15

Zurück in ihrem Zimmer kniete Jia Jia sich mit Blick zum Fenster auf den Holzboden und strich das Foto liebevoll glatt. Die Berge draußen waren wie übereinander liegende große, schlafende Tiere; um diese Zeit wurde das Tal allmählich zum Schatten der Futterschüssel dieser Tiere. Trotzdem schien es, als wollte der Tag sich niemals rühren.

»Wu Jia Jia«, sagte Ren Qi. »Was glauben Sie, warum Sie hier gelandet sind?«

Jia Jia rieb sich die eiskalten Füße.

»Ich war dort«, sagte sie. »In der Wasserwelt.«

Ren Qi ließ sich mit lautem Plumpsen zu ihr auf den Boden fallen.

»Dann gibt es sie also wirklich?«, fragte er.

»Ich glaube, dass ich dort war«, sagte Jia Jia. »Ich weiß nur nicht, wie ich hingekommen bin.«

Ren Qi kreuzte die Beine. »Warum suchen Sie dann immer noch nach dem Fischmann? Wenn Sie in der Wasserwelt waren, müssen Sie ihn doch gesehen haben?«

»Ich habe ihn dort nicht gesehen. Ich war nur im Wasser. Aber jedes Mal hatte ich Angst, dass ich dort festsitze. Es war, als wüsste das Wasser das. Es hat mich immer wieder ausgespuckt.«

Ren Qi überlegte kurz. Ein paar Mal öffnete er den Mund, um etwas zu sagen, entschied sich dann aber dagegen und zog schließlich eine Zigarette aus der Brusttasche.

Nach ein paar gereizten Zügen sagte er: »Wissen Sie, als diese Frau davon erzählt hat, bin ich den Gedanken nicht mehr losgeworden, dass meine Frau in dieser Welt sein muss.«

Jia Jia nahm ihm die Zigarette aus der Hand und zog daran.

»Warum sollte sie dort sein?«, fragte sie.

»Sie ist jetzt seit über einem Monat fort.« Er wischte sich mit der Hand über die Stirn. Dann nahm er Jia Jia das Foto ab und betrachtete es. »Das ist wirklich ein lausiges Foto.« Er wedelte damit, als wäre es staubig, und gab es ihr dann zurück.

»Sie wissen nicht, warum Ihre Frau verschwunden ist, darum glauben Sie, dass sie in der Wasserwelt ist. Weil Sie es nicht begreifen können. Dinge, die wir nicht begreifen, erklären wir uns mit anderen Dingen, die wir nicht begreifen.«

»Ich glaube nicht, dass irgendetwas zufällig geschieht, Wu Jia Jia. Glauben Sie an Schicksal?«

Jia Jia gab keine Antwort.

»Ich schon«, fuhr Ren Qi fort. »Ich glaube, es muss das Schicksal gewesen sein, das uns beide hierhergeführt hat, Wu Jia Jia. Es muss einen Grund dafür geben, dass ich von der Wasserwelt erfahren habe. Ich werde hier im Dorf bleiben, den Fischmann suchen und wenn es sein muss, auch Tulpen pflanzen, ich werde die Wasserwelt ausfindig machen und meine Frau dort suchen.«

Er strahlte wie ein Kind, das glaubt, den Weg nach Hause gefunden zu haben. Seine Zähne waren gelblich verfärbt, seine Augen wie schwarzer Lack. Jia Jia sah, wie er litt. Es war die Art von Qual, an die ein schmerzerfüllter Mensch sich noch nicht gewöhnt hat, die Hoffnung statt Resignation hervorruft, tiefere Wunden schlägt. Er war noch so jung.

»All diese Unsicherheit wegen Ihrer Frau ist sicher schwer zu ertragen«, sagte Jia Jia.

