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Jia Jia erwachte mit einer Angst vor dem Altwerden, die ihr den Atem nahm. Sie beugte sich über das Waschbecken und zog sich die Haut an den Wangen glatt. Ihr Spiegelbild offenbarte ein paar dunklere Stellen. Sie lächelte, begutachtete die feinen Fältchen an den Augenwinkeln und meinte für einen Moment, sehen zu können, wie sie sich, rankenartig, weiter verzweigten. Sie stürmte in die nächstgelegene Mall und gab über tausend Yuan für eine Anti-Aging-Creme, ein Anti-Aging-Serum und eine Anti-Aging-Maske aus. Eigentlich wollte sie auch noch eine Augenmaske kaufen, entschied sich dann aber dagegen.

Anschließend kehrte sie in die Wohnung zurück und rannte am Wohnzimmer vorbei, wo ihre Großmutter gerade die Doktorfische und Clownfische im Aquarium fütterte. Der Wassertank überragte die alte Frau um einiges; um mit dem Arm über den Rand zu kommen, musste sie auf einen kleinen Kunststoffhocker steigen. Jia Jia erwog, ihr zu helfen. Aber dann ging sie stattdessen ins Bad, wusch sich das Gesicht, verteilte den halben Inhalt der Maskentube wie Butter auf ihrem Gesicht, setzte sich auf den Toilettendeckel und wartete.

Nach der katastrophalen Begegnung mit ihrem Vater hatte sie die ganze Nacht das Telefon neben dem Kopfkissen gehabt, mit lautgestelltem Klingelton, und darauf gewartet, dass er anrief und zurücknahm, was er ihr erzählt hatte, als bestünde auch nur der Hauch einer Chance, dass er sie über seine neue Ehe belogen hatte. Aber er hatte sich nicht gemeldet. Es war so typisch für ihn, nicht an sie zu denken. Die Visitenkarte der Galerie, die Qing ihr gegeben hatte, lag unberührt auf dem Nachttisch, neben der Zeichnung mit dem Fischmann. Nichts von alledem – weder die Galerie noch das Verkaufen von Bildern oder ihre Arbeit – schien ihr noch wichtig, und nun enttäuschte sie auch noch ihre Freundin, die sich bestimmt große Mühe gegeben hatte, eine Galerie zu finden, die mit Jia Jia sprechen wollte. Aber sie war so müde. Alles, was sie anfing, entwischte ihr mit zunehmend größerer Kraft.

Nach genau fünfzehn Minuten spülte sie die Maske ab und ging in ihr Zimmer zurück.

»Die meisten machen den großen Fehler, sie zu lange draufzulassen«, hatte die Verkäuferin sie gewarnt. »Dabei entzieht sie der Haut dann nur Feuchtigkeit.«

Jia Jia behandelte ihr Gesicht mit den übrigen Pflegeprodukten und fühlte sich gleich ein bisschen wohler. Dann wandte sie die Aufmerksamkeit ihren Fischmannbildern zu, holte eins nach dem anderen aus dem Umzugskarton und betrachtete sie. Sie kam zu dem Schluss, dass man diese Bilder kaum als Kunst bezeichnen konnte, trug sie nach unten und stopfte sie draußen in den Müllcontainer. Nur eines wollte sie behalten. Objektiv betrachtet war es das schlechteste Bild aus dem ganzen Karton, aber es besaß eine Ehrlichkeit und Schlichtheit, die sie bewahren wollte. Vielleicht kam es Chen Hangs Zeichnung auch am nächsten. Es sah nicht aus wie ein Ölgemälde, hatte weder einen Hintergrund noch Farbschichten, nur den Körper eines Fischs mitten auf der Leinwand, mit grauen Pinselstrichen gemalt, die wie verdünnte Tusche wirkten. Nicht einmal der Umriss des Körpers war scharf gezogen, als wäre der Fisch zugleich im Entstehen und in der Auflösung begriffen.

Jia Jia stellte das Bild auf eine Staffelei und setzte sich aufs Bett, versuchte, sich das Gesicht vor Augen zu rufen. So kam sie einfach nicht mehr voran. So kam sie nicht weiter. Es war, als liefe ihre Geschichte mit dem Fischmann schon seit Ewigkeiten, länger als sie zurückdenken konnte, als hätte diese Geschichte sie aus ihrer Umlaufbahn geschubst, als verlangte sie nun nach einem Ende. Um das leere Oval dort auf der Leinwand zu füllen, musste Jia Jia den Fischmann selbst sehen. Einen Moment lang kam es ihr so vor, als würde sich das Oval erweitern, wie ein Loch, das irgendwann das ganze Kunstwerk verschlingen würde, wenn man es nicht daran hinderte. Je länger sie es anstarrte, desto sicherer war sie, dass sie dieses Bild fertigstellen musste. Aber die Nachricht von der Hochzeit ihres Vaters beherrschte ihre Gedanken, sie konnte sich nicht konzentrieren. Sie musste raus aus diesem erstickenden, vergilbenden Zimmer. Ihr fiel ein, wie Chen Hang sich immer davongemacht hatte, wenn er das brauchte. Sie überlegte, ob vielleicht auch sie nach Tibet fahren sollte.

