Als der Miettransporter vor dem Wohnhaus der Großmutter hielt, saß Jia Jias Freundin Qing im Schneidersitz auf der Treppe und wartete, eine noch nicht brennende Zigarette zwischen den Lippen. Sie drehte ihre Zigaretten immer selbst, eine europäische Angewohnheit, die sie auf der Kunsthochschule perfektioniert hatte.
Jia Jia hatte nur noch zu wenigen Freunden aus dieser Zeit Kontakt, und eine davon war Qing. Von ihren drei Mitbewohnerinnen aus dem ersten Studienjahr war Jia Jia mit Qing am engsten gewesen. Jenseits der Leidenschaft für die Kunst hatten sie nicht viel gemeinsam, aber damals genügte ihnen dieser eine Berührungspunkt, um jeden Tag miteinander zu verbringen und schweigend zu malen, bis die Sonne unter- und wieder aufgegangen war.
Qing hatte kurze dunkelbraune Haare, die immer nach Schilf rochen. Sie behauptete, sie trage schon ihr Leben lang dieselbe Frisur, obwohl ihre Haare in jüngeren Jahren schwarz gewesen seien, und der Geruch stamme von dem japanischen Tatami-Bett, das ihre Mutter ihr ins Zimmer gestellt hatte, als sie noch klein war. Jia Jia bewunderte Qing für deren Fähigkeit, sich selbst treu zu bleiben, nur eine einzige Identität zu haben. Qings Kleiderschrank war randvoll mit schwarzen Jeans und olivgrünen T-Shirts, etwas anderes trug sie nicht, außer im Winter, wenn sie eine schwarze, gefütterte Jeansjacke darüber zog.
Als Qing Jia Jia sah, schob sie sich die Zigarette hinters Ohr.
»Umzugsunternehmen Qing, stets zu Diensten!« Sie hob die rechte Hand, legte ihr neongrünes Feuerzeug an die Schläfe und salutierte vor Jia Jia.
Sie lachten beide und machten sich dann daran, die Kisten nach oben in den zweiten Stock zu tragen. Zwischendurch streckte Jia Jias Großmutter immer wieder den Kopf aus dem Küchenfenster und fragte sie, ob sie eine Birne wollten.
Als sie alles aus dem Transporter geladen hatten, war es bereits dunkel, und Jia Jias Großmutter war in einen tiefen Schlummer gesunken, der bis vier Uhr früh dauern würde – um diese Zeit setzte sie immer einen Topf Congee für das Frühstück auf den Herd. Auf dem Nachttisch stand der Teller mit den Birnen und wartete auf Jia Jia und Qing.
Jia Jias altes Kinderzimmer war zum Gästezimmer umfunktioniert worden. Es ging als einziges Zimmer nach Norden und auf die Hauptstraße hinaus, sodass es dort lauter war als im Rest der Wohnung, der zum Hof blickte. Die weißen Wände vergilbten bereits, die Vorhänge ebenso. Zwischen den aufgestapelten Kisten fand man kaum noch Platz zum Stehen.
»Da hast du viel auszupacken, Jia Jia«, bemerkte Qing, schob sich einen Birnenhalbmond in den Mund und ließ sich auf das schmale Bett fallen. Es war bereits für Jia Jia gemacht: Die Bettdecke war lindgrün und passte nicht zum lila gestreiften Kissenbezug.
»Und wegen dem, was du mich neulich gefragt hast«, fuhr Qing fort. »Ich habe eine Rückmeldung von einer Galerie bekommen, wo sie gern mit dir reden würden. Vielleicht kannst du da ja eine kleine Ausstellung organisieren oder so was.«
Jia Jia setzte sich neben Qing.
»Ich habe heute meinen Vater angerufen«, sagte sie.
Qing richtete sich auf.
»Ich habe ihn von unterwegs angerufen«, fuhr Jia Jia fort. »Er hat vorgeschlagen, dass wir uns zum Abendessen treffen. Wie heißt denn die Galerie?«
»Aber du rufst deinen Vater doch nie an.« Qing zog eine Visitenkarte aus der Gesäßtasche und gab sie ihr. »Hier. Sie meinten, nächste Woche kannst du jederzeit anrufen.«
»Danke, Qing.« Jia Jia musterte die Karte. Sie hatte noch nie von der Galerie gehört. »Und, bist du noch mit diesem Gitarristen zusammen?«, fragte sie dann.
