tut mir leid«, fiel sie Jia Jia ins Wort und ergriff die Flucht, ihr Rock verfing sich zwischen ihren Beinen, als sie rasch um die Ecke verschwand.

Jia Jia trat auf den Flur hinaus und blieb dort einen Moment stehen, wartete darauf, dass noch etwas geschah. Niemand kam. Als sie wieder am Tisch saß, betrachtete sie die beiden Fischmann-Bilder, das, das sie gerade fertiggestellt hatte, und die ursprüngliche Zeichnung von Chen Hang. Es waren die beiden einzigen, die sie nicht zerstört hatte. Schließlich legte sie beide aufeinander und schnitt sie in der Mitte durch.

Jemand klopfte an die offene Zimmertür. Sie hörte die Stimme von T.S.

»Frau Wu, sind Sie fertig fürs Abendessen?«

Jia Jia stand auf. Vielleicht würde das Abendessen ihr ja guttun. Sie ging ins Bad, um sich die Haare zusammenzubinden. Als sie wieder herauskam, stand T.S. am Tisch und deutete auf ihre Zeichnung.

»Den habe ich schon mal gesehen«, sagte er.

Er nahm die beiden Hälften der Zeichnung und setzte sie wieder zusammen.

»Wobei«, fuhr er fort, »genau gleich ist er nicht. Aber wir haben so eine Figur bei uns im Dorf, der Körper eines Fischs mit einem Menschenkopf. Sie steht schon ewig dort, seit meiner Kindheit, aus einem großen Baumstumpf geschnitzt, direkt am Fluss im Wald. Den Geschichten zufolge hat ein alter Mann, den wir Großvater nennen, einmal den Umriss eines Fischs dort im Stamm gesehen und beschlossen, eine Skulptur daraus zu machen. Woher wissen Sie davon?«

»Hat Chen Hang diese Figur gesehen?«, fragte Jia Jia.

Die Furcht, die sie eben noch empfunden hatte, schwand, als hätte es sie nie gegeben. Die Sackgasse war ein Fehlschluss; sie hatte einen anderen Weg entdeckt. Diese Skulptur, was immer sie auch sein mochte, musste etwas mit Chen Hangs Traum zu tun haben. Er musste sie gesehen haben.

»Fahren wir. Brechen wir gleich auf. Wir treffen uns in zehn Minuten am Wagen«, sagte sie. »Dann fahren wir in Ihr Dorf.«

»Ich glaube, heute ist es schon zu spät. Es wird bereits dunkel, wir bleiben doch lieber bei …«

»Was wissen Sie über den Fischmann?«

»Was für ein Fischmann?«

»Der, von dem Sie gerade erzählt haben! Der Fischmann aus dem Baumstumpf in Ihrem Dorf!«

»Fischmann? Ach so, Fischmann!« Er warf lachend den Kopf in den Nacken. »Das ist ja ein toller Name! Das muss ich Großvater erzählen. Wir sagen immer nur ›die Figur‹ dazu. ›Fischmann‹ klingt gleich viel mythischer. Ich werde mir für die Kinder im Dorf Geschichten über den Fischmann ausdenken. Sie werden begeistert sein.«

Jia Jia ging zu ihm hin, fasste ihn mit beiden Händen an den Schultern und schüttelte ihn nachdrücklich. Er musste wohl begriffen haben, wie entschlossen und verzweifelt sie war, denn er schwieg, sackte ein wenig in sich zusammen und zog die Brust ein, als wollte er sich kleiner machen. Dann eilte er ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer, um den Wagen zu holen.

 

Der Mond schien hinter einem dünnen Wolkenschleier, die Nacht war feucht, es wehte ein kühler Wind. Sie waren weit oben in den verschneiten Bergen. Während T.S. den Jeep um die Kurven der unebenen Straße steuerte, sah Jia Jia ein Grüppchen Dorfbewohner an einem Feuer, sie tanzten und tranken, und die Flammen beschienen die Gebetsfahnen, die an Pfählen im Boden oder an den Giebeln der Häuser hingen.

Ein alter Mann mit geflochtenem grauem Haar und einem braunen Gewand näherte sich langsam dem Wagen. T.S. parkte und rief ihm etwas auf Tibetisch zu. Der alte Mann antwortete mit Gesten, und T.S. schrie zu einem zweistöckigen, aus weißem Stein errichteten Bauernhaus ganz in der Nähe hinüber.