»Schmerz ist Schmerz«, erwiderte Ren Qi ruhig. »Es gibt verschiedene Auslöser für den Schmerz, aber am Ende spüren wir ihn doch alle auf die gleiche Weise. Solche Erinnerungen kleben an einem wie der Geruch von Tabak, den man mit Seife nicht von den Fingern kriegt.«

Er schwieg ein paar Sekunden, dann sagte er: »Erzählen Sie mir mehr von der Wasserwelt.«

Jia Jia dachte darüber nach. Es fühlte sich an, als würde er nach etwas sehr Intimem fragen, als verlangte er, dass sie sich auszog und die Beine breit machte. Um ihm zu sagen, was er hören wollte – falls es ihr überhaupt gelang, das Erlebnis in Worte zu übersetzen –, musste sie sich selbst aufschlagen wie ein Ei und alle Flüssigkeit herausrinnen lassen, bis für sie selbst nichts mehr übrig war. Aber sie konnte diesem Mann nichts abschlagen, konnte sich diesmal nicht verschließen. Ihre Schale hatte bereits einen Sprung bekommen, als sie ihre Hand von seiner umschlossen fand, während sie im kalten, schwarzen Wasser schwamm. Sie sammelte die Worte ein und fing an.

»Ich kann Ihnen nur eines sagen«, begann sie behutsam. »In der Wasserwelt, falls ich tatsächlich dort war, wie gesagt, ist niemand. In dieser Welt zerfällt man. Der Körper, die Gefühle, die Wahrnehmungen und die Gedanken werden zu einzelnen Teilen, wie Seiten, die aus einem Buch gerissen werden. Es gibt dort einen Fisch, einen silbrigen Fisch, aber das ist auch schon alles. Ansonsten ist es nur stockfinster dort. Andere Menschen gibt es keine. Man ist auch kein Mensch mehr. Ich kann Ihnen also sagen, dass Ihre Frau nicht dort ist. Selbst wenn sie dort wäre, könnten Sie sie nicht sehen. Zumindest nicht so, wie Sie es gewöhnt sind. Und sie wird auch nicht nach Ihnen suchen. Es ist ein grauenvoll leerer Ort und gleichzeitig entsetzlich überfüllt. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?«

Jia Jia blickte Ren Qi prüfend an.

»Klingt beängstigend«, sagte Ren Qi.

»Anfangs ist es beängstigend. Aber dann vergisst man die Angst und spürt stattdessen Kälte. Wie Eis, das niemals schmelzen wird. Und damit meine ich kein körperliches Kältegefühl, sondern den Eindruck, dass man auf ewig gleich bleibt, dass sich nie mehr etwas ändern wird. Wissen Sie, wie sich das anfühlt?«

Ren Qi zog sich ein paar Mal am Ohrläppchen.

»Ich habe geglaubt, meine Frau würde immer bei mir sein«, sagte er. »Wie eine Figur aus meinem Roman, in die ich mich verliebt habe. Ich habe geglaubt, wir würden immer dasselbe Wir bleiben, in derselben kleinen Wohnung, denselben Reisbrei zum Frühstück essen, mit derselben Dusche kämpfen, deren Wasser entweder zu heiß oder zu kalt ist. Aber jetzt ist sie verschwunden, wie Pollen in der Luft. Und nichts ist mehr dasselbe. Um also Ihre Frage zu beantworten: Nein, ich glaube, ich weiß nicht, wie sich das anfühlt.«

Jia Jia nickte leicht. Der Himmel wurde blasser, obwohl die Sonne noch immer nicht zu sehen war.

»Aber zum Teufel mit alldem! Mein Plan ist, sie zu finden. Was ist Ihr Plan, Wu Jia Jia?«, fragte Ren Qi.

»Ich werde fortgehen«, sagte Jia Jia, selbst erstaunt darüber, wie rasch sie diese Entscheidung getroffen hatte. »Ich glaube, hier finde ich keine weiteren Antworten.«

Sie schaute hinaus auf die langsam erwachende Welt, hielt kurz inne, als ihr klar wurde, dass absolut nichts von Großvaters Verschwinden aufgehalten wurde. Die Wölfe gingen weiter auf die Jagd, die Ameisen errichteten weiter ihren Bau, die Vögel fütterten weiter ihre Jungen. Und die Mutter des Reiseführers T.S. stand bereits wieder auf dem Dach über dem Eselschuppen und schippte Heu zu den Tieren hinein.

