Jia Jia beschleunigte ihre Schritte, als sie die Portiersloge passierte, und ließ Leo langsamer nachkommen. Der Portier grüßte, aber sie grub das Kinn in den Schal und hielt nicht an, bis sie beim Aufzug war.
Auf der langen Fahrt nach oben schwiegen sie. Jenseits seiner Bar schwand Leos Selbstbewusstsein, und er schien angespannt. Er wirkte kleiner, schmaler. In der Wohnung zog er langsam seinen Mantel aus und hielt ihn fest, während Jia Jia ihren auf das Sofa warf.
Sie spürte es, nahm ihm mit einer Hand den Mantel ab und fasste ihn mit der anderen am Arm, um ihm Mut zu machen. Als Antwort zog er sie an sich, als könnte er jetzt aufhören, den Schüchternen zu spielen. Sie spürte seine Brust an ihren Brüsten; seine Lippen reckten sich nach ihren. Er schmeckte nach frischer Minze, und sie war verlegen, weil sie selbst bestimmt nach Alkohol roch. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn ein Minzbonbon lutschen gesehen zu haben.
Die Berührung seiner Hände drang wie Wasser in ihre Poren. Es war, als hätte sie einen Ort in sich, bis zu dem noch niemand vorgedrungen war und der jetzt von der warmen Umarmung dieses Mannes wachgerüttelt wurde. Nie hatte sie solches Verlangen nach einem anderen Körper gespürt – es ging über das Physische und das Bewusste hinaus, war mehr als Lust, aber auch keine Liebe. Sie fühlte sich wie eine einsame Reisende in der Wüste, verlassen und erschöpft, vor der auf einmal der schönste, vor Früchten berstende Pfirsichbaum erblüht.
Genau in dem Moment aber, als Leo sie aufs Bett legte, brach eine Welle von Schuldgefühlen über Jia Jia herein. Da drang jemand ein in Chen Hangs Raum, und sie war die Einzige, die ihn noch schützen konnte. Sie wollte den Gedanken nicht beachten, wollte ihn verscheuchen, aber als sie das kühle Seidenlaken am Rücken spürte, das sie mit ihrem Mann geteilt hatte, kam es ihr vor, als würde sie Chen Hang betrügen. Leo durchlebte keinen solchen Moment des Zögerns; er legte seine Fliege ab, seine Weste und schließlich sein Hemd. Die Hose behielt er an, damit Jia Jia sie ihm auszog. Sie ließ die Hände über seine Hüften zu seinem steifen Penis gleiten und mied dabei seinen Blick.
Alles an Leo machte ihren Mann gegenwärtiger und greifbarer. Leos Haut war straffer, seine Knochen spitzer, er hatte größere Hände. Der Umriss seines Körpers im Dunkeln wirkte fremd und merkwürdig auf sie. Er zog ihr die Hose aus und knöpfte erst dann ihre Bluse auf – genau andersherum, als Chen Hang es gemacht hätte. Es fühlte sich anders an, als er in ihr war. Es fühlte sich anders an, ihn in sich einzulassen. Und wie er sich auf ihr bewegte, wie seine Muskeln sich anspannten, das war alles irgendwie so anders.
Trotzdem zog sie ihn fest zu sich heran – diesen Fremden, der einen bis dahin ganz von der Welt abgeschnittenen Teil in ihr berührte.
Als Jia Jia aufwachte, war Leo nicht mehr im Zimmer. Erst dachte sie, er sei gegangen, aber dann hörte sie ihn in der Küche. Sie hätte gern etwas Zeit für sich gehabt. Rasch wusch sie sich das Gesicht und zog sich an, und als sie ins Wohnzimmer kam, sah sie, dass Leo einkaufen gewesen war und jetzt Eier kochte.
»Ich hatte Eier im Kühlschrank«, sagte Jia Jia.
»Ich habe auch noch andere Sachen gekauft.«
Sie sah auf die Uhr, es war bereits nach elf.
