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Bei dem Telefonat draußen vor der Wohnung von Leos Eltern hatte Jia Jias Tante ihr erzählt, dass Li Chang wegen Bestechung verhaftet worden war. Er hatte einem Regierungsbeamten eine Geldsumme sowie eine Kalligraphie zukommen lassen und im Gegenzug geschäftliche Vorteile erhalten. Gegen den Beamten liefen Ermittlungen, und Li Chang war, zusammen mit zahlreichen weiteren Geschäftsleuten, festgenommen worden.

In den folgenden Wochen verlor Jia Jias Tante ihre Fröhlichkeit und fing an, sich vor praktisch allem zu fürchten. Sie verbrachte viele Nächte bei Jia Jia. Sie traf sich mit allen, die irgendeine Verbindung zur Disziplinarkommission unterhielten, aber die meisten hatten keine brauchbaren Informationen, und die übrigen speisten sie nur mit Floskeln ab.

Schließlich beschloss die Tante, sich mit einem Floristikkurs abzulenken. Sie war sehr dünn geworden, die Haut unten am Nacken schlackerte über der Goldkette, die sie immer trug. Sie war ständig müde. Jia Jia drängte sie, einen Arzt aufzusuchen; sie willigte ein, fand dann aber immer neue Vorwände, den Termin wieder zu verschieben. Entweder schlief sie den ganzen Tag, oder sie schlief überhaupt nicht. Außerdem fing sie mit dem Rauchen an, und ihre Streitereien mit Jia Jias Großmutter häuften sich.

Der März ging in den April über, und Jia Jia hatte Leo noch nicht wiedergesehen. Sie war nicht mehr in seine Bar gegangen, und er hatte auch keinen Kontakt zu ihr gesucht. Stattdessen konzentrierte sich Jia Jia ganz darauf, ihren Auftrag abzuschließen. (Sei vorsichtig im Kontakt mit Frau Wan und erzähl bloß nicht zu viel von Li Chang, hatte ihre Tante ihr eingeschärft.) Ursprünglich hatte sie nur den mittleren Teil der Wand bemalen und auf jeder Seite einen breiten Streifen weiß lassen sollen, aber dann war Frau Wan von ihrer Arbeit so gefesselt, dass sie den Auftrag auf die Ränder erweiterte. Sie war bereit, Jia Jia dafür zehntausend Yuan extra zu zahlen.

»Lassen Sie sich Zeit«, sagte Frau Wan zu ihr. »Langsames Arbeiten zeitigt die besten Ergebnisse.«

»Sie sind in letzter Zeit viel zu Hause – gehen die Geschäfte nicht gut?«, fragte Jia Jia, während sie auf dem weißen Teil der Wand skizzierte und den blauen Teich nach außen hin erweiterte.

»Mir reicht’s. Ich habe beschlossen, eine Pause zu machen.« Frau Wan nahm die Lesebrille ab und legte die ›Selbstbetrachtungen‹ von Marc Aurel, in denen sie las, vor sich auf den Tisch. »Es ist hoffnungslos mit der Filmbranche«, sagte sie.

»Ich habe auch schon lange keinen richtig guten Film mehr gesehen«, bestätigte Jia Jia.

Frau Wan richtete die Fernbedienung auf den Fernseher. »Schauen Sie sich mal die beiden Männer in diesem neuen Spielfilm an. Sie sehen genau gleich aus! Die gleiche Frisur, die gleiche Gesichtsform, der gleiche Körperbau. Wie soll das Publikum da noch wissen, wer wer ist?«

Jia Jia richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Bildschirm. Ein weiteres Filmdrama über die Kämpfe zwischen der Roten Armee und den Nationalisten. Die Hauptfigur, ein Spion der Roten Armee, war ein großer Mann mit dunklen Brauen. Er sah tatsächlich fast genauso aus wie der Anführer der Nationalistenarmee. Jia Jia malte sich Actionszenen aus, in denen der Mann gegen seinen eigenen Schatten kämpfte.

