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Jia Jia hatte sich für den Nachmittag mit Leo verabredet, um mit ihm gemeinsam zu seinen Eltern zu fahren. Sie fühlte sich unsicher und beklommen. Ihr Mann war erst drei Monate tot, und sie verbrachte die Feiertage schon mit der Familie eines anderen: Womöglich hatten Chen Hangs Eltern ja doch recht, und sie war eine Plage. Eine zerstörungswütige, niederträchtige Geißel. Erst ihre Mutter, dann ihr Mann. Und jetzt hatte sie sich auch noch so schnell mit einem anderen Mann eingelassen, wie Moos, das sich an fremde Pflanzen heftet, um zu überleben.

Es war noch früh, nicht einmal Mittag. Jia Jia prüfte ihren Kontostand, obwohl sie schon wusste, wie viel sie besaß: die vierzigtausend, die noch von Chen Hang übrig waren, plus zehntausend von Frau Wan als Anzahlung auf das Wandgemälde. Vor der Verabredung mit Leo musste sie einkaufen gehen: Sie konnte ja nicht mit leeren Händen bei seinen Eltern auftauchen. Das wäre für ihn wie ein Schlag ins Gesicht gewesen.

Sie zog ein langes, orangefarbenes Wollkleid an, band sich die Haare zu einem Pferdeschwanz und verrieb etwas Parfum auf ihren Handgelenken. So sah sie jünger aus. Zufrieden mit ihrem Äußeren fuhr sie mit der U-Bahn zum Shin Kong Place und stöberte dort in den Geschäften. Auf allen Etagen der Mall fanden sich internationale Marken, und sämtliche Schaufenster waren so blank gewischt, dass man sich fragen konnte, wozu es sie überhaupt gab. Seit ihrem letzten Besuch hier, etwa eine Woche vor Chen Hangs Tod, hatten ein paar Geschäfte ihre Plätze auf den Etagen getauscht, als wäre ein Kartenspiel neu gemischt worden.

Einmal, noch vor der Hochzeit, hatte Chen Hang Jia Jia mit nach Fujian genommen, um sie seinen Eltern vorzustellen. Auch damals war sie hier in dieser Mall gewesen und hatte ein Kleidungsstück für seine Mutter und eine Uhr für seinen Vater ausgesucht. Chen Hang hatte alles bezahlt. Der Uhrenladen war noch am selben Ort, aber das Schaufenster wurde von protzigen Modellen mit Diamanten rund um das Ziffernblatt dominiert.

Jia Jia blieb nur kurz davor stehen und ging dann an dem schwarzen Marmoreingang vorbei in den Teil der Mall, wo es, wie sie wusste, Kaschmir zu kaufen gab. Sie ging die Kleiderständer durch und entschied sich schließlich für zwei zueinander passende rote Pullover. Die Verkäuferin nannte ihr den Preis: etwas mehr als siebentausend Yuan für beide.

»Es gibt einen Feiertagsrabatt von vierzig Prozent«, sagte die Verkäuferin.

»Und wie viel kosten sie abzüglich des Rabatts?«, fragte Jia Jia.

»Der genannte Preis enthält den Rabatt bereits, die Dame.« Die Verkäuferin lächelte und bedachte Jia Jia mit einem Flattern ihrer Wimpern, so vollkommen schwarz und üppig, dass sie unmöglich echt sein konnten.

»Natürlich.« Jia Jia rang sich ebenfalls ein Lächeln ab. »Ich schaue mich noch ein wenig um.«

Sie verließ die Mall eilig und kam sich dabei vor wie ein Hund, der beim Klauen erwischt worden war. Sie hatte sich bewusst für ein Geschäft entschieden, das weniger teure Marken führte, aber allein die zwei Pullover entsprachen im Preis fast den Nebenkosten ihrer Wohnung für zwei Monate. Trotzdem waren es traumhafte Pullover, zart und weich; am liebsten hätte sie sich selbst einen gekauft. Aber sie lebte ja immer noch in ihrer viel zu teuren Wohnung, hatte nur eine Arbeit, die den Namen kaum verdiente. Ohne sich umzudrehen, stieg sie in die U-Bahn und fühlte immer noch die falschen Wimpern der Kaschmirverkäuferin hinter sich flattern.

Jia Jia stieg an der Station Dongdaqiao aus und marschierte zielstrebig in die Blue Island Mall. In den Läden wühlten sich buntgekleidete Menschen durch die Kleiderstapel und probierten Hautpflegeprodukte aus. In dieser Mall war es viel zu heiß, obwohl die Außentemperaturen um den Gefrierpunkt lagen. Fast alle Verkäuferinnen waren mittleren Alters. Manche standen neben einer Kassiererin und plauderten über die Kinder, während sie Blusen zuknöpften und sie wieder zu halbwegs ordentlichen, quadratischen Stapeln falteten. Jia Jia durchstreifte die verschiedenen Ebenen auf der Suche nach einem Laden für Strickwaren. Ohne recht zu wissen, warum, hatte sie beschlossen, Leos Eltern zwei zueinander passende Pullover zu schenken. Schließlich fand sie eine Marke, die ihr vielversprechend vorkam.

