Es war noch dunkel, als Jia Jia erwachte. Sie setzte sich auf, angelte mit den Füßen nach ihren Hausschuhen. Sie waren weg. Jia Jia tastete noch ein wenig weiter, fand aber nichts. Als sie auf den Boden sah, stellte sie fest, dass es auch ihn nicht mehr gab, dass an seine Stelle die Oberfläche eines tiefen Meeres getreten war, als säße sie auf der Reling eines Schiffs und sähe zu, wie sich der sternenlose Himmel im Wasser spiegelte. Die Dunkelheit kräuselte sich wie Seide. Jia Jia erhob sich aus dem Bett, trat auf das, was einmal Boden gewesen war, und sank hinein in plötzliche, feuchte Kühle, die nur kaltes Wasser sein konnte. Sie drehte sich auf der Stelle wieder um, wollte nach dem Bett greifen, aber das war schon nicht mehr über ihr. Von Wasser umgeben suchte sie nach irgendeinem Halt. Sie hielt die Luft an und tauchte, tief, immer tiefer.
Die Zeit verschwamm, verlor an Bedeutung. Jia Jia hatte keine Ahnung, in welche Richtung sie tauchte. Sie konnte ihren Körper nicht mehr sehen. Falls sie abwärts schwamm, würde sie dann wieder Boden unter den Füßen haben, wenn sie den Grund ihres Wohnhauses erreichte? Einen Versuch war es wert, dachte sie. Nach einer gefühlten Ewigkeit durchdrang ein weißer Lichtstrahl das Wasser. Die Sonne! Das musste die Sonne sein, die in der Ferne aufging. Fremd wirkte dieser gebrochene Lichtstrahl, als käme er aus einer anderen Dimension, aber Jia Jia schwamm trotzdem darauf zu, zerrte an ihrem Schlafanzug, riss ihn sich vom Leib und rief mit dumpfer Stimme um Hilfe.
Als sie dem Licht näher kam, entdeckte sie unter sich eine kleine silbrige Gestalt, die immer im Kreis herum schwamm. Sie meinte, einen winzigen Fisch mit spitzem Schwanz zu erkennen, der regelrecht glitzerte. Er schwamm wie wild umher – ein Jungtier, das erst noch lernen musste, mit den Flossen zu schlagen.
Jia Jia richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Licht, drängte darauf zu und ließ den silbernen Fisch zurück. Das Licht wurde heller. Sie tauchte auf und fand sich auf dem Fußboden ihrer Wohnung wieder, nackt, den Schlafanzug neben sich verknäuelt, durchgefroren bis ins Mark. Durch das Rollo stach die Morgensonne, der Himmel war hellblau, und draußen im Park hatte sich ein Grüppchen mittelalter Frauen eingefunden, die zu Diskoklängen tanzten.
Nach und nach gewöhnten sich Jia Jias Augen an das Licht. Sie zitterte. Wie ferngesteuert griff sie nach der Zeichnung auf dem Nachttisch. Sie registrierte erleichtert, dass das Blatt trocken war, lehnte den Kopf ans Bett und musterte den Fischmann. In seinem Blick sah sie etwas Lebloses, wie bei einem Beutetier, das gejagt wird und längst aufgegeben hat.
Jia Jia faltete die Zeichnung zusammen, bekam das Bild aber nicht mehr aus dem Kopf. Dieses Wasser, was war das gewesen? Sie wusste schon nicht mehr, wie es ausgesehen hatte, spürte nur noch, wie beißend kalt es ihre Haut hinterlassen hatte. Über Nacht musste wohl die Heizung ausgefallen sein. Jia Jia fror. Die Wohnung war zu groß. Sie musste ausziehen, beschloss sie, so bald wie möglich. Sie konnte es nicht ertragen, allein hier zu sein.
