16

Vor der Wohnung ihres Vaters drückte Jia Jia auf die Klingel. Sie holte tief Luft.

Nach der Landung hatte sie überlegt, gleich Leos Bar aufzusuchen, war dann aber doch mit dem Taxi vom Flughafen direkt zu ihrem Vater gefahren. Seit über zwei Jahren hatte sie ihn nicht mehr besucht. Sie wollte ganz ruhig mit ihm über seine Ehe reden, ihm sagen, dass sie ihm das Geld zurückzahlen würde. Sie wollte ihm nichts schuldig sein. Da ihr Vater jetzt mit Xiao Fang verheiratet war, malte Jia Jia sich aus, in der Wohnung sorgsam arrangierte Blumenvasen, bunte Decken, gerahmte Fotos vorzufinden und womöglich auch eine dicke, gefleckte Katze.

Die Wohnungstür hatte die Farbe von schwarzem Tee. Sie wurde langsam geöffnet, dahinter stand ihr Vater im blauen Schlafanzug, in der Hand eine Ausgabe der People’s Daily.

»Jia Jia!« Er riss die Tür weit auf, als er seine Tochter sah. »Ich wusste ja gar nicht, dass du wieder da bist«, rief er fröhlich und zog die grauen Brauen in die Höhe.

Jia Jia war ganz überrascht, wie ehrlich erfreut er wirkte. Sie rang sich ein Lächeln ab und zog ihren Koffer in die Wohnung.

»Ich dachte, ich schaue kurz vorbei«, sagte sie. »Danke für das Geld. Xiao Fang hat mir gesagt, dass es von dir ist. Ich habe es nicht gebraucht. Jetzt würde ich es dir gern zurücküberweisen.«

»Behalt es. Ich weiß doch, dass du es gebrauchen kannst«, sagte ihr Vater.

Er bückte sich und kramte im Schuhschrank nach einem Paar Hausschuhe.

»Ich kann auch auf Strümpfen bleiben«, sagte Jia Jia und setzte sich, um sich die Schuhe aufzuschnüren. »Ich habe jemanden gefunden, der die Wohnung mietet. Für den Moment komme ich also zurecht.«

»Du wirst dich nur erkälten. Xiao Fang hat mir beigebracht, immer gut aufzupassen, dass ich keine kalten Füße bekomme. Bitte schön!«

Er stellte ein Paar rote Hausschuhe vor Jia Jia hin. Sie musterte seinen Rücken, als er sich umdrehte und wieder ins Wohnzimmer ging. Hätte sie eine Checkliste mit allen Zeichen des Alterns gehabt, sie hätte jedes einzelne ankreuzen können. Er hatte abgenommen, trotzdem aber einen kleinen Schwabbelbauch entwickelt. Obwohl er sich immer sehr gerade gehalten hatte, ging er jetzt leicht gebeugt, mit dem Ergebnis, dass er den Hals vorreckte. Die Haut an seinen Händen war faltig und mit dunklen Flecken übersät.

Xiao Fang war nicht da, ihre Anwesenheit zeigte sich aber trotzdem überall. In den Sandelholzregalen hinter dem Sofa standen mehrere Bücher über Traditionelle Chinesische Medizin. Jia Jias Vater las nur historische und philosophische Bücher. Die Fernbedienungen für den Fernseher, den DVD-Player und die Stereoanlage lagen in Reih und Glied auf dem Teetisch, wie Soldaten in ihren Feldbetten. In einer Zimmerecke lehnte, ordentlich zusammengerollt, eine grüne Yogamatte an der Wand. Es roch nach ätherischen Ölen. Zitrone vielleicht oder Limette.

Komisch, dachte Jia Jia, dass eine Frau den Lebensraum eines Mannes so umstandslos einnehmen kann.

»Möchtest du etwas essen gehen?«, fragte ihr Vater, entschied sich dann aber gleich wieder dagegen und sagte: »Oder lass uns lieber hierbleiben. Xiao Fang ist übers Wochenende verreist. Ich koche uns etwas.«

»Ich kann auch kochen«, erbot sich Jia Jia. Sie hatte nicht gewusst, dass ihr Vater kochen konnte. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals etwas gegessen zu haben, das er zubereitet hätte.

»Ich habe mich den ganzen Tag noch nicht bewegt«, sagte er und drückte sie an den Schultern auf das Sofa. Er reichte ihr eine der Fernbedienungen, die mittlere. »Schau ein bisschen fern, oder mach ein Nickerchen. Unter dem Tisch steht auch Tee.«

Sie sah auf die Uhr. Es war zehn nach fünf am Nachmittag.

»Ich gehe ein bisschen einkaufen«, verkündete er eifrig und verschwand im Schlafzimmer, um sich umzuziehen. »Wenn du willst, kannst du schon mal den Reis aufsetzen«, rief er von drinnen.