»Was ist das denn hier?« Qing hatte angefangen, ein paar Leinwände aus einer Kiste zu ziehen.
»Missglückte Kunstwerke. Also, bist du noch mit ihm zusammen? Diesem großen Typen mit der lila Gitarre?«
»Ich bin einunddreißig. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich mir ein paar Gedanken um meine Zukunft machen und mir jemand Zuverlässigeren suchen muss.« Sie hielt eines von Jia Jias Bildern hoch. »Seit dem Studium hast du nicht mehr so oft das Gleiche gemalt. Ein Fisch … ohne Kopf?«
»Da soll ein Männerkopf hin.« Jia Jia deutete auf das leere Oval auf der Leinwand. »Chen Hang war ziemlich zuverlässig.«
Der Mond schien herein, enthüllte die dünne Staubschicht, die alles bedeckte: den Fernseher, die Buchreihen in den Regalen, die Tuschezeichnung eines Mandschurenkranichs in der Zimmerecke, die Laterne am Fenstergriff. Jia Jia kannte diese Laterne – eines der vielen Dinge, die ihrer Mutter gehört hatten, und eines der wenigen, die es noch gab. Jia Jias Mutter hatte sie einem Kunsthandwerker in Chongqing abgekauft. Sie füllte jeden Gegenstand, den sie von ihren Reisen nach Hause brachte, mit Geschichten, ließ die kleine Jia Jia raten, woher die Dinge wohl kamen und wohin sie weiterreisen würden.
Wohin sie auch kommen, es ist sicher ein besserer Ort, hatte ihre Mutter einmal gesagt.
Jia Jia strich mit dem Zeigefinger über den Rand der Laterne. Wohin sie dann wohl gekommen waren? Wo war der Keramikkrug aus Jingdezhen? Die Flöte aus Yuping? Der Bronzedrachen aus Xi’an? Das Qipao-Kleid aus Schanghai? Der Ballen bestickten Stoffs aus Suzhou?
Verschwanden die Dinge nacheinander oder alle auf einmal? Das fragte sie sich. Die Vergangenheit schien nur noch aus dem zu bestehen, was blieb.
»All die Jahre, und mein Vater hat die neue Frau nie geheiratet«, fuhr Jia Jia fort. »Warum nicht, was glaubst du?«
Qing zuckte die Achseln. »Vielleicht wollte er einfach nicht noch eine Familie. Ich muss eine rauchen.«
»Aber nicht hier in der Wohnung meiner Großmutter.« Jia Jia boxte Qing sanft auf den Arm.
Vielleicht hatte Qing ja recht, überlegte sie, vielleicht hat er nie eine neue Familie gewollt. Jetzt, wo sie selbst keine Familie mehr hatte, konnte sie ihn etwas besser verstehen, seinen Unwillen, eine neue Familie zu gründen, sich so völlig auf etwas Neues einzulassen. Von dem Tag an, als er verkündet hatte, er habe sich neu verliebt, bis zu dem Moment, als er mit all seinen Habseligkeiten im Auto davonfuhr, war es immer Jia Jias Mutter gewesen, die ihn mit aller Gewalt aus dem Haus treiben wollte. Als Jia Jia noch ein Kind und Moral eine klarer umrissene Größe war, hatte sie sich entschlossen und mit beiden Beinen an die Seite ihrer Mutter gestellt und ihr allein – dem einzigen Opfer aus ihrer Sicht – alle Liebe geschenkt, die ihr kleiner, zierlicher Körper nur aufbringen konnte. Verdrängt, vergessen hatte sie die Nachmittage, an denen sie vom Fenster der Wohnung aus ihren Vater gesehen hatte, der unten auf und ab ging, manchmal auch an die Tür klopfte. Vergessen, dass sie ihm nie geöffnet, dass auch sie ihn verlassen hatte.