Jia Jia konnte nicht mehr sagen, wann sie zuletzt, und sei es auch nur sich selbst gegenüber, zugegeben hatte, sich wirklich vor etwas zu fürchten. Natürlich hatte sie Furcht empfunden, das war ja klar, aber sie hatte schon in sehr jungen Jahren begriffen, dass ihre Schwäche nur noch mehr Kummer für ihre Familie bedeutete: mehr Sorgen für ihre Großmutter, mehr Tränen für ihre Tante, mehr besorgtes nächtliches Geflüster zwischen den beiden.
An dem Tag, als ihre Mutter starb, war Jia Jia gerade auf die Mittelschule gekommen.
Und am Abend jenes Tages, als sie durch die Schlafzimmertür spähte und ihre Großmutter stumm ins Kissen weinen sah, während ihre Beine über den Bettrand hingen, hatte Jia Jia gelernt, es ihr gleichzutun.
Jetzt versuchte sie, sich hochzurappeln, fand aber nicht die nötige Energie zum Aufstehen. Sie wickelte sich in die Bettdecke und blieb stundenlang auf dem Holzboden sitzen, erfüllt von dem Wunsch, der Tag möge einmal kurz Halt machen und auf sie warten. Sie schloss die Augen und suchte nach Erinnerungen an ihre Mutter. Das hatte sie schon lange nicht mehr getan. Ihre Erinnerungen waren blass und bruchstückhaft, so war es immer gewesen. Jia Jia war überzeugt, dass sie ihr früher einmal real erschienen sein mussten, dass sie an einem bestimmten Punkt der Vergangenheit Intensität und Klarheit besessen hatten. Nur wann? Das konnte sie nicht mehr sagen. Sie erinnerte sich nicht an die Einzelheiten, nur daran, dass es sie gegeben hatte.
Am Nachmittag beschloss Jia Jia, ihre Großmutter zu besuchen. Sie brauchte eine Ablenkung, etwas, das ihren Kopf beschäftigte und sie vom Boden hochholte. Sie zog sich an und stieg in einen Bus der Linie 139 nach Jianguomen. Das dauerte zwar länger als mit der U-Bahn, aber oberirdisch konnte sie besser atmen. Sie ergatterte einen Platz im hinteren Teil des Busses, neben einer Mutter und einem kleinen Mädchen. Die Mutter hielt den Schulranzen des Mädchens auf dem Schoß und hatte ein paar Plastiktüten mit Lebensmitteln zu ihren Füßen stehen. Während der Fahrt redeten die beiden nicht viel, nur einmal schraubte die Mutter den Deckel einer Thermosflasche ab, goss warmes Wasser hinein und hielt ihn ihrer Tochter an die Lippen.
»Du musst mehr Wasser trinken«, sagte sie.
Das Mädchen, den Blick fest auf das Bilderbuch auf seinen Knien gerichtet, öffnete den Mund und ließ sich von der Mutter zu trinken geben. Als Jia Jia ausstieg, fuhren Mutter und Tochter weiter.
Jia Jia war bei ihrer Großmutter und ihrer Tante in einer kompakten Dreizimmerwohnung aufgewachsen. Sie lag im zweiten Stock eines alten Backsteinhauses, mit Blick auf den Hof. Die Wohnung war Jia Jias Großeltern von ihrem Arbeitgeber zugewiesen worden, und als der Großvater starb, war die Tante eingezogen, um sich um die Großmutter zu kümmern. Als Jia Jias Tante dann Li Chang geheiratet hatte, zog auch er mit ein. Im Lauf der Jahre hatte sich der Hof mit parkenden Autos gefüllt, und es lagen weniger Fahrräder herum als in Jia Jias Kindertagen. Als Jia Jia durch das Tor trat, kam ihr eine Gruppe Frauen entgegen. Sie kannte keine von ihnen. Als Kind hatte sie geglaubt, die Familien, die in dem Haus wohnten, würden niemals wegziehen; sie wirkten so verwurzelt mit dem Grundstück, als wären sie wie Bäume dort gewachsen.
