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Der Mond sah aus wie ein kreisrunder Anhänger an einer Kette aus drei Sternen. Die Nächte von Peking waren immer noch ein kühlender Segen, und Jia Jia löste ihren Pferdeschwanz und ließ die Haare über den Rücken fallen, damit sie ihren Nacken vor der Zugluft schützten. Die ersten frühlingshaften Limettenblätter waren zu einer Farbpalette aus üppigen Grüntönen herangereift, und die Ginkgoblätter flatterten im Wind wie winzige Handfächer.

Li Chang war kurz nach dem Maifeiertag aus dem Gefängnis entlassen worden. Jia Jias Tante hatte beschlossen, dass die paar Tage Verspätung keine Rolle spielten: Sie würden den Feiertag als Familie verbringen. Nach dem Abendessen hatte Jia Jia auf Li Changs Bitten hin Herrn Du eine Tüte Zongzi zum bevorstehenden Drachenbootfest vorbeigebracht. Herr Du war allein zu Hause und saß vor dem Fernseher. Er hatte das Wandgemälde nicht verhängt. In diesen wenigen Wochen war er zum alten Mann geworden. Jia Jia sah die Verzweiflung in seinem Gesicht, die Einsamkeit einer stillen Wohnung am Abend. Sie überreichte ihm die Zongzi, er bedankte sich höflich und schenkte ihr im Gegenzug eine Dose weißen Tee. Sie sprachen nicht viel, und hinterher schlenderte Jia Jia zum Zentralen Geschäftsviertel.

Weil sie wusste, dass Li Chang bald zurückkommen würde, hatte sie ihren Makler beauftragt, ihr eine kleine Einzimmerwohnung im Ostteil der Stadt zu suchen. Ihre Tante war derweil, befreit und aufgekratzt, auf den Blumenmarkt gegangen, um rote Fische und rote Korallen für das Aquarium zu kaufen. Während der letzten paar chaotischen Tage in der Wohnung ihrer Großmutter malte Jia Jia. Sie hatte mit einer neuen Version des Pferdes am Strand angefangen, diesmal auf einer größeren Leinwand. Das hatte sie sehr beschäftigt gehalten, und so setzte sie an diesem Abend zum ersten Mal wieder einen Fuß vor die Tür. Leo hatte sie noch nicht aufgesucht; sie brauchte Zeit, um sich die Wasserwelt zu erklären und die Geschichte ihres Vaters zu verarbeiten. Es reichte ihr schon zu wissen, dass Leo in ihrer Nähe war.

Sie kam an einem verlassenen Spielplatz vorbei und trat auf den Sand, achtete sorgsam darauf, nichts davon in die Schuhe zu bekommen. Während sie sich von der Schaukel vor und zurück wiegen ließ, betrachtete sie das Wohnhaus vor sich und zählte die Fenster ab, bis sie ihre Wohnung gefunden hatte. Es war der Tag, an dem ihre Mieter einziehen sollten. Die Wohnung war hell erleuchtet, und an einem Tisch direkt am Fenster saß ein junges Paar mit einer älteren Frau. Die Wände wirkten kahl – sie hatten wohl noch keine Zeit gefunden, alle Möbel aufzustellen. Das junge Paar war etwa in Jia Jias Alter. Obwohl sie saßen, konnte sie erkennen, dass die Frau größer war als der Mann. Der Mann saß mit dem Rücken zum Fenster und unterhielt sich mit der älteren Frau, die wohl seine oder ihre Mutter sein musste – höchstwahrscheinlich seine. Er saß zurückgelehnt auf seinem Stuhl und hob alle paar Sekunden eine Bierflasche an die Lippen.

Auf einmal drehten alle drei den Kopf zum Schlafzimmer, sichtlich aufgeschreckt. Die junge Frau sprang auf, eilte durch das Wohnzimmer nach hinten und kam kurz darauf mit einem Baby auf dem Arm zurück, ein halb verlegenes, halb stolzes Lächeln im Gesicht.

