13

Der Fischmann war gar nicht groß. Jia Jia hätte ihn ohne weiteres übersehen können, wenn sie sich allein auf die Suche nach ihm gemacht hätte. Er war Teil eines etwa kniehohen Holzklotzes, der auf einem großen Felsen nahe am Fluss stand. Der Fischmann war vorn aus dem Holz herausgeschnitzt worden, sichtlich ohne viel Sorgfalt; eigentlich konnte man gar nicht von einer Skulptur sprechen. Er war kaum Fisch oder Mann, und hätte T.S. ihn ihr nicht gezeigt, sie hätte ihn vermutlich nicht erkannt. Irgendwer hatte ihm ein Stück rote Schnur zu einer Schleife um den Hals gebunden.

»Er steht schon lange hier, seit ich denken kann«, erzählte T.S. »Großvater kommt regelmäßig her, um sich davon zu überzeugen, dass er noch da ist. Was, glauben Sie, ist so besonders daran? Großvater hat es mir nie verraten.«

»War mein Mann auch hier?«

»Nicht, dass ich wüsste, aber möglich wäre es.«

Jia Jia hockte sich vor den Holzklotz und ließ die Finger über die Augen des Fischmanns wandern, ovale Höhlen, in die Steinchen geschoben worden waren. Der Stamm hatte keine Äste und wies auch keine Spuren davon auf, dass sie ihm abgeschnitten worden wären. Durch die tiefe Maserung des Holzes sah das Wesen aus, als hätte es an Gesicht und Körper lauter Falten, die es viel älter wirken ließen, als Jia Jia es sich ausgemalt hatte. Sie versuchte, den Holzklotz anzuheben, aber er verharrte stur auf seinem Felsen. Auf der unbearbeiteten Seite war eine große ›1‹ aus dem Holz geschnitzt.

Jia Jia richtete sich auf. Sie musste den Kopf wieder frei bekommen. Auf dem Weg zurück ins Dorf schlug T.S. ihr vor, sie könne auf den Qingke-Feldern helfen, um, wie er das formulierte, »zumindest einmal im Leben das Bauerndasein kennenzulernen«. Das tat sie dann für den Rest des Tages, nicht zuletzt, um wieder zu sich zu kommen, die Erde an den Händen zu spüren und den Boden unter ihren Füßen.

Überall im Dorf stromerten Yaks herum, fraßen Gras und alles, was in den Abfalltüten am Straßenrand lag. Jia Jia band sich ein Tuch um den Kopf, um sich vor der Sonne zu schützen, und T.S. brachte ihr bei, wie man Unkraut jätete. Sie hatte noch nie auch nur im Garten gearbeitet.

»Achten Sie darauf, dass Sie immer die Wurzel mit ausreißen«, schärfte er ihr wiederholt ein. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass sie die Qingke-Schösslinge erkennen konnte, überließ er ihr ein Stück Feld, das sie allein jäten sollte.

Sie arbeitete langsam, bemüht, es genauso zu machen, wie T.S. es ihr gezeigt hatte, und die Sonne verbrannte ihr die bloßen Arme. Hin und wieder, wenn sie sich aufrichtete, um den Rücken zu strecken, fiel ihr Blick auf die Kurve in der Straße. Als sie tags zuvor mit T.S. angekommen war, hatte Großvater sie sicher vom Haus aus kommen sehen. Ob sie ihn nach der Schnitzarbeit fragen sollte? Ob es unhöflich war, ihm zu viele Fragen zu stellen, wo sie doch wusste, dass er nicht gern redete?

Als es dunkel wurde, aß Jia Jia mit der Familie. Als Ältester nahm Großvater zuerst am Tisch Platz, danach die Mutter und schließlich T.S. und Jia Jia. Die Mutter hatte Kartoffeln gebraten und Gemüse im Wok geschwenkt. Sie zeigte Jia Jia, wie man Tsampa aß. Das Gerstenmehl war bereits mit Buttertee gemischt, und Jia Jia bekam die Anweisung, den Teig zwischen den Händen zu kleinen Kugeln zu formen.

»Sie müssen mit Buttertee nachspülen«, sagte die Mutter mit ihrem schweren Akzent. »Ohne Flüssigkeit ist es schwer zu schlucken.«

Jia Jia aß nicht viel; die Aromen waren ihr zu streng. Beim Essen behielt sie Großvater im Auge. Er lächelte nicht, kaute nur und schlürfte geräuschvoll den Tee, den die Mutter ihm immer wieder nachschenkte.