Qing stand auf und griff nach ihrer Tasche.
»Willst du nicht noch was essen, bevor du gehst?«, fragte Jia Jia.
»Bin auf Diät!«
Qing zog die Zigarette hinterm Ohr hervor, warf sich die Tasche über die Schulter und winkte mit der Hand, in der sie das Feuerzeug hielt. Vom Fenster aus sah Jia Jia zu, wie Qing aus dem Haus trat und sich auf ihr Moped schwang. Sie rief ihr ein »Danke« hinterher, als Qing bereits um die Ecke bog, die Zigarette im Mund.
Eine Woche nach dem Umzug saß Jia Jia an einem kleinen runden Tisch mit vier Stühlen im ruhigen Eck eines Restaurants mit Spezialitäten aus Schanghai. Eine Kellnerin im schwarzen Rock reichte ihr eine Speisekarte, die dick war wie ein Roman.
Sie war eine halbe Stunde zu früh und froh, zum ersten Mal seit ihrem Einzug aus der Wohnung ihrer Großmutter herauszukommen. Frau Wan hatte sie erzählt, sie sei an einem fiebrigen Infekt erkrankt und könne den letzten Teil des Wandgemäldes erst fertigstellen, wenn es ihr wieder besser gehe. Stattdessen hatte sie in ihrem Zimmer gehockt und sich vergeblich mit den Fischmannbildern abgemüht. Das Zimmer war zu klein, zu einengend. So hatte sie es nicht in Erinnerung gehabt. Tagtäglich kam sie sich vor, als säße sie in einem Wassertank und müsste ersticken. Ihre Tante war kaum zu Hause, aber spät in der Nacht hörte Jia Jia, wie sie im Flüsterton mit der Großmutter über Li Chang stritt.
Jia Jia betrachtete die professionell abgelichteten Essensfotos in der Speisekarte. Sie beschloss, das Gespräch mit ihrem Vater mit einem Lob auf die Papierqualität der Karte zu eröffnen – die Seiten fühlten sich an wie aus gewachster Pappe. Das erschien ihr ein guter Weg, seine Restaurantwahl zu würdigen. Sie hatte ihren Vater aus dem Transporter angerufen, um ihm zu erzählen, dass sie umzog. Inzwischen war ihr klar geworden, dass es langfristig keine Lösung war, bei ihrer Großmutter und ihrer Tante zu wohnen. Im Lauf der Jahre hatten die beiden ihre eigene Art des Zusammenlebens ohne sie entwickelt, und Jia Jia hatte sich in den vergangenen Tagen überall fehl am Platz gefühlt, außer in ihrem winzigen Zimmer.
In der Nacht zuvor hatte sie wenig geschlafen, konnte sich nicht entscheiden, wie viel sie ihrem Vater erzählen sollte, haderte mit dem Entschluss, zu ihrer Großmutter gezogen zu sein. Sie malte sich aus, wie eng es werden würde, wenn Li Chang wieder da war. Sollte sie ihren Vater fragen, ob sie zu ihm ziehen könnte? Er hatte eine geräumige Dreizimmerwohnung für sich allein. Außerdem wurde er nicht jünger, er wäre sicher froh, eine Tochter um sich zu haben, die sich um ihn kümmerte, ihm Gesellschaft leistete, ihm abends einen Tee aufbrühte und mit ihm plauderte. Sie war fest entschlossen, sich diesmal nicht über seine unbeschwerte Art aufzuregen. Immerhin, sagte sie sich, hätte sie mehr Platz für ihre künstlerische Arbeit, wenn sie bei ihm wohnte.
Sie klappte die Speisekarte zu, trank von dem Drachenbrunnentee, den man ihr hingestellt hatte, und wartete auf ihren Vater. Am Nebentisch saß ein altes, grauhaariges Paar.
»Ich habe mir gestern Abend an irgendetwas Spitzem den Arm gestoßen«, sagte die Dame. Sie sah aus wie eine ältere Ausgabe von Frau Wan – schwerer Kopf, knochiger Körper. Sogar die Bobfrisur war identisch.