Jia Jias Smartphone brummte in ihrer Handtasche. Es war eine Nachricht von Ren Qi.

 

Wie ist es Ihnen ergangen, Wu Jia Jia? Ich hoffe sehr, Sie sind gerade bei Ihrer Familie, lassen sich Pekinger Essen schmecken und trinken sehr viel Wein. Ich habe das tibetische Essen allmählich richtig satt. Aber ich bin immer noch hier und sitze auf dem Schotterpfad am Fluss, mit einer Flasche Qingke-Wein. Ach, wie still es heute Abend ist! T.S. hat mir erzählt, in seiner Kindheit habe es noch wilde Tulpen in der Gegend gegeben. Was glauben Sie, wo sind die alle hin? Jetzt ist hier gar nichts mehr. Nur Steine und Wasser.

 

Jia Jia sah ihn vor sich da am Rand des schmalen Pfades, die Krücke und das Notizbuch neben sich, unter demselben Mond, der über ihrem Kopf hing. Sie stellte sich vor, dass der Mond in Tibet tiefer stand und heller leuchtete, als würde er nach einem leichten Schubs wie ein Ball von einem Berggipfel zum nächsten hüpfen.

Eine Minute später kam eine zweite Nachricht:

 

Eigentlich wollte ich Sie anrufen, aber ich habe es nicht über mich gebracht, diese Stille zu stören. Außerdem möchte ich meine eigene Stimme gerade lieber nicht hören. Ich hoffe, Sie sind auf Ihrer Suche nach der Wasserwelt weitergekommen.

 

Jia Jia überlegte einen Augenblick, dann schrieb sie zurück:

 

Wann kommen Sie zurück? Haben Sie Ihre Frau schon gefunden? Wenn Sie wieder hier sind, müssen wir uns treffen, dann erzähle ich Ihnen alles.

 

Nachdem sie die Nachricht abgeschickt hatte, legte sie sich das Telefon in den Schoß. Dann beugte sie sich vor, zog die Schuhe aus und grub die Zehen in den kühlen Sand. Sie dachte an die Wasserwelt und daran, dass sie vor langer Zeit schon dort gewesen war, als ihre Mutter mit ihr schwanger war. Vielleicht hatte auch sie etwas dort zurückgelassen, wie ihre Mutter. Als ihr Vater ihr die Geschichte erzählt hatte, war ihr klar geworden, dass das Foto ihn und ihre Mutter zeigte. Wie liebevoll er aussah; seine Hand hielt den Arm ihrer Mutter, als fürchtete er, der Wind könnte sie davontragen. Jia Jia hatte keine Erinnerung an eine solche Innigkeit zwischen ihnen. Niemals hätte sie geglaubt, dass eine schlichte Geste wie eine Hand an einem Ellbogen so tröstlich auf sie wirken könnte.

Das Smartphone brummte wieder:

 

Es geht mir nicht gut. Ich bin am Boden zerstört. Meine Frau ist wieder da, aber mit einem anderen Mann, einem tibetischen Hengst, den sie aus ihrer Jugend kennt. Sie hätten ihr Gesicht sehen sollen, als sie mich hier vorfand, wo ich wie ein Trottel auf sie wartete und sie aus einer Wasserwelt zurückholen wollte, die ich gar nicht kenne. Wissen Sie, was ich gemacht habe? Ich habe sie angelächelt. Sie wollte nicht einmal mit mir reden.

 

Jia Jia las diese letzte Nachricht mehrmals. Sie gab ihr einen Stich, weil sie wusste, dass er dafür nicht gewappnet gewesen war, weil sie zu wissen glaubte, wie sehr es ihn verletzt haben musste.

 

Aber so ist das Leben, nicht?, lautete seine nächste Nachricht. Manchmal möchte man tanzen, und manchmal möchte man weinen. Aber ich weine gar nicht. Der Schmerz ist noch zu frisch. Ich kann nicht weinen. Erst wenn ich ihr Buch mit dem Lesezeichen in unserem Regal sehe, wenn ich die halbleere Dose mit ihrem Oolong-Tee öffne oder einen ihrer Lippenstifte unter unserem Bett finde. Bis dahin werde ich nichts empfinden außer Scham. Aber wenn es so weit ist, dann wird es mir das Herz zerreißen. Das weiß ich. Jetzt gehe ich zurück ins Dorf. Mir ist der Alkohol ausgegangen.