Die Wolle fasste sich erstaunlich weich an. Jetzt musste sie nur noch zwei Modelle finden, die zusammenpassten. Sie sichtete die Kleiderständer, ließ bewusst kein Stück unbegutachtet. Dann stieß sie auf einen delfingrauen Rollkragenpullover mit Blumenstickerei an den Schultern. Sie winkte die Verkäuferin heran.

Eine stämmige Frau mit kurzen Haaren trat zu ihr. Sie hatte einen großen, schwarzen Leberfleck im Gesicht, direkt neben der Nase, und Jia Jia zuckte zusammen, als sie sich ihr zuwandte.

»Möchten Sie den Pullover?«, fragte die Leberfleck-Frau.

»Ich hätte gern gewusst, ob es auch Herrenpullover im gleichen Farbton gibt«, antwortete Jia Jia leise, um die Frau bloß nicht zu verärgern.

Die Leberfleck-Frau bückte sich ächzend und holte einen Stapel gefalteter Pullover aus einer Schublade. Als sie sich wieder aufrichtete und den Stapel auf den Tisch knallte, verströmte sie einen starken Geruch nach mit Schweiß versetztem Tabak.

»Schauen Sie hier mal«, sagte sie.

Jia Jia verglich die Pullover mit dem, den sie in der Hand hielt. Zuunterst fand sie einen im gleichen Grauton, mit einem horizontalen schwarzen Streifen auf der Brust. Das könnte doch gehen, dachte sie.

»Was kosten diese beiden?«, fragte sie.

»Der hier …« Die Leberfleck-Frau hob den Kopf und suchte nach dem Preis des Frauenpullovers, sie musste die Augen zukneifen, um das Schildchen zu lesen. »Tausendachthundertzehn Yuan. Und der hier ist ein bisschen günstiger, wenn mich nicht alles täuscht. Schauen wir mal … Der kostet tausendsechshundertzehn.«

»Gibt es irgendwelche Rabatte? Es soll ein Geschenk sein. Sicher haben Sie um diese Jahreszeit ein paar Sonderangebote. Kann ich vielleicht einen Kundenrabatt bekommen oder so etwas?«

»Haben Sie denn eine Kundenkarte?« Die Leberfleck-Frau musterte Jia Jia missbilligend.

»Nein. Aber ich könnte einen Antrag …«

Ein weiteres Grüppchen Kunden kam herein, und die Leberfleck-Frau ließ Jia Jia stehen, um sie zu begrüßen.

»Was wollten Sie gerade sagen?«, fragte sie, als sie wiederkam.

»Ich sagte, ich könnte einen Antrag für die Kundenkarte ausfüllen.«

»Wir geben keine Kundenrabatte.« Die Leberfleck-Frau machte sich daran, die Pullover neu zu falten.

»Warum haben Sie dann gefragt, ob ich eine Karte habe? Aber egal, kann ich beide Pullover für dreitausend kaufen?«

»Hören Sie mal, junge Frau, das ist eine Mall, und wir sind ein Markenladen, hier wird nicht geschachert. Wenn Sie sich das nicht leisten können, gehen Sie doch woanders hin.« Sie nahm die grauen Pullover und stopfte sie zurück in die Schublade.

Jia Jia atmete mehrmals tief durch und bündelte alle Geduld, die sie aufbrachte.

»… und so schön angezogen wie eine Reiche«, brummelte die Frau vor sich hin. »Die Tasche ist bestimmt nicht echt. Wenn man kein Geld hat, geht man halt nicht shoppen.«

Jia Jia hätte sich gern bei der Geschäftsführung beschwert, stellte aber fest, dass sie die nötigen Worte im Mund nicht zusammenbekam. Sie konnte so etwas nicht gut, war zu sehr daran gewöhnt, mit Chen Hang unterwegs zu sein, der sofort nach dem Vorgesetzten verlangt hätte, sobald er mit einer solchen Haltung bei einer Verkäuferin konfrontiert gewesen wäre. Und Jia Jia hätte, natürlich, die Rolle der schweigenden Ehefrau gespielt.

Sie drehte sich um, flüchtete aus der Mall und fühlte sich noch elender als vorher. Ein Hund, der nicht nur erwischt, sondern auch geschlagen, getreten und in eine dunkle Ecke gedrängt worden war. Sie glaubte zu schrumpfen, ihr Rücken rundete sich, die Muskeln wurden schwächer. Sie hielt ein Taxi an.