Am Nachmittag griff Jia Jia zum Telefon, scrollte durch ihre Kontaktliste, bis sie Chen Hangs Reiseberaterin gefunden hatte und erleichtert feststellen konnte, dass sie die Nummer nicht gelöscht hatte. Die Vorstellung, ein paar Tage zu verreisen, hatte sie mit neuer Energie versorgt.

»Ich will genau dieselbe Route«, erklärte sie der Frau am Telefon. »Und ich möchte so nah wie möglich an den Hotels wohnen, in denen er untergekommen ist, nur in billigeren Häusern.«

»Ich werde mich darum kümmern, dass wir das hinbekommen«, sagte die Frau. Ihre Stimme erinnerte Jia Jia an die Ansagen aus der U-Bahn. Sie klemmte das Telefon zwischen Ohr und Schulter und machte sich mit ihrem Zeichenstift Notizen auf einer alten Frauenzeitschrift.

 

Tag 1: Ankunft in Lhasa

Tag 2: Potala-Palast. Johang Jokhang-Tempel (drei Mal umrunden)

Tag 3–5: Nyingchi

Tag 6–7: Heimatort des Reiseführers. HIER TRAUM!

Tag 7 und weitere: noch offen. Abhängig vom Fischmann.

 

»Ich möchte auch denselben Reiseführer«, sagte Jia Jia. »Allerdings weiß ich nicht, wie er heißt.«

»Ich werde mich erkundigen, ob er frei ist. Was ist mit dem Namtso-See?«, fragte die Frau. »Um diese Jahreszeit ist es dort sicher …«

»Nein, vielen Dank. Das ist im Augenblick alles.«

Weil der Reiseführer bereits verplant war, ließen sich Jia Jias Wünsche erst zwei Wochen später in die Tat umsetzen.

Jetzt, wo sie einen Plan hatte, fühlte sie sich in der Lage, ihre ungelesenen Nachrichten vom Abend zuvor durchzugehen. Vielleicht hatte sich ihre Wohnung ja doch zu einem ordentlichen, fairen Preis verkaufen lassen. Vielleicht gab es ja jemanden, der nichts von Chen Hangs Tod in der Badewanne wusste, oder jemanden, den das nicht störte.

Die meisten Nachrichten waren Werbemails, aber es war tatsächlich eine Nachricht von ihrem Makler dabei, der sie dringend um Rückruf bat. Auch Frau Wan hatte ihr eine Nachricht geschickt, in der sie Jia Jia wissen ließ, dass ihr Mann und sie sich sehr um ihre Gesundheit sorgten.

»Was für eine Krankheit es auch ist«, schrieb Frau Wan, »am Ende wird alles gut ausgehen. Sie haben gutes Karma!«

Weiter unten in der Liste, zwischen all den Junkmails, entdeckte sie überrascht Leos Namen. Seine Nachricht war nur kurz.

»Komm vorbei, wenn Du kannst«, schrieb er. »Ich habe einen neuen Wein für Dich.«

Als Erstes rief Jia Jia ihren Makler an.

»Frau Wu«, fing er an, noch ehe Jia Jia etwas sagen konnte. »Sie müssen begreifen, ich versuche hier nur, meine Arbeit zu machen, aber Sie sind äußerst unkooperativ. Ich wollte nur ehrlich mit Ihnen sein, was die Lage mit Ihrer Wohnung betrifft, verstehen Sie? Ich tue mein Bestes für all meine Kunden, Frau Wu.«

»Sind Sie fertig?«, entgegnete Jia Jia kühl. »Ich habe eine schöne Wohnung in einem schönen Viertel. Und Sie wollen mir erzählen, dass niemand darin leben will? Das glaube ich Ihnen nicht. Rufen Sie erst wieder an, wenn Sie mir etwas Neues zu sagen haben.« Damit legte sie auf.

Sie las Leos Nachricht noch einmal durch und sah auf die Uhr. Fast Mittag. Draußen vor dem Fenster hatten Weidenkätzchen die Luft gekapert, jeder einzelne Samen auf der Suche nach einem Stückchen Boden, das er für sich beanspruchen konnte.