»Es ist viel Geld im Umlauf«, sagte Frau Wan betrübt. »Und die Regierung unterstützt kulturelle Aktivitäten, was alle unglaublich toll finden. Aber ich bin es so leid, schlechte Filme zu machen. Trinken Sie etwas mit mir?«

Frau Wan griff in den Schrank, zog eine halbleere Flasche Portwein hervor und schenkte zwei Gläser ein. Jia Jia behielt sie aufmerksam im Blick, sah, wie sie die Flasche umfasste, wie ihre Handgelenke zitterten, als sie eingoss, wie sich ihr großer Kopf zur Seite neigte.

»In diesem Land werden die Ungebildeten immer reicher und reicher«, sagte sie und kam langsam mit dem Glas auf Jia Jia zu. »Gute Filme bringen kein großes Geld mehr ein.«

Sie reichte Jia Jia das Glas, wankte zurück zum Sofa, setzte die Brille auf und vertiefte sich wieder in ihre Lektüre.

 

An diesem Tag blieb Jia Jia lange. Frau Wan brachte die Kinder ins Bett, rief ihren Fahrer an und ließ sich, es war schon fast Mitternacht, in den Jazzclub ihres Mannes fahren. Jia Jia malte schweigend weiter, beim Schein einer einzigen Lampe.

Um kurz nach zwei wurde sie müde und machte eine Pause. Sie hatte den Portwein nicht angerührt, aber jetzt griff sie nach dem Glas und trat einen Schritt von der Wand weg. Wundersam war es geworden, dieses gewaltige Projekt. In der Mitte saß der uralte Buddha Shakyamuni auf einer Lotusblüte, er hielt eine Bettelschale in der Linken und rief mit der Rechten die Erde als Zeugin an. Der Rest der Arbeit zeigte die wichtigsten Stationen aus dem Leben des Buddha. Jia Jia hatte sie komplex und detailreich gemalt, hauptsächlich in Gold- und Orangetönen, hier und da auch mit einem Tupfer Smaragdgrün oder Kobaltblau für Kleidung und Wasserflächen.

Während sie das Bild im schummrig-gelben Licht betrachtete, gerieten die Wellen des blauen Teichs in Bewegung, und das Wasser floss heraus und bedeckte die ganze Wand. Die Dämonen, die Götter und schließlich auch der uralte Buddha selbst versanken darin, bis Jia Jia schließlich nichts mehr vor sich hatte als einen einzelnen Fisch, silbern wie eine Münze.

Sie hatte keinen Zweifel, dass es sich um dasselbe Wesen handeln musste, das sie schon einmal gesehen hatte, nur wirkte es jetzt größer und robuster. Es schwamm im Kreis, als würde es durchgeschüttelt. Das Wasser, tief wie eh und je, brodelte und drohte alles zu versenken, was ihm in den Weg kam. Instinktiv wich Jia Jia einen Schritt zurück, hielt dann aber inne, weil der Fisch sich zu ihr umgedreht hatte und ihr bedeutete, ins Wasser zu kommen.

Es war kalt geworden.

Jia Jia streckte vorsichtig die Hand aus und strich über die Schwanzflosse des Wesens. Erschrocken schüttelte es ihre Hand ab und schwamm weiter. Die Schuppen auf seinem Körper waren in großen Rauten angeordnet, glitzernd und makellos. Jia Jia versuchte, Ähnlichkeiten zwischen dem Fisch, den sie vor sich hatte, und dem Fischmann aus Chen Hangs Zeichnung auszumachen, aber es gab keine. Sie waren ganz unterschiedlich geformt.

Noch immer zögernd ließ Jia Jia ihr Weinglas fallen, trat vorwärts, hinein in das, was einmal ihr Wandgemälde gewesen und jetzt nur noch Wasser war, und versuchte erneut, den Fisch zu berühren. Diesmal näherte er sich mit dem Kopf Jia Jias ausgestreckten Fingern und verharrte einen Augenblick dort. Jia Jia tauchte ins Wasser und schwamm auf die Dunkelheit zu; der Fisch folgte ihr. Je tiefer sie kam, desto mehr fiel ihr auf, dass er schwach schimmerte, die einzige Lichtquelle in diesem Abgrund.