»Wo denn?«, fragte der alte Mann.
»Im Bad.«
»Und ist es jetzt wieder gut?«
»Ich habe ein Pflaster draufgeklebt.«
Die Kellnerin brachte eine Platte mit geschmortem Schweinebauch und stellte sie sorgsam zwischen die beiden. Die alte Frau hob ein Stück mit ihren Stäbchen an und ließ es ebenso sorgsam auf den Reis fallen, den der alte Mann vor sich hatte. Dann nahm sie ein weiteres Stück und schob es sich direkt in den Mund. Beide kauten.
»Schmeckt gut«, sagte sie, während sie mit offenem Mund angestrengt kaute und dabei die wenigen Zähne zeigte, die sie noch hatte.
Der alte Mann nickte.
»Das Mittagessen gestern war auch gut«, sagte sie.
»Es war gut, die Kinder zu sehen«, sagte er.
»Sehr gut, sehr gut«, sagte sie.
Dann hörten sie auf zu reden und aßen weiter. Ihre Augen blickten ruhig, gefasst, ohne den leisesten Anflug von Sorge. Manchmal sahen sie einander an, die meiste Zeit schauten sie aber nur auf ihr Essen. Sie lächelten selten, aber hinter den Falten auf ihrer Haut erkannte Jia Jia alles, was sie nicht hatte. Sie betrachtete die beiden, als wären sie die Abschlussszene eines Films, ein gelebtes Happyend, weit weg von ihrer eigenen Realität. Ein überwältigendes Gefühl von Niedergeschlagenheit stieg in ihr auf. Mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen lauschte sie ihrem Schweigen und wünschte sich sehnlichst, es wäre ihr eigenes.
Das Telefon klingelte laut in ihrer Tasche.
»Frau Wu, ich habe einen Käufer für Sie!« Ihr Makler klang wie ein Fußballkommentator aus dem Fernsehen, voll professioneller Begeisterung. Er brachte mehrere Minuten damit zu, ihr auseinanderzusetzen, wer die potentiellen Käufer waren: eine vierköpfige Familie, ein reizendes Paar mit zwei Kindern, das mit der Arbeit für amerikanische Unternehmen ein hohes Einkommen erzielte. Es klang, als wollte er ihr die Familie schmackhaft machen. Dann, nachdem er mit seiner Vorrede offenbar zufrieden war, nannte er Jia Jia den Preis.
»Das ist zu wenig. Viel zu wenig«, sagte sie.
»Der Markt ist nicht besonders.«
»Das ist unverantwortlich!«
»Frau Wu …«
»Es muss mehr sein. Zu dem Preis haben Sie Anfang des Jahres eine Einzimmerwohnung verkauft! Ein Zimmer! Meine hat vier.«
»Ich verstehe ja …«
»Nein, offensichtlich nicht. Ich brauche mehr Geld.«
»Frau Wu, Ihre Wohnung ist sehr viel schwerer zu verkaufen. Ich tue doch schon mein Bestes!«
»Gar nichts tun Sie«, sagte sie.
An der Tür des Restaurants sah sie ihren Vater, der mit der Empfangschefin sprach. Er blickte in den Raum, nickte und sah sich nach ihr um. Die Empfangschefin deutete in Jia Jias Richtung, und der Vater folgte ihrem Arm mit dem Blick.
»Es ist sehr viel schwieriger, das müssen Sie begreifen«, fuhr der Makler fort. »Wegen Ihrem Mann.«
Jia Jia konzentrierte sich wieder voll auf ihn. »Wie bitte?«
»Das ist nicht gut. Es missfällt den Käufern«, sagte er.
Jetzt kam ihr Vater an den Tisch. Er sah alt aus. Sie hatte ihn seit Chen Hangs Trauerfeier nicht mehr gesehen, und auch da hatte sie kaum Gelegenheit gehabt, ihn ausführlich zu mustern.
»Ihr Mann hat sich in der Wohnung umgebracht. Da ist es schwierig, einen normalen Preis zu verlangen«, sagte der Makler.
