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Jia Jia sah die matte, orangefarbene Laterne ihrer Mutter im Eingang von Leos Bar leuchten. Sie hing nicht, sondern stand auf einem kleinen, runden Tisch, den Leo sich kürzlich angeschafft haben musste. Ein hellbraunes Tischtuch war darübergebreitet, und neben der Laterne stand ein leerer Aschenbecher. Auch ein Holzstuhl war vorhanden, für Raucher, die sich lieber setzen wollten. Mit den Fingern folgte Jia Jia den Konturen ihres Gesichts, betrachtete ihr Spiegelbild im Fenster der Bar. Das war sie, leibhaftig, so viel stand fest. Sie drehte sich um, machte auf der anderen Straßenseite ihre Wohnung ausfindig. Ihre Mieter saßen immer noch am Tisch, der Mann trank sein Bier, die Frau blickte lächelnd auf das Baby in ihrem Arm. Das Surren eines Elektrorollers wurde lauter und dann wieder schwächer, als es sich entfernte.

Um diese Jahreszeit war es in Peking besonders trocken. Die Wasserwelt hatte keine sichtbaren Spuren hinterlassen, aber Jia Jia war sie geblieben, als flösse sie wie Blut in ihren Adern.

Sie zündete sich eine Zigarette an. Der Wachmann vor dem Parkplatz war von einem anderen, kleineren jungen Mann abgelöst worden. Auch er hielt den Kopf über sein Smartphone gebeugt, wie sein Vorgänger. Er trug eine dicke Brille, der Schirm seiner Mütze war leicht zu einer Seite geneigt. Jia Jia glaubte, den Mann lächeln zu sehen.

Die Tür ging auf, und Leo kam nach draußen. Er hielt einen Schal über dem Arm, den er Jia Jia um die Schultern legte.

»Ich habe dich durchs Fenster gesehen«, sagte er und nahm sich eine Zigarette aus ihrem Päckchen.

»Ich bin seit ein paar Tagen zurück«, erwiderte sie.

»Neue Mieter?« Leo deutete zum Fenster ihrer Wohnung hinauf.

Jia Jia lächelte. »Sie sind gerade eingezogen. Scheint eine nette Familie zu sein. Machst du bald zu?«

»Es sind noch ziemlich viele Gäste da.« Er drehte sich um und schaute in seine Bar. Von seinem großen, schlanken Körper drang Tabak- und Zitrusduft sanft an Jia Jias Nase.

Sie drückte ihre Zigarette in dem neuen Aschenbecher aus und richtete den Blick fest auf einen Baum in der Ferne. Ein Vogel war gerade in sein Nest zurückgekehrt. Sie dachte sich, dass er weit geflogen sein musste, wenn er erst jetzt zurückkam. Sie zog den Schal fester um die Brust und wartete, ohne jeden Drang, irgendwo sein oder irgendetwas tun zu müssen, bis Leo seine Zigarette aufgeraucht hatte.

 

Später saß Jia Jia auf dem Hocker am Ende des Tresens und trank Cognac, bis die Bar zumachte. Die Gäste hielten Leo den ganzen Abend beschäftigt. Er lächelte ihnen zu, nahm ihre Bestellung auf, mixte ihre Drinks, brachte ihnen die Rechnung. Gruppen von Freunden saßen beieinander, unterhielten sich mit unterschiedlichem Akzent, kippten einen Drink nach dem anderen an den niedrigen, runden Tischchen, lachten hin und wieder und sickerten dann nach und nach zur Tür hinaus, wo sich manche nach Norden wandten, andere nach Süden. Leo wischte die Tische ab und wartete auf das nächste Grüppchen, das sich dort niederlassen würde. Im Grunde war die ganze Stadt so, dachte Jia Jia, Menschen kamen und gingen, manche blieben nur kurz, andere länger. Und wenn jemand verschwand, wartete die Stadt schon auf den Nächsten, der seinen Platz einnehmen würde.

Während der Abend dahinging, wurde ihr allmählich klar, was die Wasserwelt hinterlassen hatte. Sie trug etwas unglaublich Leichtes in sich, wie eine Wolke in einer klaren Nacht, ein einzelnes Pusteblumenschirmchen in der Luft, wie eine Ballerina oder Ravels Jeux d’eau. Wenn die Wasserwelt ihr etwas weggenommen hatte, dann musste es etwas sehr Schweres gewesen sein.

Sie dachte an Ren Qi, an das Dorf, den Geruch nach Ziegenbutter und Weihrauch, daran, was er jetzt wohl in dem Feld aus weißen Tulpen dachte, das Gesicht pfirsichrot von der Flasche Qingke-Wein. Morgen würde sie auf seine Nachricht antworten und ihm von dem Fischmann und der Wasserwelt erzählen.

Jia Jia hob ihr Glas ein wenig an, trank auf alle, die weit weg waren.

Als sie das Glas wieder absetzte, schlugen ihre Gedanken den Weg nach Hause ein. Morgen, nahm sie sich vor, würde sie das Meer malen.