 

Jia Jia holte tief Luft und schaute noch einmal zu ihrer Wohnung hinauf, zu der Familie, die an dem Ort, den sie hinter sich gelassen hatte, ein neues Leben begann. Der Spielplatz blieb leer, die gelbe Rutsche wirkte mutlos, wie sie sich da im Dunkeln für niemanden aufrecht hielt. Jia Jia fing an zu tippen.

 

Haben Sie in letzter Zeit etwas geschrieben? Mir ist aufgefallen, dass ich Sie gar nicht nach den Titeln Ihrer Bücher gefragt habe. Ich glaube, es wäre schön, wenn ich mir eins davon besorgen könnte. Ich bin zu dem Schluss gekommen, Ren Qi, dass man Menschen manchmal am leichtesten für immer verliert, wenn man sie bei sich behält.

 

Noch bevor sie fertig war, brummte ihr Telefon wieder:

 

Die Tulpen! Wu Jia Jia, Sie glauben nicht, was ich hier sehe! Das leere Feld steht jetzt voll reiner, weißer Tulpen! Sie strahlen, als gehörten sie eigentlich in einen Palast oben im Himmel. Der Wind streicht sanft durch ihre Blätter. Das ganze Feld wiegt sich wie Seide. Wenn ich zum heutigen Vollmond hinaufschaue, kann ich mich der Vorstellung nicht erwehren, dass die Bettdecke der Mondgöttin genauso aussehen muss. Wu Jia Jia, gestatten Sie mir, Ihnen zu verkünden, dass die Tulpen erblüht sind!

 

Vor Jia Jia erschien tintenschwarz die Wasserwelt, sie schluckte die Straßenlaternen, den Mond, die gelbe Rutsche, das Wohnhaus und die Familie darin. Der Gehsteig wurde weggespült. Der Sand unter ihren Füßen verlor sich im Wasser. Peking entschwand seinen Grenzen.

Die plötzliche Kälte traf sie. Kein noch so warmes Kleidungsstück, kein Feuer würde sie je wieder aufwärmen, das wusste sie. Sie versank, zumindest glaubte sie das, und konzentrierte sich ganz auf ihren fallenden Körper, wehrte sich nicht. Auf diese Weise hoffte sie, vielleicht doch noch auf den Grund dieser Welt vorzudringen. Das ist es doch, was wir tun, dachte sie. Wir hoffen.

Der Fischmann schob sich heran. Wie auf Chen Hangs Zeichnung hatte sein Gesicht nichts sonderlich Fesselndes an sich. Es war ein ganz durchschnittliches Männergesicht, normale Proportionen, neutrale Miene. Vielleicht noch das Bemerkenswerteste an ihm war der kahle Kopf, der am Hals in einen kakifarbenen, schuppigen Körper überging. Er war wahrhaftig kein auffallend schönes Geschöpf. Jetzt setzte er zum Sprechen an.

»Komm nach Hause, das Abendessen steht schon auf dem Tisch«, sagte er mit einer Cellostimme und schwamm dabei hin und her, wie zwischen zwei unsichtbaren Wänden.

»Ist meine Mutter dort?«, fragte Jia Jia. »Sie war vor dreißig Jahren einmal hier.«

»Das musst du schon selbst herausfinden. Komm mit.« Der Fischmann wirkte aufgeregt, seine Flossen schlugen gegen seinen Körper. »Eins kann ich dir aber sagen«, fuhr er fort. »Wenn sie nicht da ist, wo du bist, dann ist sie vielleicht da, wo ich bin.«

Jia Jia bewegte die Beine. Sie wogen schwer, als wären sie steif gefroren. Der Fischmann wirbelte herum und schoss hinein in die Dunkelheit; Jia Jia folgte ihm. Bald konnte sie seinen Kopf nicht mehr sehen, nur noch die wedelnde Spitze seiner Schwanzflosse.