»Sie sind tibetisches Essen nicht gewöhnt«, sagte die Mutter lächelnd zu Jia Jia.

»Ich bin zum ersten Mal hier«, erklärte Jia Jia.

»Mein Sohn hat mir erzählt, dass Chen Hang Ihr Mann ist. Ich erinnere mich an ihn. Er hat gern tibetisch gegessen.«

»Ja, das kann ich mir vorstellen.« Jia Jia schwieg kurz, griff nach ihrer Teeschale und hielt sie kurz in den Händen, in der Hoffnung, dass die Frau sich nicht noch weiter nach ihrem Mann erkundigen würde. »Ich würde Großvater gern etwas fragen«, sagte sie. »Ich weiß, dass er nicht viel redet. Aber ich möchte trotzdem fragen.«

Die Mutter blickte erst T.S. an, dann Großvater. Der alte Mann nickte und griff erneut in die Teigschüssel.

»Der Fischmann in dem Holzklotz. Ich möchte mehr über ihn erfahren«, sagte Jia Jia, den Blick auf Großvater gerichtet. Eine Zeit lang betrachtete Großvater die Teigkugel in seiner Hand, und Jia Jia konnte nicht einschätzen, ob er antworten würde.

»Über den Klotz spricht er nicht«, brach die Mutter schließlich das Schweigen.

»Eigentlich spricht er über gar nichts«, ergänzte T.S. »An Ihrer Stelle würde ich es aufgeben.«

Jia Jia ließ den Blick zwischen Mutter und Großvater hin und her wandern; sie spürte, dass die beiden etwas wussten, aber keiner von ihnen es aussprechen wollte. Großvater trank seinen Tee und schaute nicht zu Jia Jia, obwohl sie ihn unverwandt ansah. T.S. warf ihr einen »Hab ich’s nicht gesagt?«-Blick zu, und Jia Jia wusste, dass sie nicht weiterfragen konnte, zumindest nicht an diesem Abend.

Nach dem Essen sank das Dorf allmählich in Schlaf. Ein Fenster nach dem anderen wurde dunkel, bis Jia Jia nur noch den Mond und die Sternbilder am Himmel sah. Sie konnte nicht schlafen, ihre Gedanken kamen nicht zur Ruhe, und die Haut an ihren Armen brannte von der Sonne. Sie zog eine Jacke über, nahm das Smartphone, um es als Taschenlampe einzusetzen, und schlich sich aus dem Haus. Der Weg zum Fluss war nicht schwer zu finden – erst bergauf, dann an den Feldern vorbei und schließlich gute fünf Minuten weiter auf den Berg zu, der aussah wie ein Schwein. Sie hörte Tierlaute, konnte sie aber nicht identifizieren und überlegte schon, umzukehren.

Nach allem, was bisher geschehen war, hätte es Jia Jia nicht gewundert, wenn der Holzklotz fortgewandert wäre. Sie schlang die Arme darum und versuchte erneut, ihn hochzuheben, aber er war zu schwer. Stattdessen lehnte sie leicht die Stirn daran, spürte das feuchte, kühle Holz an der Haut. Jetzt, wo sie mit ihm allein war, schien es ihr, als würde sie den Fischmann schon seit Ewigkeiten kennen. Die Stirn am Holz lauschte sie auf das Rauschen des Flusses, wartete auf etwas. Ein Zeichen vielleicht. Alles um sie her – Wasser, Bäume, Insekten – war in Bewegung, nur nicht der Klotz. Der Klotz blieb still und stumm. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie schon bei ihm saß.

Schließlich machte sie sich auf den Rückweg und sah vor sich die Gestalt eines Mannes, der den schlammigen Weg entlanghumpelte. Plötzliche Panik stieg in ihr auf: Wenn sie doch wenigstens ein Küchenmesser mitgenommen hätte! Der Mann wandte sich ihr zu: Er musste wohl ihre Schritte gehört haben. Sie leuchtete ihn mit der Taschenlampe an, hoffte, dass es nur T.S. war, der sie suchte.

Aber er war es nicht. Der Mann stützte sich auf eine Krücke.