Jia Jia öffnete die Metalltür zum Haus, stampfte kurz auf, damit das Licht anging, und stieg die Treppe hinauf. Im Treppenhaus hingen Schichten neuer Werbeplakate über den alten. Irgendwer hatte das Wort »Autovermietung« direkt auf die Wand gekritzelt, gefolgt von einer Telefonnummer.
Sie klopfte und wurde von ihrer Tante empfangen.
»Schau mal, mein neues Aquarium!«, rief die Tante. Sie machte sich dünn, damit Jia Jia sich am Schuhschrank vorbei ins Zimmer zwängen konnte.
Im Wohnzimmer stand ein riesiges Aquarium, das Jia Jia um mehr als einen Kopf überragte. Verschiedene Fischarten schwammen darin, die Augen groß und rund, wirr und verloren. Trotz der vielen Fische wirkte das Becken eigenartig leer.
»Hast du keine Korallen besorgt?«, fragte Jia Jia und legte ihre Handtasche auf das Sofa.
»Die kommen morgen«, antwortete die Tante und betrachtete das Aquarium so stolz, als wäre es ihr Kind.
Jia Jias Großmutter kam kopfschüttelnd, mit winzigen Schrittchen, aus ihrem Zimmer.
»Wir sind nur eine ganz normale Familie in einer ganz normalen Wohnung«, sagte sie mit heiserer Stimme, das Gesicht zu einer missbilligenden Miene verzogen. »Deine Tante hat ständig neue Einfälle, Jia Jia, sie will jede Mode mitmachen. Sieh dir nur an, was das Ding an Platz verbraucht!«
»Li Chang ist gerade bei einer Besprechung«, erzählte die Tante, an Jia Jia gewandt, ohne ihre Mutter zu beachten. »Wir arbeiten zusammen an einem Filmprojekt. Wenn ich meinen Anteil am Erlös bekomme, besorge ich dir eine hübsche kleine Wohnung und auch so ein Aquarium. Diesmal wird es sicher eine große Summe.«
Jia Jias Tante setzte sich und machte sich daran, Teetassen in kochendem Wasser auszuspülen, um sie von Keimen zu befreien.
»Die Wohnung, in der du jetzt bist, ist viel zu groß für dich. Du solltest sie verkaufen und bei unserem Projekt einsteigen«, fuhr sie fort und zog mit einer Holzzange drei Tässchen aus dem Wasser. »Gestern haben dein Onkel und ich im Four Seasons übernachtet, um den Film-Deal zu feiern. Über tausend Yuan die Nacht! Li Chang und ich fanden die Lobby so schön. Ein Jammer, dass Winter ist, sonst hätten wir einen Drink auf der Terrasse nehmen können.«
»Wolltet ihr nicht ein Restaurant aufmachen?«, fragte Jia Jia.
»Wir dachten uns, es ist besser, etwas zu machen, womit Li Chang sich auskennt«, erläuterte ihre Tante. »Die Restaurantidee war doch ein bisschen albern.«
Es war Jia Jias Tante noch nie gelungen, sich mit ihren diversen Geschäftsideen den Lebensstil zu finanzieren, den sie sich wünschte. Chen Hang hatte ihr Vorgehen immer kritisiert: Er wedelte mit der Hand, schüttelte den Kopf und erklärte, Jia Jias Tante wolle viel zu hoch hinaus, sie sei zu ehrgeizig, lege viel zu viel Wert aufs Geld. Man verdient kein Geld, wenn man sich derart hineinsteigert, sagte er dann und knackte eine Nuss. Aber war es bei ihm denn anders gewesen?
»Was ist mit dir, Liebes, was hast du für Pläne?« Jia Jias Tante blickte vom Teeservice auf und sah ihre Nichte an.