»Zum Shin Kong Place«, sagte sie dem Fahrer. Sie musste sich retten, aus dieser Ecke ausbrechen und einen grandiosen Auftritt auf einer größeren, öffentlichen Bühne hinlegen.

An der Mall angekommen zahlte Jia Jia und sagte dem Fahrer, er solle den Rest behalten. Sie stürmte los, vorbei an den europäischen Designern, den Juwelieren, den Uhrenläden, und trat zu der jungen Frau mit den falschen Wimpern.

»Ich möchte die beiden roten Pullover, die ich vorhin ausgesucht hatte«, sagte sie, so ruhig und sicher, wie sie konnte.

Die Verkäuferin blinzelte, dann lächelte sie zuvorkommend. »Aber natürlich«, entgegnete sie. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«

»Das ist alles«, sagte Jia Jia. »Oder Moment, geben Sie mir auch noch diesen Schal.« Sie zog einen roten Schal vom Ständer und wedelte damit.

Nachdem die Frau hinter einer Tür verschwunden war, um die Artikel zu holen, konnte Jia Jia wieder atmen; sie hatte sich ein Stück ihrer Würde zurückgeholt. Die Frau packte die Waren sorgfältig ein und rechnete den Gesamtbetrag aus. Jia Jia zahlte, bummelte noch ein bisschen durch die Mall, kaufte nichts weiter und ging schließlich.

Sie setzte sich auf eine Bank, die Einkaufstüten flach auf dem Schoß. Am liebsten hätte sie losgeheult, aber ihr blieb keine Zeit mehr, vor der Verabredung mit Leo noch nach Hause zurückzukehren und ihr Make-up zu erneuern. So legte sie nur das Gesicht in die Hände und stellte sich vor, zu weinen, auf die Stadt einzubrüllen, so laut zu brüllen, bis ihr Herz sich nach außen stülpen und alle sie hören würden. Sie stellte sich vor, wie ein Neugeborenes zu schreien, das noch nichts wusste von den vielen Irrungen und Wirrungen des Lebendigseins, von all den Weggabelungen und Sackgassen. So stellte sie sich vor zu weinen, aber nur kurz, dann stand sie auf und ging zur U-Bahn-Station hinunter, um die nächste Bahn stadteinwärts zu nehmen.

 

Jia Jia würde erst die zweite Frau sein, die Leo seinen Eltern vorstellte. Das letzte Mal war vor fünf Jahren gewesen. Er hoffte, dass seine Eltern Jia Jia gutheißen würden, und vor allem, dass auch sie seine Eltern mögen würde. Trotzdem hatte er seine Worte sofort bereut, gleich nachdem er sie gefragt hatte, ob sie den Feiertag mit ihm verbringen wolle, und sich für eine Absage gewappnet. Er hätte vorsichtiger sein sollen, anstatt sie so mit dieser Frage zu überfallen. Ihre Zusage war zögerlich und verhalten gewesen, als hätte er ihr keine Wahl gelassen, als würde es an grobe Unhöflichkeit grenzen, seine Einladung abzulehnen. Soweit Leo Jia Jia bisher kennengelernt hatte, wusste er, dass sie immer die Option wählte, mit der sie andere glücklich zu machen glaubte, und nie die, mit der sie selbst glücklich wäre. Jia Jia hatte also zugesagt, und seither bemerkte Leo einen gut verborgenen, aber trotzdem unübersehbaren Anflug von Beklommenheit bei ihr. Sie schickte ihm häufig Nachrichten, wollte wissen, was seine Eltern gern aßen, was sie an Alkoholischem mochten, ob sein Vater chinesische Zigaretten rauchte oder importierte, welche Kleidergrößen sie trugen.

Am Neujahrstag fand sie sich um kurz vor vier auf dem Parkplatz vor seinem Grundstück ein. Leo war kein Automensch; ihm war klar, dass sein Wagen, ein ganz normaler schwarzer Honda Accord, nicht sonderlich eindrucksvoll war. Er hatte überlegt, sich mit Jia Jia ein Taxi zu nehmen, am Ende aber doch beschlossen, selbst zu fahren. So war er eben. Er war nicht Chen Hang. Das wollte er ihr zeigen.

Sie habe für seine Eltern rote Kaschmirpullover gekauft, erzählte sie ihm im Auto, jeweils eine Größe größer, als sie sonst trugen, weil sie, so ihr Argument, dann noch weitere Schichten darunterziehen konnten, wenn es im Winter kalt wurde. Außerdem hatte sie einen roten Schal für seine Mutter und Zigaretten der Marke Yuxi für seinen Vater besorgt.