»Ren Qi?«, flüsterte sie vernehmlich.

Er schirmte die Augen mit dem Arm ab und schrie: »Machen Sie das verdammte Licht aus!«

Sie schaltete die Taschenlampe aus und eilte auf ihn zu. »Ich bin’s!«

Er brauchte einen Moment, bis er sie erkannte, und als das passiert war, schrie er erneut: »Wu Jia Jia!«

Sie hielt ihm hastig den Mund zu. »Pst«, zischte sie. »Wollen Sie denn das ganze Dorf aufwecken? Wie haben Sie mich gefunden? Ich habe auf Ihren Anruf gewartet.«

»Ich war auf der Suche nach meiner Frau. Ich hätte nie gedacht, dass ich stattdessen Sie finde!« Lachend schlug er ihr auf den Rücken.

»Hier draußen, mitten in der Nacht, suchen Sie nach Ihrer Frau?« Auch sie musste lachen und zog ihn am Arm. »Kommen Sie. Ich zeige Ihnen etwas.«

»Oh! Haben Sie ihn gefunden?«

»Still! Sie sind schon wieder so laut.«

Ren Qi trottete hinter Jia Jia her, vergaß das Flüstern und fluchte jedes Mal, wenn er stolperte.

Er deutete auf eine Pflanze und sagte: »Das sieht nach Cannabis aus!«

»Ich warte, wenn Sie sich etwas pflücken wollen«, erwiderte Jia Jia lächelnd.

Als sie Ren Qi den Holzklotz zeigte, konnte sie seine Reaktion nicht sehen, machte sich aber darauf gefasst, dass er sich über ihre Besessenheit amüsieren würde. Mit dem Rücken zu ihr stand er da, still wie ein Stein, und musterte das Ding lange Zeit. Als sie schließlich neben ihn trat, stellte sie fest, dass sie sich getäuscht hatte. In seiner Miene lag kein Spott, keine Faszination, im Grunde gar nichts. Er schaute den Fischmann an, beachtete ihn aber gar nicht weiter, als ginge er eine belebte Straße voller Fußgänger entlang und der Fischmann wäre nur ein Gesicht unter vielen. Es war wohl übertrieben gewesen zu erwarten, dass ein Wildfremder sich für so einen dummen Holzklotz interessieren würde.

»Mein Mann hieß Chen Hang«, erzählte sie leise. »Er ist ganz überraschend gestorben. Eigentlich auf sehr seltsame Weise. Kopfüber in der Badewanne in unserer Wohnung.«

Ein Kichern entfuhr ihr, und sie verabscheute sich dafür. Sie erklomm den Felsen und hockte sich hin, um Ren Qi zu zeigen, in welcher Haltung sie Chen Hang in der Badewanne gefunden hatte. Als ihr klar wurde, wie albern sie dabei aussehen musste, richtete sie sich rasch wieder auf und hielt Ren Qi die Hand hin, um ihm hinaufzuhelfen. Den Holzklotz zwischen sich, setzten sie sich hin.

»Er hat vor seinem Tod ein Bild gemalt«, sagte sie. »Ein Wesen aus einem Traum, den er hier hatte, in diesem Dorf. Ein Fischmann. Er hat einen Menschenkopf mit einer sehr hohen Stirn. So hoch, dass man sich kaum noch auf die anderen Züge konzentrieren kann, wenn man ihn anschaut. Trotzdem hat mein Mann das Gesicht sehr genau gezeichnet, bis hin zu den Runzeln auf den Lippen. Vom Hals abwärts ist er ein Fisch. Aber der Teil ist weniger detailliert.«

»Fischkörper, Menschenkopf«, sagte Ren Qi und schrieb mit dem Zeigefinger Schriftzeichen auf den Stein. »Und eine hohe Stirn.«

»Ich war nicht dabei, als er ihn gezeichnet hat.« Jia Jia schwieg kurz. »Aber wenn ich an Chen Hang denke, sehe ich ihn mit einem Hotelbleistift in der Hand den Fischmann zeichnen. Ich war nicht mal dabei, trotzdem erinnere ich mich daran. Seltsam, oder?«

»Sehr seltsam, in der Tat.« Er griff nach seinen Zigaretten.