»Ich suche jemanden, der meine Wohnung mietet oder kauft. Ich glaube, Tantchen, ich sollte wieder anfangen zu malen«, sagte Jia Jia. »Und meine Bilder verkaufen.«
»Ach, such dir lieber eine sichere Stelle«, sagte die Großmutter und kam langsam um den Tisch herum, um sich neben ihre Tochter zu setzen, begleitet vom vernehmlichen Schlurfen ihrer Hausschuhe. Sie trug diese gelb gepunkteten Hausschuhe jetzt schon seit mehr als zehn Jahren, und als ihre Knieprobleme anfingen, hatte sie Stoff unter die Sohlen genäht, damit sie leichter über den Boden glitten. »Du hättest auf mich hören sollen«, setzte sie mit einem Seufzer hinzu.
Jia Jia erinnerte sich gut, natürlich: Sie erinnerte sich, wie ihre Großmutter sie ermahnt hatte, ein Studium zu wählen, das ihr größere berufliche Sicherheit bieten würde. Eine »eiserne Reisschüssel« hatte die Großmutter das genannt. Sie atmete tief durch, weil sie wusste, dass es über dieses Thema keine weiteren Diskussionen geben durfte und die alte Frau in ihrem Leben schon genug durchgemacht hatte. Alles, was Jia Jia jetzt über die Lippen kommen würde, wenn sie ihnen erlaubte, sich zu öffnen, wäre in jedem Fall zu gehässig. Darum sagte sie nichts. Sie musste sich zusammenreißen. Sie durfte nicht zulassen, dass Tante und Großmutter merkten, wie sehr sie innerlich wankte.
»Ich werde Li Chang fragen, ob er etwas für dich weiß«, schlug ihre Tante vor.
»Solange du nur dafür sorgst, dass es ordentliche Arbeit ist und sie nicht übers Ohr gehauen wird«, sagte Jia Jias Großmutter.
»Ma«, setzte die Tante wieder an. »Ich weiß, du magst Li Chang nicht, aber er kennt wirklich viele reiche Leute, die vielleicht ein Kunstwerk bei Jia Jia in Auftrag geben wollen.«
»Ich mische mich da nicht mehr ein«, entgegnete die Großmutter mit trübsinniger Miene. »Ich weiß ja nicht, wie es heute in der Welt läuft. Aber mit handwerklichen Fähigkeiten kommt man doch am weitesten. Nimm nur Li Chang und dich, ihr wohnt noch immer hier bei mir. Er sollte längst eine eigene Wohnung haben.«
Dann stand sie auf, um das Abendessen zu kochen, und glitt kopfschüttelnd davon.
»Bleib zum Essen, Jia Jia«, sagte die Tante.
Um kurz nach neun schlenderte Jia Jia am Abend in Leos Bar. Erst sagte sie nichts: Zu viel ging ihr durch den Kopf, um es in Worte zu ordnen. Als sie die Wohnung ihrer Großmutter verließ, war sie plötzlich von der Erkenntnis getroffen worden, dass sie sich nicht mehr an Regeln halten musste, die von anderen gemacht wurden. Sie war kein Kind mehr, und die Ansichten ihrer Großmutter, so stark sie auch sein mochten, blieben hinter dieser Tür zurück. Sie konnte jetzt überall hingehen, musste sich vor niemandem mehr rechtfertigen. Sie hatte die Möglichkeit, ihre Kunst wieder aufzunehmen, ohne dass Chen Hang ihr erzählte, was das für einen schlechten Eindruck machte. Davon bekam sie Lust auf ein schönes Glas Champagner.
Sie rief Leo zu sich.
»Ein Glas vom besten Champagner, den Sie haben«, sagte sie.
»Der hier?« Er schlug die Karte auf und zeigte ihn ihr. »Den gibt es normalerweise nur als Flasche. Aber ich kann Ihnen auch ein Glas davon bringen. Sie sind heute offenbar in Feierlaune.«
»Ach, dann nehmen wir doch die ganze Flasche!« Lachend tippte sie mit dem Finger auf den Namen des Champagners.