Auch diesmal verlor sie aus dem Blick, aus welcher Richtung sie gekommen war. Und es gab keinen Hinweis darauf, dass sie vorankam; vielleicht trat sie ja nur auf der Stelle, strampelnd, den Fisch immer neben sich. Sie drehte sich um, versuchte, sich in die Gegenrichtung zu wenden, aber sie war sich nicht mehr sicher. Das silbrige Licht, das von dem Fisch ausging, wurde schwächer und verlosch, und Jia Jia war allein. Würde sie jetzt ertrinken? Würde sie hier bleiben und warten müssen, bis sie verhungert war? Und was war mit dem Portwein? Der hatte sicher einen Fleck auf dem Teppich hinterlassen. Hatte die Wohnung überhaupt Teppichboden? Sie konnte sich nicht erinnern.

Sie schloss die Augen, bewegte sich nicht mehr.

Die Zeit verstrich, dann hörte sie ein Geräusch. Sie saß jetzt an die Wand gelehnt. Die feste Fläche war wie Eis an ihrem Rücken. Tränen liefen ihr übers Gesicht, wärmten ihr die Haut. Den Portwein hatte sie auf dem Marmorfußboden vergossen.

Da klickte das Türschloss, und Frau Wan kam mit ihrem Mann herein.

 

Frau Wan war in Sorge gewesen, als sie Jia Jia in dieser Nacht hatte weinen sehen. Jia Jia versicherte ihr, sie sei einfach nur tief vom Leben des Buddha bewegt gewesen.

»Darin zeigt sich die wahre Kraft der Religion«, bemerkte Frau Wan voller Mitgefühl.

Am nächsten Tag ließ Jia Jia ihren Makler wissen, sie wolle so bald wie möglich aus der Wohnung ausziehen. Sie empfand es als befreiend, nicht dort bleiben zu müssen, um den Fisch und das Wasser wiederzusehen. Da es seit Dezember keine weiteren Kaufinteressenten gegeben hatte, teilte sie ihm mit, sie habe auch nichts dagegen, die Wohnung unter dem gängigen Marktpreis zu vermieten, falls das einfacher sei. Nach Aussage des Maklers war es sogar von Vorteil, wenn Jia Jia die Wohnung ausräumen und ausziehen würde, bevor er sie potentiellen Mietern oder Käufern zeigte.

»Viele Klienten haben es lieber, wenn eine Wohnung neu und unbewohnt wirkt«, erklärte er ihr.

Die Tante half ihr beim Packen. Jia Jia hatte sich überlegt, sie könnte vorübergehend bei ihrer Großmutter und ihrer Tante wohnen, solange Li Chang nicht da war. Sie war so eisern zum Umziehen entschlossen, dass ihre Tante keine Einwände erhob; vielleicht machte sie sich auch allmählich Sorgen, ihre alte Mutter so oft allein zu lassen. Das Thema Li Chang mied die Tante inzwischen vollständig, wenn sie bei ihrer Nichte war. Sie wartete immer, bis sie glaubte, Jia Jia sei eingeschlafen, um dann stundenlang im Flüsterton mit Freunden zu telefonieren. Jia Jia fragte nie nach; ohne Chen Hangs Beziehungen konnte sie sowieso nicht helfen. Tatsächlich hatte sie sogar schon selbst um die Sicherheit ihres Mannes gefürchtet, als die Regierung vor einigen Jahren mit ihren Antikorruptionsmaßnahmen begonnen hatte. Einmal hatten Chen Hang und sie gemeinsam die Morgennachrichten geschaut, und Jia Jia hatte beiläufig Mitleid mit den korrupten Geschäftsleuten und ihren Familien geäußert, die nun gezwungen waren, mitsamt ihrem Geld das Land zu verlassen.