Kurz darauf kam er in einem schlichten T-Shirt und einer schwarzen Hose zurück. Nachdem er seinen Autoschlüssel genommen und die Tür hinter sich zugezogen hatte, suchte Jia Jia im Küchenschrank nach der Tüte mit dem Reis, maß zwei Portionen ab, wusch sie drei Mal und schaltete den Reiskocher ein. Im Wohnzimmer klingelte das Telefon, und sie eilte automatisch hin. Dann sah sie ihm beim Klingeln zu, konnte sich aber nicht entschließen, dranzugehen. Wenn es nun Xiao Fang war? Mit ihr wollte Jia Jia nicht reden. Wenn der Anrufer nach fünfmaligem Klingeln noch nicht aufgegeben hatte, nahm sie sich vor, würde sie es als Notfall betrachten und rangehen.

Das Telefon verstummte nach dem dritten Klingeln. Jia Jia behielt es noch ein paar Sekunden im Auge, falls der oder die Betreffende erneut anrief, aber es blieb still. Erleichtert setzte sie sich auf das Sofa und zog das Foto hervor, das sie aus Tibet mitgebracht hatte. Selbst von hinten konnte sie erkennen, dass der Mann jung war. Und die Frau wirkte so leicht wie ein Blatt. Jia Jia konnte sich kaum vorstellen, dass noch ein weiteres Lebewesen in ihr herangewachsen war.

Sie beschloss zu duschen. Als sie sich im Gästebad unter das heiße Wasser stellte, merkte sie, wie wunderbar es war, sich wieder einmal ordentlich waschen zu können. Sie hatte seit Tagen nicht mehr richtig geduscht. Seit sie mit T.S. in dessen Dorf gekommen war, hieß »waschen«, sich einmal kurz mit dem Waschlappen abzureiben. Sie wusch sich zwei Mal mit Shampoo die Haare, seifte sich mehrmals ein und blieb lange unter der Dusche stehen.

Als sie fertig war, stellte sie fest, dass ihr Vater inzwischen zurückgekommen war und in der Küche Karotten schnippelte. Jia Jia lehnte sich auf dem Sofa zurück und ließ sich eine Zeit lang sanft von der Klimaanlage anpusten. Als sie zu frieren begann, drehte sie sich zu den Bücherregalen um, auf der Suche nach etwas, womit sie sich die Zeit vertreiben konnte. Nietzsche, Rousseau, Diderot, Sun Tzu und andere Philosophen füllten die Regalbretter, dazu mehrere Dutzend Werke über die Liao-Dynastie, eine Epoche, die ihren Vater schon von Kindheit an besonders interessiert hatte. Er hatte nie erklären können, warum er eine solche Vorliebe für diese Dynastie hegte; alle anderen fanden das eher eigentümlich. Die Tang-Dynastie, die Zeit der Streitenden Reiche oder die Qing-Dynastie – die gaben doch viel fesselndere Geschichten ab.

Nichts von dem, was sie sah, interessierte Jia Jia. Sie würde sich kaum in Rousseaus ›Gesellschaftsvertrag‹ vertiefen. Sie wanderte weiter zum anderen Ende des Bücherregals und entdeckte dort, vor einer weiteren Ansammlung burgunderroter historischer Werke, eine handtellergroße Figur aus Stein. Es war der Fischmann, der da zwischen weiteren Ziergegenständen auf dem Regalbrett stand wie ein kurioses Souvenir. Jia Jia erstarrte. Woher hatte ihr Vater das Figürchen? Warum hatte sie es noch nie gesehen? Oder hatte sie es womöglich schon gesehen? Sie fiel in einen Zustand verblüffter Wortlosigkeit und fühlte sich plötzlich sehr schwach. Sie rang um Fassung. Dann drehte sie den Fischmann um und fand seinen Rücken leer, ohne Nummerierung. Anders als die Figuren, die sie im Dorf gesehen hatte, war diese sehr kunstvoll gestaltet.

»Wasch dir die Hände! Ich bin gleich fertig!«, rief ihr Vater über das Brutzeln frischen Gemüses in heißem Öl hinweg.

Aufgescheucht von seiner Stimme steckte Jia Jia den Fischmann unwillkürlich in die Tasche. Ihr Vater kam aus der Küche, in jeder Hand eine Schüssel.

»Hol den Reis«, sagte er. »Und Stäbchen.«

Sie gehorchte.

Am Tisch musterte Jia Jia ihren Vater und dachte an das Figürchen in ihrer Tasche. Die Hände ihres Vaters, die die Stäbchen hielten, zitterten leicht – zum ersten Mal war ihr das schon vor Jahren aufgefallen, als sie sich zum Mittagessen getroffen hatten, aber heute Abend schnürte es ihr das Herz zusammen und ließ es beben.

Auf dem Tisch stand eine Platte mit geschmortem Schweinebauch, ein wenig dunkel geraten, mit etwas zu viel Öl, das darauf schwamm. Das zweite Gericht, gebratene Karotten und Pilze, erstrahlte farbenfroh und war besser gelungen.

Ihr Vater verwendete seine Stäbchen als Servierlöffel, hob ein Stück Schweinefleisch auf, ließ es behutsam über Jia Jias Schüssel schweben und schließlich hineinfallen. »Probier mal.«

Jia Jia hielt die Schüssel in der Hand und blickte auf das einsame Stück Schweinefleisch herab.