Wenn sie künftig von ihrer Kunst leben würde, wollte sie die Freiheit haben, im weiten T-Shirt zu Hause herumzulaufen, mit ungewaschenem Gesicht und kurzgeschnittenen Haaren. Wobei sie sich auch da noch jemanden ausmalte, der für ihren Komfort sorgte und ihr etwas aus dem Restaurant holte, nach dem ihr gerade der Sinn stand, selbst wenn es am anderen Ende der Stadt lag. Ja! Sie würde sich neue Erinnerungen mit jemand Neuem schaffen, Erinnerungen, die ihr ein Zuhause geben und ihre Arbeit befeuern würden.
Leo kam mit der Flasche zurück und öffnete sie fast geräuschlos, mit sanftem Zischen. Er schenkte ihr ein Glas ein – kühl, golden.
»Mögen Sie Kunst?«, fragte Jia Jia.
»Ich hatte immer mehr für Musik übrig.«
»Schreiben Sie dann mal einen Song für mich?« Sie lachte.
Sonst war sie mit ihrem Lachen eher sparsam, aber heute wollte sie neckisch sein, verspielt. Sie wusste nicht mehr, wann sie sich das letzte Mal so offenbart, nicht nur auf etwas reagiert, sondern selbst die Initiative ergriffen hatte. Leo erwiderte ihr Lächeln. Sein Lachen grenzte an ein Kichern.
»Haben Sie schon mal Songs für eine Freundin geschrieben?«, fragte sie.
»Einen, für meine letzte Ex. Aber er hat ihr nicht gefallen.«
»Erzählen Sie mir von ihr.«
»Tja …« Er suchte nach einem Weg, die große Frage kurz und bündig zu beantworten. »Sie war wie ein schlimmer Kater.«
»Dann hat sie Ihnen also Kopfschmerzen gemacht.«
»Oft. Schlimme Kopfschmerzen.«
»Haben Sie sie verstanden? Also, haben Sie wirklich verstanden, wer sie war und was sie tat?«
»Nur weil man jemanden versteht, wird der Umgang mit ihm oder ihr nicht unbedingt leichter.« Er stellte die Flasche in einen Eiskübel und legte eine Serviette darüber.
Jia Jia dachte kurz darüber nach. »Ich habe meinen Mann nie verstanden«, sagte sie.
»War er ein komplizierter Mensch?«
»O nein, gar nicht. Er ist in einer armen, aber normalen Familie aufgewachsen, war fleißig, hatte geschäftlichen Erfolg, dann hat er mich geheiratet, und dann ist er gestorben. Klingt doch wie ein ganz einfaches Leben, oder? Aber ich habe ihn nicht einmal in seiner Einfachheit verstanden.«
»Ist es das, was Sie wollen? Etwas Einfaches?«
»Da bin ich mir nicht mehr so sicher.« Sie trank einen Schluck von dem Champagner. Anfangs sprudelte er intensiv, wie ein lauter Akkord zu Beginn einer Sinfonie, aber gleich darauf legte sich Harmonie auf ihre Zungenspitze.
Er sah sie fragend an, wollte weitere Ausführungen hören.
»Es ist, als wäre ich mein Leben lang die Mauern eines Turmes hinaufgegangen«, erklärte sie und stellte das Glas wieder ab. »Immer war mein Körper parallel zum Boden, dann hat sich die Welt auf einmal gedreht, und jetzt stehe ich aufrecht, und der Turm liegt flach auf der Erde. Alles ist plötzlich verzerrt, aber ich habe den Kopf wieder oben, ich gehe vorwärts. Dabei weiß ich in Wahrheit nicht mal, wo oben ist. Verstehen Sie, wie ich das meine? Der Champagner ist gut, wirklich gut, muss ich sagen.«
Bevor Leo etwas erwidern konnte, kamen weitere Gäste herein, und Jia Jia gab ihm zu verstehen, dass es ihr nichts ausmachte, das Gespräch zu unterbrechen. Es war eine Vierergruppe: zwei Männer und zwei Frauen. Die Männer trugen beide Anzüge unter ihren Mänteln, der eine grau, der andere dunkelblau; die Krawatten hatten sie nach der Arbeit abgenommen. Die kleinere Frau zog ihren Pelzmantel aus und legte ein buntes Halterneck-Top mit tiefem Ausschnitt darunter frei. Sie war sehr laut. Noch ehe sie sich hingesetzt hatte, posaunte sie schon heraus, dass sie Anwältin war.