Es war die beste Zeit des Jahres, um in Peking zu sein. Die Menschen zogen sich nach Hause zurück und saßen im Kreis um ihren Wohnzimmertisch; die Frauen richteten lange Reihen makelloser Dumplings her, die Männer unterhielten sich beim Teetrinken und Rauchen über alles, was sich im vergangenen Jahr ereignet hatte. Obwohl Leo am Neujahrsfest immer in der Stadt blieb, hatte er den Feiertag seit zwei Jahren nicht mehr bei seinen Eltern verbracht. Beschwert hatten sie sich nie – sie glaubten, dass er einfach zu viel Arbeit habe. Er stand seiner Familie sehr nahe, aber noch mehr schätzte er die friedliche Einsamkeit dieser Tage, war im Xiangshan-Park am »Duftberg« wandern gewesen, mit dem Fahrrad die Chang’an Avenue entlanggefahren und hatte sich sogar in die menschenleeren U-Bahnen gesetzt, was ohne die üblichen gehetzten Pendlerinnen und Pendler sehr viel angenehmer wurde.

Leos Vater forschte am medizinisch-naturwissenschaftlichen Institut der Universität Peking. Er war ein fortschrittlicher Wissenschaftler, der seine Tage im Labor, im Hörsaal oder mit einem Buch und einer Zigarette in der Hand zu Hause verbrachte. Die Wohnung von Leos Eltern war nicht allzu groß, aber sein Vater hatte sich das zweite Zimmer als Arbeitszimmer eingerichtet, wo er schreiben und lesen konnte. Er arbeitete an einem Buch. Das tat er schon, seit Leo denken konnte. Er legte Wert darauf, jeden Abend vor dem Zubettgehen einige Zeit mit Lesen oder Schreiben in seinem Arbeitszimmer zu verbringen. Oft fand Leos Mutter ihn dann schlafend im Sessel, ein aufgeschlagenes Buch auf den Knien, bei dem er über die ersten paar Seiten nicht hinausgekommen war.

Leo fuhr schnell durch die leeren Straßen, und sie kamen störungsfrei bei seinen Eltern an. Die beiden lebten im nordwestlichen Teil Pekings, gleich jenseits der Zweiten Ringstraße. Als seine Mutter ihnen öffnete, begriff Leo plötzlich, was er Jia Jia da aufgebürdet hatte. Seine Mutter trug eine jahrzehntealte Schürze voller Flecken, an der sie sich jetzt die Hände abwischte.

»Entschuldigung«, sagte sie, bat sie herein und tätschelte Jia Jia mit verlegenem Lächeln die Schulter. »Ich bin noch ein Weilchen in der Küche beschäftigt. Geh und unterhalte dich mit deinem Vater! Er redet seit Wochen nur noch von euch.«

»Kann ich Ihnen in der Küche helfen?«, fragte Jia Jia.

»Oh, bitte machen Sie sich keine Umstände, gehen Sie ruhig, gehen Sie mit ihm.« Die Mutter deutete zum Wohnzimmer. »Wenn ich es allein mache, geht es schneller«, schob sie noch nach und rollte mit einer Hand schon wieder den Teig aus, während sie mit der anderen in der Luft herumfuchtelte.

»Lass nur, Jia Jia«, sagte Leo. »Komm.«

»Ja, ja, kommt!«, rief der Vater tief und laut wie ein Echo aus dem Wohnzimmer.

Jia Jia überreichte Leos Vater seine Geschenke und erläuterte, was sie für ihn und seine Frau besorgt hatte. Leo sah zu, wie sein Vater nickte und sich bei ihr bedankte. Den Pullover ließ er unangetastet in der Tüte und zog nur die Zigaretten hervor, um die Packung zu begutachten.

»Ich sollte wirklich mit dem Rauchen aufhören«, sagte er. »Neulich wurden bei einem Kollegen von mir bei der jährlichen Vorsorgeuntersuchung Polypen im Darm gefunden, die musste er entfernen lassen. Wir werden allmählich alt, Sohn.« Er sah Leo an und seufzte. »Aber jetzt noch aufzuhören, nützt wahrscheinlich auch nicht mehr viel.«

Jia Jia lächelte und schüttelte ganz leicht den Kopf.

Durch die Wäsche, die vor dem Fenster trocknete, fiel die Sonne herein, und ihre Strahlen trafen Jia Jia, als sie sich auf das Sofa setzte. Wie ein altes Foto sieht sie aus, dachte Leo, zart und sanft. Auf einmal war er stolz darauf, wie rein ihre Schönheit war – die blasse Haut, das zurückhaltende Make-up. Sein Vater hatte immer getönt, ihm sei es egal, wie viel Hausarbeit eine Frau erledigen könne, sie müsse nur ein reines Herz haben.