»Das ist der alte Mann, den wir Großvater nennen – er spricht nicht«, erläuterte er dann. »Für mich ist er wie ein richtiger Großvater. Ich glaube, er kam hierher ins Dorf, als meine Mutter noch ein Kind war.«

Einen Moment lang konnte Jia Jia das Gesicht des alten Mannes klar im Feuerschein erkennen. Etwas in seinem Blick schien ihr vertraut, durchdrang sie, als wäre sie aus Glas. Er kam ihr wie ein langjähriger Nachbar vor, mit dem sie nie ein Wort gewechselt hatte, ein Mensch, der alles über sie wusste, das aber für sich behielt. Als sie seinem Blick begegnete, sah sie weg.

Eine stämmige Frau mittleren Alters kam mit erstaunter Miene nach draußen und führte den alten Mann zurück ins Haus. Im Gehen drehte sie sich immer wieder nach Jia Jia um.

»Das ist meine Mutter«, sagte T.S. und zog Jia Jias Koffer zum Bauernhaus. »Eigentlich weiß niemand so recht, wo Großvater hergekommen ist. Meine Mutter hat mir erzählt, er sei eines Tages einfach aufgetaucht, sie weiß aber nicht mehr genau, wann. Jedenfalls war sie noch ein Kind. Unser Dorf war damals noch viel abgeschiedener. Inzwischen, seit die Autobahnen gebaut wurden, haben wir hier sehr viel mehr Autoverkehr. Meine Mutter glaubt, Großvater sei etwa zu der Zeit gekommen, als die Bauarbeiten für die erste Verbindungsstraße zu den größeren Dörfern losgingen. Vielleicht stammt er ja aus einem Dorf in der Nähe.«

Die Familie konnte ein Zimmer für Jia Jia erübrigen. Die Mutter des Reiseführers setzte ihr gebratenen Kohl mit Rührei vor und entschuldigte sich, weil sie nach dem Abendessen sonst nicht mehr viel im Haus hatte. Innen war das Haus blaugrün gestrichen, und auf die Wand neben dem Schrein mit den Buddha-Statuen waren gelbe tibetische Trompeten gemalt. Das Mobiliar – Sofa, Tische, Schrein – bestand fast vollständig aus rosinenfarbenem Holz. Im ganzen Haus roch es nach einer Mischung aus Ziegenbutter und Weihrauch – ein beißender Geruch, der im Lauf der Jahre tief in Holz und Mauerwerk gedrungen war.

Eigentlich hätte Jia Jia sich gewünscht, dass T.S. sie sofort zum Flussbett führte und ihr den Baumstumpf zeigte, aber es war schon spät, und sie wollte das offenbar langersehnte Wiedersehen mit seiner Familie nur ungern stören. Gespannt auf den nächsten Tag schob sie das Fenster ein wenig auf, um die kühle, feuchte Luft hereinzulassen. Das Feuer war fast heruntergebrannt, es saßen nur noch vier Männer dort und tranken Qingke-Wein. Jeder von ihnen hielt einen Cowboyhut auf dem Schoß. Jia Jia nahm auf einem bestickten Kissen Platz und versuchte zu verstehen, worüber sich die Familie im Nebenzimmer unterhielt. Offenbar wohnte Großvater bei ihnen; Jia Jia fand das befremdlich, weil ihre Familie nie einen älteren Gast bei sich aufgenommen hätte, der kein Verwandter war. Sie klaubte eine Zigarette aus ihrer Handtasche, hielt sie einen Moment lang ruhig zwischen den Lippen und zündete sie dann mit einem Streichholz an.

Ren Qi hatte nicht angerufen. Jia Jia vertraute darauf, dass er sein Versprechen halten würde, denn er war ihr wie ein ehrlicher Mensch vorgekommen. Vielleicht hatte er seine Frau ja noch nicht gefunden? Aber hätte er ihr nicht wenigstens das erzählen können?

Während sie an das Gespräch mit ihm zurückdachte, rieb sie durch den Rock das drachenförmige Muttermal an ihrem Schenkel. Sie ertappte sich immer noch dabei, wie sie daran herumfummelte, als könnte sie es dadurch verschwinden lassen. Die Kopfschmerzen kehrten zurück, heftiger noch als zuvor, und sie zog vorsichtig die Knie an die Brust und schlang die Arme darum. Sie sah zu, wie die Männer das Lagerfeuer verließen und das Feuer erlosch, bis der pochende Schmerz schließlich nachließ und dumpfer wurde. Während sie auf das Gelächter und Geplauder lauschte, das aus dem Wohnraum herüberwaberte, zog sie sich die Decke über die Beine, die die Mutter ihres Reiseführers selbst gewebt hatte, und blieb an die Wand gelehnt sitzen, bis der Halbmond dem Tageslicht wich.