»Die Jungs hatten keine Chance gegen mich«, prahlte sie. »Prügeleien vor dem Club sind mir ja egal, aber wer vor meinen Augen meine Freunde vermöbelt, macht einen Riesenfehler. Ich habe dafür gesorgt, dass der Kleine das Urteil kriegt, das er verdient.«
»Er war aber noch sehr jung, nicht?«, fragte die andere Frau.
»Der Knabe war achtzehn. Fuhr einen Maserati.« Sie zog einen dünnen Zigarillo hervor. »Seine Eltern waren bei mir, um sich zu entschuldigen und um einen Vergleich zu bitten. ›Es tut uns schrecklich leid, unser Sohn muss seine Lektion erst noch lernen‹, haben sie gejammert. Und ich darauf: ›Prima, dann kriegt er ja jetzt die Gefängnisbildung, die er braucht.‹«
Sie lachte lauthals.
»Die Gesichter hättet ihr mal sehen sollen!«, rief sie.
Dann lachten alle und bestellten ihre Drinks. Leo kam zurück und fragte Jia Jia leise, ob die laute Gruppe sie störe.
»Im Gegenteil«, flüsterte sie zurück. »Lassen Sie sie ruhig reden, das ist lustig.«
Als die Bar schloss, saß Jia Jia immer noch auf ihrem Platz. Die vier waren gegangen, und die Frau war nie dazu gekommen, ihren Zigarillo anzuzünden. Leo war die ganze Zeit beschäftigt gewesen und hatte sich auf seine Cocktails konzentriert. Hin und wieder schaute Jia Jia auf seine Finger, während er arbeitete: Er sah recht durchschnittlich aus, aber sie fand einen gewissen Reiz darin, wie er die Hände bewegte. Er muss ein sehr engagierter Mann sein, dachte sie, so hingebungsvoll, wie er seiner Tätigkeit nachgeht. Seine Bewegungen wirkten mühelos – eine Art von Geschmeidigkeit, wie man sie nur durch jahrelanges Üben erreicht.
Er wischte den letzten Tisch ab und kam zurück an den Tresen. Dann schob er Jia Jias Tasche beiseite und setzte sich auf den Barhocker neben ihr – ein erstaunlich intimer Akt für jemanden, der sonst so höflich auf Distanz blieb. Jia Jia wandte sich ihm zu.
»Ich habe die Flasche ausgetrunken. Jetzt wird es wohl Zeit, dass ich gehe«, sagte sie.
»Bleiben Sie und trinken Sie noch ein Glas mit mir.« Über den Tresen hinweg griff er nach dem Cognac und zwei Gläsern.
Sie tranken schweigend.
»Finden Sie mich schön?«, fragte Jia Jia.
»Sie sind wie Wasser. Ihre Schönheit ist weich und ruhig.«
»Wollen Sie dann heute die Nacht mit mir verbringen? Ich glaube, das könnte eine gute Erinnerung für uns beide werden.«
Der Gehweg war nass vom geschmolzenen Schnee und teilweise schon wieder überfroren, weil die Temperaturen gesunken waren. Leo schloss seine Bar ab, und die beiden gingen hinüber zu Jia Jias Wohnung. Die frischere Luft des Tages hatte sich längst verzogen, die Stadt verbarg sich hinter ihrer Maske.