Für Leo lag etwas besonders Anrührendes darin, wie Jia Jia mit seinem Vater umging. Irgendwie distanziert-vertraut, wie eine enge Freundin aus alten Zeiten. Sie sagte nicht viel, schien sich aber ganz wohl damit zu fühlen, sich anzuhören, wie er über die diversen Krankheiten schwadronierte, die seine Kollegen und Freunde plagten. Und manchmal, wenn Stille eintrat, trank sie einen Schluck Tee oder stellte eine Frage und ermunterte seinen Vater so zum Weiterreden.

»Letzten Monat«, sagte der Vater, »war ich an einem sonnigen Tag mit unserem Nachbarn im Park. Du weißt schon, der andere Professor, zwei Stockwerke drüber?« Er sah kurz zu Leo, dann wieder zu Jia Jia. »Er hatte einen Freund dabei«, fuhr er fort. »Ein alter Mann mit dunkler Brille und Gehstock.«

»Der arme Mann«, warf Jia Jia ein und wirkte ehrlich bestürzt.

»Außerdem hielt er eine Zeitung in der Hand«, sagte Leos Vater.

»Aber ich denke, er war blind?«, fragte Leo.

»Ich weiß bis heute nicht, ob er wirklich blind war. Ich habe es nicht über mich gebracht, zu fragen«, sagte sein Vater.

»Wir vermuten, er war so daran gewöhnt, jeden Tag Zeitung zu lesen, dass er auch nicht damit aufhören konnte, als er erblindet ist«, sagte Leos Mutter, die schwerfällig ins Wohnzimmer kam.

»Ma.« Leo stand auf und führte seine Mutter zum Sofa. »Komm, nimm die Schürze ab und setz dich ein bisschen zu uns.«

»Oh! Jia Jia, Sie haben Geschenke mitgebracht!«, rief die Mutter. »Dabei brauchen wir doch gar nichts.«

Jia Jia überreichte ihr den Pullover und den Schal. Die Mutter holte beides sofort aus der Tüte und hielt es in die Sonne.

»Der muss ja teuer gewesen sein! So weich! Dabei brauchen wir doch gar nichts. Nächstes Mal halten Sie sich nicht mit Geschenken auf, bringen Sie uns einfach unseren Sohn öfter vorbei!« Sie lachte und begutachtete den Schal noch einmal genauer.

»Ich habe den Blinden danach noch ein paar Mal im Park gesehen«, fuhr Leos Vater fort, beugte sich vor und schob seine Frau sanft beiseite, damit er Leo direkt ansehen konnte. »Er war immer in Begleitung, und jedes Mal war es jemand anders. Dann kam er plötzlich nicht mehr. Wir dachten schon, er sei krank geworden oder gar gestorben. Später haben wir dann erfahren, dass seine Kinder seine Wohnung verkauft und ihn ins Altenheim gebracht haben.«

»So herzlos!«, setzte die Mutter hinzu. »Im Alter noch das Zuhause zu verlieren …«

Und als könnte sie dieses traurige Gespräch nicht mehr ertragen, kehrte sie in die Küche zurück, die Schürze immer noch um die Taille gebunden.

 

Das Essen war einfach. In der Familie war es Tradition, auch am Festtag nichts Besonderes zu kochen. Trotzdem war es eine üppige Mahlzeit, zwei Fleisch- und zwei Gemüsegerichte und dazu eine Suppe. Meistens aßen Leos Eltern abends nur ein Gericht und aus Prinzip nie mehr als zwei, weil sie kein Essen verschwenden wollten. Der Vater mochte keine Reste; falls von diesem Essen also etwas übrig blieb, würde Leos Mutter es über die nächsten drei Tage essen, es so lange dünsten und wieder dünsten, bis sie entweder alles aufgegessen hatte oder es zu einem ungenießbaren Brei zerfallen war.

»Wohnen Sie bei Ihren Eltern?«, fragte Leos Mutter Jia Jia beim Essen.

»Ich lebe allein. Ganz in der Nähe seiner Bar.« Sie drehte rasch den Kopf und lächelte Leo zu.

»In der Gegend sind die Mieten sicher sehr hoch«, bemerkte sein Vater.

»Glücklicherweise gehört mir die Wohnung«, sagte Jia Jia.

Leos Eltern staunten. Beide ließen, wie abgesprochen, ihre Schüsseln sinken und sahen Jia Jia an, als warteten sie auf weitere Erklärungen.

»Es ist die Wohnung meines Mannes. Aber er ist nicht mehr bei mir.« Jia Jia tat es den Eltern gleich und stellte ebenfalls ihre Schüssel auf den Tisch.

»Oh«, sagte Leos Mutter knapp.