»Er hat sich nicht umgebracht«, sagte Jia Jia. »Sagen Sie mir, warum hätte er sich denn umbringen sollen?«
»Woher soll ich das wissen, Frau Wu?«
»Er hat sich nicht umgebracht«, wiederholte sie und legte auf.
Ihr Vater setzte sich ihr gegenüber und strahlte sie an. Seine Brauen waren grau, lang und standen nach oben ab wie Libellenflügel.
»Ich dachte, du bist in Europa!«, sagte er.
Immer noch wütend über den Makler blaffte Jia Jia ihren Vater an: »Das war vor dem Tod deines Schwiegersohns!«
Der alte Mann am Nebentisch sah missbilligend zu ihr herüber. Seine Frau ermahnte ihn mit einem Blick, sich nicht einzumischen.
»Ach, ist das wirklich schon so lange her?« Jia Jias Vater lachte. »Als du angerufen hast, dachte ich schon, es ist etwas passiert. Hat alles gut geklappt? Du meintest, du bist zu deiner Großmutter gezogen.«
»Ja, klar, alles kein Problem.« Sie reichte ihm die Speisekarte. »Gut ist das.«
»Ja! Warst du schon mal hier? Die Rippchen sind köstlich. Und das Gemüse …«
»Ich meinte die Speisekarte. Die Seiten.«
»Wie bitte?«
»Die Papierqualität ist sehr gut.« Jia Jia zeigte auf die Speisekarte und wartete auf seine Reaktion. Er blätterte eine Seite zwei Mal um und wieder zurück, betrachtete kurz den Rand und verlor dann das Interesse.
»Ich bestelle schon mal ein paar Vorspeisen«, sagte er. »Xiao Fang steckt noch im Stau.«
»Diese Frau kommt auch?«
»Sag doch nicht immer ›diese Frau‹, das klingt furchtbar. Früher hast du Tante Fang Fang gesagt. Sie möchte dich doch nur sehen.« Er winkte die Kellnerin heran und bestellte Schweinsohren, eingelegte Teigbällchen und Gurkensalat.
Jia Jia wartete, bis die Kellnerin sich wieder entfernt hatte, dann sprach sie ruhiger weiter, bemüht, ihr schreckliches Verhalten von vorhin wettzumachen. »Du bist gealtert. Sorgt sie auch gut für dich?«
»Sie hat mir einen Akupunktur-Arzt besorgt. Meiner Schulter geht es jetzt viel besser.« Er klopfte sich auf die linke Schulter. »Wenn du dich mal nicht wohl fühlst, sag es deiner Tante Fang Fang, sie hat sich umfassend über Ärzte informiert. Sie ist eine gute Frau. Weißt du noch, wie sie dich immer zum Angeln mitgenommen hat?«
Er redete weiter über Xiao Fang. Jia Jia gab sich alle Mühe, nicht hinzuhören. Sie wartete auf den passenden Moment, eine kleine Lücke in seinem begeisterten Monolog, um ihn nach seiner eigentlichen Familie zu fragen: ihrer Familie. Was ist mit uns? Das war es, was sie wissen wollte.
»… seit wir letztes Jahr geheiratet haben«, hörte sie ihn sagen.
Seine Stimme klang fern und hohl, als käme sie aus den Tiefen einer leeren Konzerthalle. Jia Jia krallte die rechte Hand um das linke Handgelenk und merkte, dass sie vergessen hatte, den Ärmel hochzuziehen, damit ihr Jadearmreif zur Geltung kam. Sie hatte ihn von ihrem Vater zur Hochzeit bekommen. Am Morgen hatte sie drei Mal nachgeschaut, ob sie ihn auch wirklich übergestreift hatte, damit er, wenn sie ihm den Tee einschenkte, sehen würde, wie der Reif, kieferngrün und durchscheinend, ihr blasses Handgelenk umschloss. Aber jetzt hatte sie ihn völlig vergessen.
Sie gab sich Mühe, höflich und gefasst zu bleiben, aber irgendeine Reaktion musste sie doch von sich gegeben haben; ihr Vater sah sich unbehaglich nach den Kellnerinnen und den anderen Gästen um, die alle zu ihrem Tisch schauten.