»Geben Sie mir auch eine«, sagte Jia Jia und schaute in das Päckchen, suchte sich die aus, die sie am liebsten rauchen wollte. Sie zündete ihre zuerst an und hielt anschließend ihm die Flamme hin. Er zögerte zunächst, atmete dann aber tief durch, schüttelte den Kopf und wandte sich der Flamme zu.

»Ich habe versucht, die Zeichnung zu rekonstruieren, sowohl in Öl als auch mit Bleistift«, erzählte Jia Jia weiter. »Aber bisher ist jeder Fischmann, an dem ich mich versucht habe, ohne Gesicht geblieben. Ich kann sein Gesicht einfach nicht nachbilden.«

Ren Qi seufzte, und sie lauschten beide dem Fluss, bis Jia Jia weitersprach.

»Wie haben Sie das gemeint, dass Sie hier nach Ihrer Frau suchen?«, fragte sie.

Er nahm die Zigarette aus dem Mund und sagte: »Das ist ihr Heimatdorf. Ich hatte gehofft, sie wäre vielleicht hierher zurückgekommen.«

Jia Jia dachte an den Punkt, den er ihr in Lhasa auf der Karte gezeigt hatte. Den Namen des Dorfes hatte er nicht erwähnt, aber irgendwie wunderte es sie nicht, dass es ausgerechnet dieses war. Es kam ihr richtig vor, dass er hier war, dass sie zusammen hier waren, beide auf der Suche.

»Morgen fragen wir die Familie, bei der ich wohne. Wenn Ihre Frau hier geboren ist, müssen sie sie ja kennen«, sagte Jia Jia.

»Ich habe so ein Gefühl. Ein Bauchgefühl, könnte man sagen, dass sie nicht hier ist. Ich weiß nicht warum, aber dieser Ort fühlt sich einfach fremd an.« Ren Qi fasste an den Holzklotz. »Kalt sogar.«

»Morgen früh sehen wir weiter.« Jia Jia lächelte.

Aber Ren Qi blickte stur geradeaus.

»Sie sind eine gute Künstlerin, wissen Sie«, sagte er. »Sie sind gut, das meine ich ganz ernst. Ich habe Sie zeichnen sehen. Was also könnte Sie daran hindern, das Gesicht dieses Burschen zu malen? Denken Sie mal darüber nach. Vielleicht sollen Sie es einfach nicht malen.«

Jia Jia knipste wieder das Feuerzeug an und schaute in die Flamme.

»Ich war immer schon fasziniert von allem, das mit Wasser zu tun hat, aber ich war auch immer wahnsinnig schlecht darin, es zu malen. Vielleicht suche ich ja bewusst das Scheitern.«

»Falsch.« Ren Qi nahm ihr das Feuerzeug weg und drehte sie an den Schultern zu sich um. »Sie müssen sich ein anderes Gesicht überlegen, das Sie in Ihrem Bild verewigen«, sagte er und deutete mit dem Finger erst auf Jia Jias Nase, dann auf eine beliebige Stelle auf dem Felsen. »Nicht das, das Ihr Mann gemalt hat.«

Wieder schwiegen sie lange, Jia Jia floss auf ihren Gedanken dahin, spürte noch die Reste seiner Berührung an den Schultern.

»Was schreiben Sie da eigentlich immer mit dem Finger?«, fragte Jia Jia.

»Ach, ich merke das schon gar nicht mehr, wahrscheinlich genauso wenig, wie Sie merken, dass Sie mit diesem Feuerzeug, das Sie ständig in der Hand halten, immer so machen.« Er ballte die linke Hand mit hochgerecktem Daumen zur Faust und tippte mit dem Daumen ein paar Mal auf die Finger.

»Mache ich das so oft?«

»Ja. Ziemlich oft.« Er lachte. »Sogar wenn Sie kein Feuerzeug in der Hand haben. Wollen Sie was trinken?« Er zog eine Flasche Qingke-Wein aus seinem Rucksack.

Sie tranken abwechselnd aus der Flasche. Der Alkohol brannte ein wenig im Magen, und Jia Jia fühlte sich lebendig davon.

»Ich stelle mir immer vor, dass dieses Getränk aus dem Himmel kommt«, sagte Ren Qi. »Es hat so eine Reinheit. Finden Sie nicht?«

Jia Jia lachte.

»Das war ernst gemeint«, sagte Ren Qi.