»Wann musst du in der Bar sein?«, fragte sie.
»Erst so gegen vier oder fünf. Ein schönes Bild ist das da drüben.« Er zeigte auf die Wand hinter dem Sofa.
»Oh.« Sie zögerte. »Vielen Dank.«
Sie wusste nicht genau, warum sie ihm nicht sagen wollte, dass sie es gemalt hatte. Es war keine Arbeit, auf die sie besonders stolz gewesen wäre. Bisher hatte niemand das Bild gelobt – sie hatte es erst vor zwei Tagen aufgehängt, anstelle eines Bildes, das Chen Hang in einer Galerie unweit der Rue du Bac in Paris gekauft hatte.
Ihr Bild zeigte ein braunes Pferd am Strand, das etwas jenseits des Rahmens betrachtete. Der Strand war schlammig und voller Steine, der Seegang hoch. Sie war nie sonderlich gut darin gewesen, Wellen realistisch darzustellen, obwohl sie diese Art Landschaft am liebsten malte. Als Studentin hatte sie alles Geld gespart, das sie mit ihrer Teilzeitstelle verdiente, und war nach London gereist, wo sie Stunden mit dem Versuch zubrachte, in der National Gallery Gemälde abzumalen, die Wellen zeigten. Trotzdem war es ihr nie gelungen. Zumindest nicht so, wie sie es gewollt hätte. Etwas an den Bewegungen des Meeres und der halb durchscheinenden Qualität des Wassers bekam sie einfach nicht zu fassen, ein ganz bestimmtes Verhältnis zwischen Geheimnis und Schlichtheit. Nach ihrem Abschluss war sie sogar so weit gegangen, eine Woche in einem taoistischen Tempel zu verbringen, um die Verhaltensweisen des Wassers zu studieren.
Darum überraschte es sie, dass jemand ihr Bild als gelungen lobte.
»Wer hat es ausgesucht?«, fragte Leo.
»Ich«, sagte sie.
»Eigentlich mag ich das Meer ja nicht.« Er reichte ihr eine Takeaway-Schale mit warmer Sojamilch, eine Tüte mit frittierten Youtiao-Stangen und einen Teller mit gebratenen Lotuswurzeln. »Das hat gar keinen bestimmten Grund, es hat mir als Kind nur einfach nie gefallen.«
»Mein Mann mochte auch kein Wasser. Er sagte immer, es sei ein gefährliches und wildes Element. Es ist wirklich schwer zu malen.« Jia Jia biss von einer Stange ab und betrachtete beim Kauen den Abdruck ihrer Zähne.
»Das kann ich mir vorstellen.« Leo zögerte kurz. »Es braucht sicher eine Menge Übung. Ein alter Bekannter von mir ist an der Küste aufgewachsen, sein Vater war Fischer. Er hat Kunst studiert und malt unglaubliche Meeresbilder, das leuchtet mir sehr ein. Er war ja sein Leben lang am und im Wasser. Alles andere, was er malt, ist allerdings nicht besonders.«
»Sein Vater ist Fischer? Und hat seinem Sohn erlaubt, Kunst zu studieren?«
»O nein, natürlich nicht.« Leo lachte und schüttelte den Kopf. »Sein Vater hat ihm gesagt, er solle nie wieder einen Fuß über seine Schwelle setzen.«
Jia Jias Vater war nie dagegen gewesen, dass sie Kunst studierte, hatte sie aber auch nicht darin unterstützt. Viel schlimmer: Es war ihm gleichgültig. Er hatte ihre Mutter verlassen, als Jia Jia fünf war, und sie anschließend, während sie bei ihrer Mutter und später bei ihrer Großmutter aufwuchs, nur noch ein bis zwei Mal pro Jahr zum Mittagessen ausgeführt. Als sie ihm erzählt hatte, sie sei an der Zentralen Kunstakademie angenommen worden, hatte er das nur lächelnd zur Kenntnis genommen und weitere Gerichte bei der Kellnerin bestellt. Womöglich hatte er sie auch kurz beglückwünscht, aber das spielte keine große Rolle, denn ein oder zwei Jahre später hatte er es längst wieder vergessen.