»Ihr habt was?«, fragte sie.
»Wir haben im Dezember geheiratet. Es tut mir leid, dass wir es dir nicht gesagt haben, aber es schien mir nicht der richtige Moment zu sein.«
Verzweifelt durchforstete Jia Jia ihren Kopf nach einer Erwiderung, nach etwas, das dieses Essen nicht sprengen, ihren Vater nicht verscheuchen würde. Aber sie konnte plötzlich nur noch an ihre Mutter in diesem Krankenhausbett denken, bleich und hoffnungslos wie ein weißes Blütenblatt, das vom Stängel abgezupft worden war.
»Hast du eigentlich Mas Bronzedrachen?«, rang sie sich schließlich ab.
»Welchen Drachen?«, fragte er zurück, immer noch zerstreut, blickte auf die Speisekarte und klappte seine Lesebrille auf.
»Ach, vergiss es.«
Jia Jia goss sich einen Tee ein und griff nach ihren Stäbchen, als die Kellnerin die Vorspeisen zwischen sie und ihren Vater auf den Tisch stellte. Sie versuchte, eine Erdnuss zu fassen zu bekommen. Aber die Stäbchen versagten ihr den Dienst, obwohl sie sonst immer sehr geschickt damit gewesen war. Wunderbar elegant, mit perfekter Technik, hatte ein Freund von Chen Hang einmal kommentiert. Was war heute bloß los mit ihr? Je öfter sie die Erdnuss fallen ließ, desto dringender wollte sie sie erwischen. Schließlich schaffte sie es, sie zum Mund zu führen und zu essen.
Stille senkte sich herab. Wie eine plötzlich versiegte Quelle fiel Jia Jia nichts weiter ein, was sie zu dem Mann, der da vor ihr saß, sagen konnte.
»Ich gehe besser«, sagte sie und stand auf.
Sie eilte zwischen den vielen viereckigen Tischen hindurch, vorbei am Toilettenschild, an den runden Tischen und am Empfang. Kein einziges Mal drehte sie sich nach ihrem Vater um, trotzdem sah sie ihn allein dort hocken – und die alten Leute am Nebentisch, die womöglich gerade das aufregendste Ereignis ihres Tages verfolgten.
Jemand streifte sie an der Schulter und entschuldigte sich. Jia Jia hob den Kopf und sah Xiao Fang. Sie konzentrierte sich ganz auf das Gesicht dieser Person, die ihr Vater als »gute Frau« bezeichnet hatte, und versuchte, ihre Gedanken zu lesen.
»Jia Jia! Suchst du die Toiletten?«, fragte Xiao Fang. Auch ihr Gesicht war gealtert, seit sie vor Jahren zusammen angeln gewesen waren.
»Hast du zufällig irgendwo in der Wohnung meines Vaters einen Bronzedrachen gesehen? So groß ungefähr.« Jia Jia hob die Hände und zeigte ihr, dass das Stück im Ausmaß etwa einer großen Kaffeetasse entsprach. Noch ehe Xiao Fang zum Antworten kam, stellte Jia Jia fest, dass sie ihr nicht länger ins Gesicht sehen konnte. Hier stand diese Frau, und ihre Mutter war nicht mehr da. Sie ließ den Kopf wieder sinken und ging weiter zur Rolltreppe.
Zurück in der Wohnung ihrer Großmutter kroch Jia Jia unter die Bettdecke und stellte sich vor, wie ihr Vater und Xiao Fang an dem runden Tisch in der Ecke des Restaurants saßen und geschmorten Schweinebauch verzehrten. Sie waren mühelos im Einklang, wurden einer zum anderen, so wie Leos Eltern. Sie saßen am anderen Ufer eines tiefen Flusses, den Jia Jia nicht überqueren konnte, auf einer Insel, auf der kein Platz für sie war. Die Tränen kamen in Wellen, ein erstickender Schmerz verengte ihr die Kehle, und mit der linken Hand, an der sie immer noch den Jadearmreif trug, hielt sie sich den Mund zu, um jeden Laut abzufangen, den sie von sich gab.