»Da brauchst du dir gar keine Sorgen zu machen«, hatte Chen Hang ihr versichert. »So blöd wie diese Leute bin ich nicht.«

Trotzdem wusste sie noch gut, dass Chen Hang nicht selten Kisten mit teurem Wein oder wildem Ginseng im Kofferraum seines Wagens transportiert hatte. Beim letzten Neujahrsfest hatte er ein dickes Bündel druckfrischer Hundert-Yuan-Scheine aus einem Umschlag gezogen und es ihr mit der Bemerkung überreicht, das sei ein traditionelles Geldgeschenk von einem Freund, wie man es sich zum Neujahrsfest oft mache. Sie hatte damit bei einer Auktion eine Skulptur aus dunkelgrünem Marmor ersteigert, eine kubistisch anmutende Frauenfigur: lang und dünn, die Hüfte leicht nach links verschoben. An dem Abend, als sie damit nach Hause kam, kehrte Chen Hang erst in den frühen Morgenstunden zurück. Jia Jia hatte drei Espressi getrunken und war bis nach Mitternacht aufgeblieben, dann hatte sie eine dünne Schicht Make-up auf ihr Gesicht und das drachenförmige Muttermal aufgetragen, sich in ihrem schwarzen Seidenkleid aufs Sofa gesetzt, gleich neben das neu erworbene Kunstwerk, und auf ihren Mann gewartet. Als er schließlich kam, war sie längst eingeschlafen.

Beim Packen betrachtete Jia Jia die Skulptur, die verlassen in einer Zimmerecke stand, und versuchte, sich darüber klar zu werden, ob es ihre war. Sie wollte nichts mitnehmen, was Chen Hang gehört hatte, räumte aber trotzdem alles zusammen und lagerte es in Kisten ein. Sie holte die halb geleerten Cognacflaschen aus dem Schrank, trank etwas davon und schüttete dann den Rest weg, sah die braune Flüssigkeit im Abfluss der Spüle versickern. Sie zog das Bett ab und dachte sich, dass sie nie etwas Trostloseres gesehen hatte als eine nackte Matratze. Sie konnte sich kaum noch erinnern, wie es gewesen war, neben Chen Hang in diesem Bett zu schlafen. Vom zweiten Jahr ihrer Ehe an war sie oft allein ins Bett gegangen, ihr Mann kam spät und angetrunken heim und schlief noch im Mantel auf dem Sofa ein. Manchmal war er auch erst am nächsten Morgen aufgetaucht und hatte nur rasch geduscht und sich umgezogen, bevor er sich wieder auf den Weg ins Büro machte. Nach der Sache mit der Skulptur hatte Jia Jia es ganz aufgegeben, auf seine Rückkehr zu warten. Sie warf einen letzten Blick auf das Stück, das zu einem hohen Preis ersteigert worden war, nur um dann in einer verlassenen Wohnung zu enden, ohne jeden sentimentalen Wert, weit weg von seinem Schöpfer. Vielleicht hatte es ja einen besseren Besitzer verdient, dachte sie, dann zog sie die letzte Kiste auf den Flur hinaus und schloss die Wohnungstür hinter sich.

Ihre eigenen Arbeiten und Kleider nahm sie alle mit und ließ sich mit einem Transporter in die Wohnung ihrer Großmutter fahren. Chen Hang war seit einem halben Jahr tot, ihre Ehe in Kisten verpackt. Vom Fenster des Wagens aus erschienen ihr die Straßen zugleich vertraut und unergründlich. Sie sah an den Gebäuden hoch, und es war, als wäre diese Stadt, die sie so gut kannte, neu geformt, neu gestaltet worden. Benzindämpfe wehten zu ihr hin, der qualmige Körpergeruch des Fahrers. Eine Zeit lang betrachtete sie das Amulett mit dem Bernsteinstück, das am Rückspiegel schaukelte, in unstetem Rhythmus und in alle Richtungen. Nachdem sie sich durch den städtischen Nachmittagsverkehr geschlängelt hatten und schließlich auf die Dritte Ringstraße einbogen, zog Jia Jia ihr Telefon hervor und wählte die Nummer ihres Vaters.