»Für mich schmeckt es eher wie ein Getränk aus der Hölle. Sauer und faulig.«

»Aber immerhin finden Sie auch, dass es schmeckt wie aus einer anderen Sphäre.«

 

Im Dorf wanderte Großvater mit einem langen Stock in der Hand auf einem Stück Brachland herum. Als Jia Jia und Ren Qi näher kamen, sahen sie, dass er Löcher in den Boden bohrte und etwas darin vergrub.

»Es ist fast zwei Uhr morgens – was pflanzt er denn da?«, flüsterte Jia Jia.

»Er ist schon alt. Er kann nicht schlafen.«

Ren Qi war zum Flüstern nicht gemacht. Großvater drehte sich um und winkte ihnen zu, winkte sie heran. Jia Jia brachte es nicht über sich, ihm das abzuschlagen, und ging hin, leicht benommen und darauf bedacht, nicht auf das zu treten, was Großvater bereits eingepflanzt hatte. Ren Qi folgte ihr, das kranke Bein zog er ein wenig nach. Der alte Mann gab Jia Jia seinen Stock und bedeutete ihr, seine Tätigkeit nachzuahmen. Sie fühlte sich verpflichtet, ihm zu gehorchen, und bohrte, bis sie ein gut handspannentiefes Loch in den Boden gegraben hatte. Großvater schüttelte den Kopf, gab ihr zu verstehen, dass das Loch zu flach war. Und so machte Jia Jia weiter, begleitet von Ren Qis aufmunternden Rufen, bis Großvater sie stoppte, indem er ihre Hand wegzog. Dann holte er etwas aus der Tasche und bedeutete ihr, es in das Loch zu stecken.

Es war eine Blumenzwiebel. Nachdem Jia Jia sie eingepflanzt und mit Erde bedeckt hatte, forderte Großvater Ren Qi auf, auch eine zu pflanzen.

»Nein, nein. Ich bin nicht der Gärtnertyp«, entgegnete Ren Qi und gähnte, als verfehlte Großvaters autoritäre Ausstrahlung jede Wirkung auf ihn. Großvater runzelte leicht die Stirn und nahm das nächste Loch in Angriff.

Ren Qi hatte noch keine Unterkunft, darum bot Jia Jia ihm an, bei ihr im Zimmer zu schlafen. Sie fragte Großvater um Erlaubnis, und er nickte zustimmend. Ren Qi zog eine Decke aus seinem Rucksack, breitete sie über drei Kissen und machte es sich an der Wand gegenüber bequem.

»Aus den schlimmsten Tage entstehen die schönsten Erinnerungen«, brummte er. »Hat meine Frau immer gesagt.«

Seine Atemzüge wurden tief und gleichmäßig, und Jia Jia lag still auf der Seite und ließ die Finger sanft auf ihrem Muttermal ruhen.

 

Wieder erwachte sie im tiefen, dunklen, kalten Wasser. Inzwischen kannte sie das alles gut: die so reale, beißende Kälte. Instinktiv suchte sie nach dem silbrigen Fisch, der wie der Polarstern schimmerte, schlug mit den Beinen und brachte sich schwimmend weiter nach oben. Aus der Ferne näherte sich etwas; der Fisch war viel größer geworden. Jia Jia änderte die Richtung und folgte dem Tier, paddelte eifriger, kämpfte gegen die bittere Kälte an, und glaubte mit jedem schmerzenden Atemzug, es müsse ihr letzter sein.

Dieser Fisch schwamm anders – er wedelte viel mehr mit der Schwanzflosse. Er erinnerte sie an den Fischmann aus ihren Träumen. Sie spürte, dass sie eine Hand hielt. Es war eine warme Hand, fleischig und stark, und sie fühlte sich an, als gehörte sie Chen Hang.

»Halt durch, Chen Hang«, glaubte sie zu sagen und hielt die Augen fest auf das Fischwesen gerichtet, aus Angst, wenn sie wegschaute, könnte es wieder verschwinden. Diesmal würde sie nicht zulassen, dass es ihr aus dem Blick geriet, diesmal nicht.

Aber es geschah trotzdem. Der Fisch war verschwunden. Und neben ihr auf dem Holzboden des Bauernhauses, das Mondlicht im Gesicht, kniete Ren Qi und hielt ihre Hand zwischen seinen kalten Handflächen, so rau wie Ingwer.