»Ich war auch auf der Kunstakademie«, erzählte sie Leo.
Er trat hinter sie und fasste sie an den Schultern.
»Ich habe dich mal in der Bar darüber reden hören«, sagte er.
Plötzlich waren ihr seine Zärtlichkeiten unangenehm. Die Intensität der vergangenen Nacht war verflogen, seine Berührung wirkte fehl am Platz. Sie verzehrte ihr Frühstück schnell und sah dann die Post durch. Die Rechnungen für die monatlichen Betriebskosten waren gekommen – die ersten seit dem Tod ihres Mannes. Auch die Stromrechnung lag irgendwo in dem Stapel. Wahrscheinlich war es der Hausverwaltung peinlich gewesen, ihr Rechnungen zukommen zu lassen, während sie in Trauer war, deshalb kamen sie erst zwei Wochen nach dem üblichen Datum. Die Zahlungsfrist allerdings war unverändert.
Jia Jia öffnete die Umschläge und war regelrecht empört, als sie sah, dass sich die Gesamtsumme auf viertausend Yuan belief. Der Großteil davon entfiel auf die Heizkosten. Chen Hang hatte sich immer beschwert, dass sie im Winter so viel fürs Heizen ausgaben, aber Jia Jia hatte darauf bestanden, die Zimmer warm zu halten, weil sie zu Hause ungern Pullover trug. Es hatte ihn auch verstimmt, dass sie Smog-Opfer waren, nicht so sehr wegen der gesundheitlichen Folgen, sondern weil die Luftfilteranlage so viel Strom verbrauchte und ihre monatlichen Kosten erhöhte. Immer war es Jia Jia gewesen, die darauf beharrte, die Anlage dauerhaft auf der höchsten Stufe laufen zu lassen, und er hatte ihr diesen Luxus nicht verwehrt.
Jetzt aber, wo er nicht mehr da war, hießen viertausend Yuan im Monat bis zum Ende des Winters, dass Jia Jia wirklich anfangen musste, ihr eigenes Geld zu verdienen. Hatte Chen Hang vorausgesehen, dass sie in diese Lage kommen würde? Hatte er sich überhaupt Gedanken darüber gemacht? War es verrückt, dieses kurze Aufblitzen der Hoffnung, sie könnte von ihren Bildern leben? Sie hatte seit Jahren nicht mehr gearbeitet, all ihre Kontakte schleifen lassen, sich ganz in ihrem Leben als Chen Hangs Frau eingerichtet. Vielleicht gab es da draußen ja gar nichts mehr zu tun für sie.
Leo musste ihre beunruhigte Miene bemerkt haben.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Ja«, sagte sie, ohne ihn anzusehen, weil sie nicht weiter darüber reden wollte. Sie nahm einen Stift und machte sich an ein paar Berechnungen auf einem neuen Blatt Papier.
»Wohnst du hier in der Gegend?«, fragte sie Leo, während sie eifrig kritzelnd die Monate zusammenzählte.
»Nicht im Zentralen Geschäftsviertel. Das kann ich mir nicht leisten. Ich wohne in der Nähe des Botschaftsviertels. Immer noch teuer, aber …«
»Da hast du recht. Ich brauche auch keine vier Zimmer für mich allein«, sagte sie und setzte noch rasch als Rechtfertigung hinzu: »Die sind wirklich schwer sauber zu halten.«
Leo fing an, von dem Viertel zu erzählen, in dem er wohnte, aber Jia Jia war geistesabwesend und reagierte nur mit kurzen Einwürfen oder gar nicht. Sie schaltete die Heizung und die Luftfilteranlage aus und zog einen Pullover über. Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen und suchte dabei ununterbrochen im Internet nach Anzeigen für billigere Wohnungen. Irgendwann verabschiedete sich Leo und ging zur Bar hinüber.
Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, klappte Jia Jia ihren Rechner zu und fühlte sich zugleich erleichtert und von neuem verlassen. Sie dachte an das, was außerhalb ihrer Wohnung vor sich ging, was andere Menschen mit ihrem Tag anfingen. Wer im Büro arbeitete, machte jetzt gerade Mittagspause. Früher hatte Jia Jia Chen Hang oft in der Nähe seines Büros getroffen und mit ihm und seinen Angestellten zu Mittag gegessen. Richtig gefallen hatte ihr das nie – es waren hastige Mahlzeiten, Gespräche voller Oberflächlichkeit –, aber jetzt sehnte sie sich fast danach. Ihr fehlte das Gefühl von Alltagsroutine.
Sie nahm die Teller, die Leo auf dem Tisch hatte stehen lassen, und machte sich ans Abspülen. Die Geistergesichter der Lotuswurzeln starrten zu ihr empor. Leo hatte die frittierten Stangen nicht ganz aufgegessen, im Gegensatz zu ihrem Mann, der immer alles verzehrt hatte, was auf dem Tisch stand, auch wenn er gar nicht mehr hungrig war. So viel Geld Chen Hang auch verdiente, er hatte nie zu viel Essen bestellt, außer bei Geschäftsanlässen, und wenn die Bestellung doch einmal zu groß ausfiel, würgte er immer alles herunter. Trotz seines Vermögens hatte er sich nie reich gefühlt.
Jia Jia merkte, dass sie nach Zigaretten roch, und drehte die Dusche auf. Beim Ausziehen fiel ihr das pflaumengroße, gräuliche Muttermal innen an ihrem linken Oberschenkel auf, das wie ein Winddrachen aussah. Mit Leo hatte sie keinen Gedanken daran verschwendet, was seltsam war, denn eigentlich vergaß sie es nie. Chen Hang hatte das Muttermal zwar nie erwähnt, aber Jia Jia erinnerte sich lebhaft an seine Miene, als er es zum ersten Mal gesehen hatte. Als wäre es ein Schlagloch inmitten der Fahrbahn, hatte er seinen Blick drum herum und darüber hinweg gelenkt. Von da an war sie immer bemüht gewesen, den Fleck mit der Hand oder einem Kleidungsstück zu verdecken, wenn er frei lag, vor allem im Bett, bis sie schließlich verheiratet waren und sie das beim besten Willen nicht mehr durchhalten konnte und deshalb nach Stellungen suchte, von denen sie glaubte, sie würden den Makel weitgehend vor ihrem Mann verbergen. Sie bat ihn, diese Stellungen mit ihr auszuprobieren, als ginge es dabei um ihre eigene Lust.
Jetzt grub sie die Fingernägel in das Muttermal, schloss die Augen und zeichnete im Geist Chen Hangs Körper nach, vom zunehmend kahlen Kopf über die platte Nase bis hin zu den Haaren unterhalb des Nabels und allem, dessen Befriedigung sie sich so verzweifelt gewidmet hatte. Zu ihrer Verwunderung konnte sie sich kaum an seinen nackten Körper erinnern, nur noch daran, wie hässlich er dort in der Wanne ausgesehen hatte. Ihre Gedanken kehrten zu Leo zurück, und sie war erleichtert, dass er in der Nacht das Licht ausgelassen hatte. Fast konnte sie sich einreden, dass dieses entstellte, dunkle Stückchen Haut an ihrem Bein für ihn keine Rolle spielen, dass es sogar verblassen und verschwinden könnte, wenn er es war, der sie hielt. Erklären konnte sie sich das nicht, er kam ihr einfach vor wie ein Mann, der heilte, anstatt zu verwunden.