»Verstehe«, sagte sein Vater und bemühte sich hastig um die leutselige Miene, die Leo schon so oft bei ihm gesehen hatte. »Das stört uns gar nicht. Ihr jungen Leute seid nicht allein, meine Frau und ich gehören auch zur modernen Generation.«

Leos Mutter richtete den Blick wieder auf ihre Essstäbchen und setzte schweigend ihre Mahlzeit fort. Jia Jias Handy klingelte. Sie eilte aus dem Zimmer und schaltete es stumm. Als sie wieder da war, setzte Leo die Unterhaltung fort.

»Wir haben uns in meiner Bar kennengelernt«, sagte er.

»Kanntest du denn auch ihren Ex-Mann?«, fragte der Vater.

»Ja, den kannte er«, antwortete Jia Jia.

Wieder lehnten sich die Eltern, wie einstudiert, fast synchron auf ihren Stühlen zurück. Einen Moment lang blieb es still am Tisch, und der Vater zog die Brauen zusammen, als suchte er die Lösung für ein komplexes Problem.

»Muss ja ein anständiger Mann gewesen sein, wenn er so ein nettes Mädchen wie Sie gefunden hat«, sagte er schließlich mit gezwungenem Lächeln. Leos Mutter nickte.

Leo atmete tief durch. Er war erleichtert, dass seine Eltern die Nachricht von Jia Jias Ehe verdauten, und das sogar erstaunlich gut. Sie konnten ja nichts dafür, sagte er sich, es lag an der Generation vor ihnen, die an ihren feudalistischen Denkmustern festhielt. Er staunte, wie schnell seine Eltern sich offenbar damit arrangierten, wie sich ihre Prinzipien vom Konservativen, Überholten wegbewegten. Er empfand einen gewissen Stolz auf seine gebildeten Eltern und ihre Toleranz.

Nach dem Essen sagte er Jia Jia, er wolle gern bis Mitternacht bleiben.

»Waren Sie schon mal in Europa? Oder in Amerika?«, erkundigte sich Leos Vater bei Jia Jia, während er seine neuen Zigaretten in der Schublade unter dem Fernseher verstaute.

»Nach Europa bin ich recht oft mit meinem Mann gereist«, sagte Jia Jia. »Hauptsächlich nach Frankreich und Italien. Aber in Amerika war ich nur einmal. Europa gefällt mir besser – die Museen und Galerien sind so inspirierend.«

»Haben die Menschen dort denn keine Angst?«, fragte der Vater. »Vor dem Terrorismus, meine ich, all den Anschlägen, von denen man immer hört. Ich habe den Eindruck, die Europäer machen einfach mit ihrem Leben weiter.«

»Ich weiß nicht, ich glaube nicht …«

Leos Vater schrie nach seiner Frau, die wieder in die Küche gegangen war: »Hör endlich auf, ständig rumzuräumen, setz dich mal ein bisschen zu den Kindern! Und hol die Snacks, die der alte Li uns mitgebracht hat!« Dann drehte er sich wieder zu Leo und Jia Jia um. »Mein Freund hat uns ein paar Snacks aus England mitgebracht. Ich weiß noch, wie wir das erste Mal in London waren, es ist lange her, was waren wir damals naiv. Wir waren arm, wir hatten es so viel schlechter damals, ihr könnt euch glücklich schätzen. Als wir zum ersten Mal Haustierfutter in Dosen sahen, dachten wir, es wären Dosen mit Hunde- und Katzenfleisch. Es war billiger als alles andere, und wir haben es gegessen! Ach, war das scheußlich. Aber wie soll man auch darauf kommen, dass die Briten Tierfutter im Supermarkt verkaufen!« Der Vater lachte kurz auf, verschluckte sich am eigenen Speichel.

Leos Mutter, die das Essen mit Frischhaltefolie verpackt und zum Auskühlen nach draußen gestellt hatte, kam endlich wieder in den Wohnraum.

»Komm her, ich habe den beiden gerade von unserer Reise nach London damals erzählt«, sagte Leos Vater, immer noch hustend, zu seiner Frau.

»Ach ja, ja, da hatten wir es längst nicht so gut wie ihr heute.«

»Meine Mutter hat mir immer ganz ähnliche Geschichten erzählt«, sagte Jia Jia mit einem Lächeln.

Leo gegenüber hatte sie ihre Eltern noch nie erwähnt. Er musterte sie, während sie jetzt von den Reisen ihrer Mutter in den Achtzigern erzählte, nach Xi’an, nach Guizhou, nach Chengdu. Sie machte ein ernstes Gesicht dabei, ihre Augen schwammen ein wenig, wie weiße Jade. So, wie sie die Geschichten wiedergab, wirkte es, als wären die Erzählungen ihrer Mutter bruchstückhaft und unvollständig gewesen, und Jia Jia berichtete von den Erlebnissen, ohne auch nur ein einziges Mal ihren Vater zu erwähnen. Manchmal hielt sie inne, ließ den Blick durchs Zimmer schweifen, als zöge sie die Korrektheit ihrer Erinnerungen in Zweifel.