In Gedanken ging Jia Jia ihrer Geschichte nach. Chen Hangs Tod hatte sie hierhergeführt. Sie hatte Großvater kennengelernt, der von der Wasserwelt wusste und Fischmannfiguren schnitzte, aber Großvater war in der Nacht verschwunden. Die Mutter ihres Reiseführers hatte ihr ein Foto geschenkt, und das Paar darauf musste irgendeine Verbindung zu Großvater und der Wasserwelt haben. Der Fischmann nimmt Tulpen als Gegenleistung, aber es hat keine Tulpe geblüht.

Sie musste ein wenig schlafen. Ren Qi spürte das offenbar, denn er zog sich auf seine Seite des Zimmers zurück, wie ein Tier, das sich versehentlich ins Revier eines anderen verirrt hat, und nahm sein Notizbuch zur Hand. Er schrieb nichts hinein, schlug nur eine leere Seite auf und strich sich übers Kinn. Jia Jia rollte sich unter der Decke zusammen und wandte sich ab.

Sie stellte sich Tulpen vor. Ein ganzes Feld voll. Sie stellte sich vor, es wäre Nacht und der Mond verströmte ein blasses, sämiges Licht. Die vielen tausend Knospen erblühten zu weißen Blumen, und jede Blüte, die sich öffnete, wiegte sie ein wenig tiefer in den Schlaf.

 

Als Jia Jia am folgenden Nachmittag ihre Sachen zusammenpackte, war Großvater immer noch nicht wieder da. Das Tageslicht hatte ihn nicht zurückgebracht. Im Dorf schien die stillschweigende Übereinkunft zu herrschen, dass Großvaters Verschwinden wohl als dauerhaft betrachtet werden musste, falls er bis zum nächsten Tag nicht wieder aufgetaucht wäre.

Und nun war es an Jia Jia, sich zu verabschieden. Die Familie versammelte sich vor dem Haus, winkte ihr und forderte sie auf, bald wiederzukommen. Sie winkte zurück und versprach es. Ein Verschwinden, dachte sie, war im Grunde auch nichts anderes als ein Aufbruch ohne Abschied.

Ren Qi bestand darauf, sie zum Auto zu begleiten. Keuchend humpelte er über die Felder und den Hang hinauf.

»Wo werden Sie unterkommen?«, fragte Jia Jia.

»Ich habe T.S. gefragt, ob ich gegen Bezahlung bei seiner Familie wohnen darf. Aber er kennt meine Frau und hat mich zu ihren Eltern gebracht. Sie haben mir angeboten, vorläufig bei ihnen zu wohnen«, erzählte Ren Qi. »Bis heute früh hatte ich ihre Eltern noch nie getroffen.«

»Wissen die denn nicht, wo Ihre Frau ist?«

»Sie wussten von gar nichts. Anscheinend hat sie keinen Kontakt zu ihnen aufgenommen. Aber seien Sie unbesorgt, ich werde den Fischmann und meine Frau finden. Und dann schreibe ich Ihnen.«

»In Ordnung.«

»Wollen Sie noch einmal am Fluss vorbei?«, fragte Ren Qi.

Jia Jia schüttelte den Kopf. Es ging ihr nicht mehr um den Holzklotz, der war nur eines von vielen Dingen, die ihr den Weg hierher gewiesen hatten. Irgendwann, nahm sie sich vor, würde sie wiederkommen und das alles malen. Vielleicht würde auch sie dann ein militärgrünes Motorrad haben und all ihre Bilder auf dem Gepäckträger. Für einen Augenblick hatte sie das Gefühl, dass die Berge um sie herum größer wurden.

T.S. wartete am Dorfeingang auf sie, der Kofferraum des Wagens stand bereits offen. Bevor Jia Jia einstieg, tätschelte Ren Qi ihr die Schulter. Es war eine warme, zärtliche Berührung, die einen Moment länger dauerte, als sie erwartet hatte, so, als flösse durch seine Fingerspitzen etwas von ihm zu ihr.

»Guten Rückflug«, sagte er.

»Bis zum nächsten Mal«, sagte Jia Jia. Die Worte schienen ihr ein bisschen klebrig beim Aussprechen, wie Honig, den man aus dem Glas löst. Abrupt riss sie die Wagentür auf.