Sie wollte noch weiter mit ihm reden, brachte aber keinen Ton heraus. Bewegte sie überhaupt die Lippen? Es war schon schwer genug, mit seinem Tempo Schritt zu halten, geschweige denn, dabei ein Gespräch zu führen. Sie konnte sich nicht einmal entscheiden, was sie eigentlich sagen wollte.

Irgendwann stellte sie fest, dass sie wohl die Augen geschlossen haben oder für einen Moment eingeschlafen sein musste und auf der Stelle trat. Der Fischmann war nirgends mehr zu sehen – wann war er verschwunden? Ihr Gedächtnis versagte ihr den Dienst, löste sich wie Salz im Wasser auf. Auch die Kälte war verschwunden, ihre Sinne versagten, ihr Körper, eben noch schwer wie Stein, war jetzt leicht wie Schaum. Sie ließ die Hände über sich gleiten.

Nichts. Da war nichts. Ihr Körper war verschwunden. Auch das, was sie für ihre Hände gehalten hatte, war nicht mehr als ein Gedanke. Damit musste alles zu Ende sein. Würde sie je wieder eine Zigarette rauchen können? Sie brauchte dringend eine. Sie tastete nach ihrer Tasche. Aber die war natürlich auch nicht da.

War ihre Mutter ebenfalls so gefangen worden? War »gefangen« überhaupt das richtige Wort? War das womöglich die Reinkarnation? Sie würde im Körper von jemand anderem aufwachen, ein anderes Leben leben und in diesem neuen Leben aller Wahrscheinlichkeit nach nie von der Wasserwelt erfahren. Vielleicht würde sie ja nicht einmal ein Mensch sein. Sie musste an das Bild an Frau Wans Wand denken. Die jetzt Herrn Dus Wand war. An die saphirblaue Schale, die in der Mitte erstrahlte, gehalten von den Händen des Buddha. An den Spritzer Orange, den sie ins Blau gemischt hatte.

»Was machst du?« Die Stimme des Fischmanns drang aus dem Dunkel.

»Ich habe dich wohl verloren«, sagte Jia Jia und löste sich aus ihrer Trance.

»Halt dich ran.«

»Ich kann dich gar nicht sehen«, sagte Jia Jia. Sie überlegte, wie es wohl möglich war, dass sie einander hörten.

»Folge einfach meiner Stimme.«

Jia Jia gab sich alle Mühe, den Ursprung der Stimme auszumachen. Sie schien von weiter oben zu kommen.

»Vielleicht könntest du ein Lied singen«, sagte sie. »Dann kann ich dir folgen.«

Der Fischmann summte eine Melodie. Jia Jia kannte sie nicht, und sie war auch nicht schön anzuhören, aber darum ging es nicht. Sie befahl ihrem körperlosen Ich, die Augen zu schließen, schneller zu schwimmen, den Fischmann nicht wieder zu verlieren.

»Das wird nichts. Ich komme nicht vom Fleck«, sagte sie. »Ich habe keinen Körper mehr.«

Der Fischmann unterbrach sich mitten im Lied und sagte: »Ich auch nicht. Darum kannst du mich ja nicht sehen. Aber ich kann dir versichern, dass wir uns noch bewegen. Wir bewegen uns immerzu.«

»Kannst du mir nicht sagen, wo es hingeht?«, fragte Jia Jia.

»Wenn wir uns nicht mehr bewegen, dann sind wir an unser Ziel gelangt.«

Jia Jia lauschte dem leiernden Lied des Fischmanns, und ihre Gedanken schwanden. In welcher Sprache sang er bloß? Tibetisch? Aber es spielte keine Rolle, denn schließlich verklang auch das Singen.

Nichts.

Nur die Stille des Geistes.

In der Ferne sah sie ein sanftes Schimmern. Einen silbrigen Fisch.