Während Jia Jia erzählte, senkte sich ein Gefühl auf Leo herab, unerbittlich wie Juni-Regen. Jetzt war er es, der in dieser Runde am Rand stand, keinen Weg mehr in das Gespräch hineinfand. Warum öffnete sie sich seinen Eltern so sehr? Warum redete sie immer weiter und weiter, kramte eine Geschichte nach der anderen hervor wie eine begeisterte Straßenkünstlerin, die Kindern Märchen erzählt? Jia Jia gab ihre Geschichten, ganz gegen ihre sonstige Art, in theatralischen Wellen aus Freude und Trauer zum Besten.

Und dann erzählte sie ihnen, dass ihr Mann vor drei Monaten gestorben war. Leo sah, wie das Lächeln seiner Eltern schwand, wie sie einen wenig subtilen, entsetzten Blick tauschten. Das Thema war aufgekommen, als Leos Mutter Jia Jia fragte, mit wem sie denn das letzte Mal nach Frankreich gereist sei, mit ihrer Mutter oder mit ihrem Mann.

»Mit meinem Mann«, antwortete Jia Jia. »Es war unsere letzte gemeinsame Reise. Letztes Jahr wollten wir noch nach Sanya, aber dann ist er gestorben.«

»Wie ist das passiert?«, fragte die Mutter fassungslos.

Jia Jia schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht genau.«

Leo behielt seine Eltern aufmerksam im Blick, versuchte, ihre Reaktion auf diese weitere unerwartete Nachricht zu deuten. Aber die beiden saßen nur schweigend da und blickten stirnrunzelnd auf die Berge britischer Snacks.

Jia Jias Handy klingelte erneut.

»Das ist meine Tante«, sagte sie zu Leo. »Wahrscheinlich will sie mir alles Gute zum neuen Jahr wünschen.«

Leos Eltern blickten vom Sofa hoch, als Jia Jia aufstand, und rangen sich ein unbehagliches Lächeln ab. Seine Mutter zupfte an ihren Ärmeln herum. Jia Jia entschuldigte sich und verließ die Wohnung.

»Sohn«, sagte Leos Vater, sobald die Tür hinter ihr zugefallen war. Er rieb sich die Knie, setzte sich aufrecht hin, holte tief Luft. »Eine Witwe bringt Unglück.«

»Da hat dein Vater recht«, sagte seine Mutter.

»Das ist doch überholtes Denken«, sagte Leo.

»Ich habe in meinem Heimatort Frauen erlebt, die zwei, sogar drei Männer geheiratet haben, und alle waren innerhalb weniger Jahre tot. Manche Frauen bringen Männern einfach Unglück«, sagte sein Vater.

»Ba, du bist Wissenschaftler!«

»Sie ist wirklich großartig, aber das …«, murmelte die Mutter und trommelte mit den Händen auf ihren Knien. »Was für ein Jahreswechsel …«

»Du bist unser einziger Sohn«, sagte der Vater. »Ist dir noch nie aufgefallen, dass manche Menschen einfach nur Schlechtes ausstrahlen? Alle ihre Freunde, ihr ganzes Umfeld erlebt Unglück. Ist dir das nie aufgefallen?«

Leo protestierte. Seine Eltern hielten dagegen. Leo wurde immer zorniger und ertappte sich dabei, wie er zum ersten Mal seit Jahren laut wurde. Vielleicht hatte er seine Eltern ja auch deshalb gemieden. Er hatte sich etwas vorgemacht. Mit was für unrealistischen Erwartungen war er heute bloß hergekommen? Seine Eltern waren in einem Alter, in dem sie starrsinnig wurden, und so fortschrittlich sie vor zehn, zwanzig Jahren auch noch gedacht haben mochten, heute waren sie sogar zu stolz und altmodisch, um ihren Kontostand per App auf dem Smartphone abzufragen, weil sie fürchteten, man könnte ihnen ihr Geld stehlen. Zu festgefahren in ihren Gewohnheiten, um die Luftfilteranlage einzuschalten, die Leo für sie gekauft hatte, rissen sie stattdessen jeden Tag die Fenster auf, um das hereinzulassen, was sie nach wie vor für »frische Luft« hielten.

Jia Jia kam zurück, und als sie, begleitet von einem Schwall Kälte, ins Zimmer trat, hörte die Familie auf zu streiten. Leo merkte, dass irgendetwas Jia Jia beschäftigte, so wie sie vermutlich die angespannte Atmosphäre am Teetisch registrierte.