Ren Qi rückte die Krücke unter seinem Arm zurecht und sagte: »Glauben Sie, Ihr Mann ist auch dort? In der Wasserwelt? Schließlich war er es ja, der Ihnen den Fischmann überhaupt gezeigt hat.«

Jia Jia hielt inne. Ein Grüppchen Kinder rannte vorbei, auf dem Heimweg von der Schule. Das Bild von Chen Hang, der mit der Stirn auf dem Boden in der Badewanne kniete, stürzte in Jia Jias Gedanken. Sie schüttelte entschlossen den Kopf.

»Er ist tot«, sagte sie und stieg in den Jeep.

»Richtig«, sagte Ren Qi in einem Ton, wie man ihn verwendet, wenn man etwas nicht ganz versteht, sich aber nicht weiter zu fragen traut. Er schloss die Tür hinter ihr und trat dann einen Schritt zurück. Unter seiner Nase zeigte sich ein scheues Lächeln.

T.S. ließ den Motor an und musste ein wenig auf der schmalen Straße rangieren, um den Wagen zu wenden. Bevor sie losfuhren, erhaschte Jia Jia noch einen Blick auf das Feld, auf dem Großvater vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden Tulpen gepflanzt hatte. Die Mutter hatte recht gehabt, nicht ein einziges Blatt war auf dem Feld zu sehen, obwohl Großvater dort seit Jahren Blumen pflanzte. Als sie um die Kurve bogen, verschwanden die Bauernhäuser eins nach dem anderen, bis Jia Jia das Dorf nicht mehr sehen konnte. Und so begann die achtstündige Fahrt über kurvige Passstraßen: eine meditative Fahrt. Auf eine Linkskurve folgte eine Rechtskurve, immer wieder, bis sie nicht mehr zählen konnten, wie viele Kurven sie bereits genommen hatten und wie viele noch vor ihnen lagen. Nach einer Weile war es, als führen sie ständig dieselbe Strecke ab, als bewegte sich nicht der Wagen, sondern die Straße unter ihnen.

Jia Jia war auf dem Heimweg, und ihre Gedanken wanderten zurück nach Peking, zu Leo. Sie schaute auf ihr Smartphone, aber seit ihrer letzten Begegnung hatte er ihr keine Nachricht hinterlassen. Sie sah ihn vor sich, in seiner Bar, wie er mit zurückgegeltem Haar, angetan mit seiner Fliege, Zitronen auspresste. Wann hatte ihr ein Bild zuletzt so viel Trost gespendet? Auf einmal vermisste sie ihn fürchterlich.

Wie lange war sie überhaupt fort gewesen? Wenn man die Zeit mitzählte, die sie gebraucht hatte, um Frau Wans Wandgemälde fertigzustellen und alle Unterlagen für die Reise zu beschaffen, hatte sie Leo mehr als einen Monat nicht gesehen. Sie hatte ihm gesagt, sie wolle nicht, dass er auf sie warte, und es war genau richtig gewesen, ihm das zu sagen. Jetzt allerdings wollte sie ihm von allem erzählen: von dem Holzklotz, von den Geschichten, die sie gehört hatte, von den Tulpenzwiebeln, von dem Schriftsteller, den sie kennengelernt hatte, von dem Foto.

Die Straße zog weiter ihr Netz um die Berggipfel. Was, wenn T.S. einschlief? Dann würde der Wagen den Abhang hinunterstürzen, und sie würden beide sterben. Gut möglich, dass sie in diesem verlorenen Gebirge niemand finden würde; ihre Leichen würden eins werden mit der Erde. Und falls Leo doch auf ihre Rückkehr wartete, müsste sie ihn enttäuschen.

Eine plötzliche, drängende Sehnsucht nach Peking kratzte an ihrem Herzen. Sie musste wieder in derselben Stadt sein wie Leo, wissen, dass sie bei ihm ankommen würde, wenn sie eine bestimmte Richtung einschlug. Diese Gedanken waren wie warme Steine, die sich in ihr aufschichteten, und sie schloss die Augen und versuchte, ihren Geist zur Ruhe zu bringen.