»Probier mal«, wiederholte ihr Vater. »Geschmorten Schweinebauch magst du doch so gern, oder?«

Sie nahm das Stück und schob es sich in den Mund. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, es würde versalzen sein, weil es in zu viel Sojasauce getränkt war, aber stattdessen entpuppte es sich als zu süß.

Ihr Vater lächelte zufrieden und deutete mit den Stäbchen zum Fenster. »Wäre ich fünf Minuten später gekommen, hätte es im Supermarkt keinen Schweinebauch mehr gegeben. Ich weiß noch, wie du als kleines Mädchen jeden Tag geschmorten Schweinebauch wolltest. Geschmort schmeckt er am besten. Nimm noch etwas. In Tibet hattest du das Essen bestimmt schnell über und hast dich schon nach ein paar Tagen nach guter Hausmannskost gesehnt, stimmt’s?«

Als Jia Jia das letzte Mal mit ihrem Vater zu Hause gegessen hatte, war er am Tag danach fortgegangen. Was hatten sie damals gegessen? Sie durchforstete die tiefe Höhle ihrer Erinnerung, kam aber auf kein einziges Gericht, das an diesem Tag auf dem Tisch gestanden hatte. Sie schob sich noch ein Stück Schwein in den Mund, kaute ein paar Mal und hatte schon ein weiteres nachgeschoben, bevor das erste geschluckt war.

Dann, völlig unvorbereitet, brach sie heftig in Tränen aus. Sie war wie ein Kind, das hingefallen ist und seine Tränen so lange zurückhält, bis die Eltern es in die Arme geschlossen haben, um dann ein durchdringendes, brennendes Heulen hören zu lassen. Während sie schluchzte, nickte sie ein paar Mal, um ihrem Vater zu zeigen, dass er recht hatte – sie aß wirklich gern geschmorten Schweinebauch. Sie konnte nur hoffen, dass er ihr Nicken verstand, denn zu einer zusammenhängenden Äußerung war sie nicht mehr im Stande. Jia Jia war völlig außer sich. Es gab keinen einzigen Schalter mehr, den sie hätte umlegen können, um mit dem Weinen wieder aufzuhören; es wirkte, als wollte es nie mehr enden.

Ihr Vater rührte sich nicht. Er hielt noch immer die Reisschüssel in den großen Händen und hörte ihr zu.

Die Zeit stand entweder still, oder sie verging rasend schnell; Jia Jia schien beides möglich. Während die Tränen in Strömen aus ihr herausflossen, spürte sie sich zusammenschnurren wie ein Stück Seife, das seine ursprüngliche Gestalt verlor. Sie war zu einer formlosen, authentischen Version ihrer selbst geworden. Diese Verwandlung war nicht mehr rückgängig zu machen, das wusste sie.

Und dann, so plötzlich, wie ein Auto in voller Fahrt gegen einen großen Baum kracht, war es vorbei. Eine Zeit lang schwiegen sie beide. Es gab keine Anspannung mehr in dieser Wohnung, keine Gefühlsaufwallung, aber auch kein Gefühl von Trost. Dafür gab es, im Schein des warmen Lichts, eine gemeinsame Mahlzeit von Vater und Tochter.

Als beide ihren Reis aufgegessen hatten, sah Jia Jia ihrem Vater direkt in die Augen.

»Ba«, sagte sie wild entschlossen. »Erzähl mir von dem Fischmann.«

Er erwiderte ihren Blick mit erschrockener Miene, die sich dann zu einer besorgten Miene wandelte und schließlich zu einer gefassten, sanften, entschiedenen. Er legte die Stäbchen beiseite, griff nach einer Packung Taschentücher, reichte sie Jia Jia und verschränkte die Arme auf dem Tisch.

»Was willst du denn wissen?«, fragte er.

Die letzten Reste Nervosität waren aus Jia Jia gewichen. Sie hatte die Fassung zurückgewonnen, und ihr Geist war so klar wie Glas. Sie würde herausfinden, warum ihr Vater eine Fischmann-Figur besaß; das erschien ihr jetzt so natürlich, wie eine Kokosnuss vom Baum fallen muss, wenn sie reif ist. Sie zog das Figürchen aus der Tasche und stellte es vor ihren Vater hin, dann legte sie das Foto dazu, das Großvater aufgenommen hatte.

»Den habe ich hier im Regal gefunden«, sagte sie fest. »Ich habe solche Fischmann-Figuren in einem Dorf gesehen, das ich in Tibet besucht habe.« Sie zeigte auf das Foto. »In diesem Dorf.«

Ihr Vater sank auf seinem Stuhl nach hinten, die Arme immer noch vor der Brust verschränkt. Eine Zeit lang kam kein Laut aus seinem Mund, er starrte nur unverwandt auf das Foto. Dann straffte er den Rücken, beugte sich wieder vor und wählte seine Worte mit Bedacht.