»Gehen wir.« Leo griff nach seinen Sachen.

»Aber es ist doch erst zehn …«, setzte seine Mutter an.

»Nehmt ein paar von den Snacks mit«, sagte sein Vater.

Aber Leo hörte ihnen schon nicht mehr zu, er stürmte nach draußen und zog Jia Jia mit viel zu festem Griff um ihr Handgelenk hinter sich her.

 

Im Wagen fragte Leo Jia Jia, worum es bei dem Telefonat gegangen sei.

»Das ist ein bisschen kompliziert«, sagte Jia Jia.

»Was denn?«

»Ich mache mir Sorgen«, sagte sie und mied eisern seinen Blick.

»Ja, das merke ich, aber was ist passiert?«

»Ich muss bald bei meiner Tante vorbeischauen. Mach dir keine Gedanken.«

»Meine Güte!« Er umklammerte das Lenkrad fest mit beiden Händen. »Ich habe dich jetzt drei Mal gefragt, gib mir einfach eine Antwort!«

»Warum bist du denn so wütend?« Jia Jia richtete sich im Sitz auf und wandte sich ihm zu. Sie sprach jetzt lauter. »Weil ich deinen Eltern von Chen Hang erzählt habe? Soll ich mich etwa für den Tod meines Mannes schämen? Soll es mir leid tun, dass ich dein Familienfest ruiniert habe? So bin ich eben, und wenn du mit mir zusammen sein willst, musst du auch die Tatsache akzeptieren, dass ich Witwe bin.«

Er holte tief Luft. »Wir hätten es ihnen auch ein andermal sagen können.«

»Dann schämst du dich also …«

»Nein.«

»Belüg mich nicht!«

Jia Jia sah ihn böse an. Er blickte stur geradeaus, sah aber aus den Augenwinkeln, wie das Neujahrsfeuerwerk ihr Gesicht mit verschiedenen Farben sprenkelte, sodass es wirkte, als hätte sie Schuppen auf den Wangen. Ihr Haar hatte sich gelöst. Sie hielt die Augen fest auf ihn gerichtet, und Leo spürte eine Entschlossenheit, wie er sie noch nie bei ihr erlebt hatte. So hatte sie ihn noch nie angesehen; ihre Blicke waren sonst eher flüchtig. Manchmal gab sie sich verspielt oder sinnlich, manchmal war sie distanziert und scheu. Aber hier, im Auto, als sie ihn jetzt anschaute, hatte sie sich etwas in den Kopf gesetzt.

Zum ersten Mal hatte sie ihm gesagt, was sie von ihm wollte. Belüg mich nicht.

Aber die Wahrheit, die sie verlangte, konnte er ihr nicht bieten. Er überlegte, ob er sich wirklich dafür geschämt hatte, eine Frau mit nach Hause zu bringen, von der er im tiefsten Innern wusste, dass seine Eltern sie nicht gutheißen würden. Während er an all den hell erleuchteten Wohnungen und den dunklen Büros vorbeifuhr und sie neben ihm saß, dachte er daran, wie sehr er sich wünschte, ihre Schutzschilde aufzubrechen, mehr über ihre Unsicherheiten zu erfahren. Diese Frau, über deren Vergangenheit er praktisch nichts wusste.

»Diese Geschichten über deine Mutter hast du mir nie erzählt«, sagte er.

»Was bringt es denn, von denen zu erzählen, die nicht mehr da sind?«

»Ich möchte dich einfach besser verstehen, Jia Jia, wissen, wie du empfindest. Ich weiß gar nicht, wer du bist.« Seine Stimme füllte den ganzen Wagen, hallte ihm in den Ohren. »Du zeigst mir nicht, wer du bist.«

Sie drehte sich um und sah aus dem Fenster, zum Feuerwerk, und einen Moment lang war dessen gedämpftes Knallen der einzige Laut.

»Wie kann man jemanden wirklich kennen?«, sagte sie schließlich. »Selbst wenn ich mein Herz herausnehmen, es in seine Einzelteile zerlegen und dir jeden einzelnen Teil ausführlich und detailliert erklären würde – anschließend müsste ich mir das verdammte Ding doch nur wieder in die eigene Brust stopfen.«

Den Rest der Fahrt über schwiegen sie. Einmal, kurz vor Dongzhimen, musste Leo scharf bremsen, weil ein Kind über die Straße rannte. Er setzte Jia Jia vor ihrem Wohnhaus ab. Bevor sie aus dem Auto stieg, lächelte sie ihn an. Es war ein bedauerndes, zärtliches und trauriges Lächeln.

Sie zog den Mantel fest um sich, ging auf das Haus zu und drehte sich nicht mehr um.