Seit der Nacht mit dem Feuerwerkshimmel im Februar, als es noch kalt gewesen war, hatten Leo und sie nicht mehr miteinander gesprochen. Sie erinnerte sich an das Feuerwerk. Wie schön es gewesen war. Sie erinnerte sich, wie sie selbst an dem Tag ausgesehen hatte, in ihrem orangefarbenen Kleid. Sofort wurde sie wieder unruhig. Wie konnte sie in so kurzer Zeit so stark gealtert sein? Wenn sie nackt vor Leo stünde, würde er sie dann noch berühren wollen? Sie zog sich aus und schaute in den Spiegel. Sie hatte abgenommen, davon hing die Haut an ihren Armen schlaff herab. Sie fuhr sich mit den Fingern am Hals entlang und versuchte, sich darauf zu konzentrieren, was ihre Fingerspitzen fühlten. Sie wollte, dass ihre Hände so empfanden, wie es die Hände eines anderen Menschen täten. Die Haut an ihren Schultern war rau, ihre Brüste immer noch klein, die Taille schmaler, die Hüften weniger wohlgeformt, als sie sie in Erinnerung hatte. Sie zog einen Stuhl vor den Spiegel und setzte sich mit gespreizten Beinen hin. Mit dem Zeigefinger fuhr sie sanft von ihrem Muttermal über die Schamhaare bis hin zur Klitoris und fand Zuversicht darin, wie weich und warm sich das anfühlte. Sie kam zu dem Schluss, dass ihr Körper immer noch begehrenswert war.

Sie suchte ein abendliches Outfit heraus und wartete, bis die Sonne im Westen stand.

 

Leo führte gerade ein Paar an einen Tisch, als Jia Jia eintrat. Sie trug ein graues Kleid und eine Lederjacke im selben Farbton. Leo fiel auf, dass sie abgenommen hatte. Er hatte nicht gewusst, ob sie kommen würde; ihm war erst klar geworden, wie sehr er darauf hoffte, sie zu sehen, als er die Nachricht abgeschickt und angefangen hatte, auf eine Antwort zu warten. Jetzt, wo sie auf ihrem üblichen Barhocker vor ihm saß, war es, als vermisste er sie sogar noch mehr. Ihr Haar war offen, es strich ihr bei jeder Bewegung über den Rücken wie ein Kalligraphiepinsel.

»Es tut mir leid, dass ich nicht auf deine Nachricht geantwortet habe«, sagte sie.

Leo mixte die Drinks für seine anderen Gäste, servierte sie und machte auf dem Rückweg zum Tresen im Weinkeller Halt. Er holte die Weißweinflasche, die er für Jia Jia zurückgelegt hatte, das Geschenk eines alten Freundes aus Tokio, der ihn besucht hatte.

»Ich habe diesen Wein für dich aufgehoben«, sagte er. »Ein japanischer Wein. So etwas findet man sonst nicht in Peking.«

»Das ist wirklich sehr lieb von dir«, sagte sie. »Dass du weiter an mich gedacht hast. Ich habe so schreckliche Dinge gesagt.«

»Was meinst du damit?«

»Zu dir. Ich habe dir schreckliche Dinge gesagt.«

»Eigentlich sollte ich mich bei dir entschuldigen. Aber lassen wir das, ich freue mich, dass du da bist.« Das stimmte, er freute sich unbändig, und was an jenem Abend passiert war, tat ihm ungeheuer leid.

»Ich bin zu meiner Großmutter gezogen.« Sie trank einen Schluck von dem Wein, und Leo war gespannt, wie sie reagieren würde. Offensichtlich hatte sie einen anderen Geschmack erwartet, wirkte aber nicht unzufrieden.

»Was hast du mit dem Pferdebild gemacht, das bei dir über dem Sofa hing?«, fragte Leo.

»Das habe ich mitgenommen. Es braucht viel Platz. Verzeihst du mir die schrecklichen Dinge, die ich zu dir gesagt habe?«

»Ich hätte wohl ein bisschen mehr nachdenken sollen, anstatt alles so zu überstürzen.«

»Mich hat es gefreut, deine Eltern kennenzulernen.«

Das Bild von Jia Jia, wie sie von ihrer Mutter erzählte, kam Leo wieder in den Sinn – ihre dunklen Augen, glänzend wie Kiesel in einem klaren Fluss.

»Deine Mutter«, sagte er. »Wo ist sie jetzt?«

Jia Jia dachte kurz über die Frage nach. Sie antwortete mit abgewandtem Blick: »Vielleicht an einem besseren Ort.«

Dann schien ihr etwas einzufallen, und sie griff in die Papiertüte, die sie bei sich hatte.

»Warst du schon mal in Chongqing? Meine Mutter hat die hier vor Jahren von dort mitgebracht.« Sie zog eine kleine Laterne aus der Tüte. »Ich dachte, sie würde sich gut in deiner Bar machen.«

Die ovale Laterne war sicher einmal leuchtend orange gewesen, als sie noch neu war; jetzt wirkte das Papier ein wenig bräunlich und verlieh ihr einen verhalteneren Reiz.

»Das kann ich nicht annehmen«, sagte Leo.

»Oh … heißt das, du willst sie nicht? Ich halte es einfach nicht aus, dass sie so leblos und traurig in meinem alten Zimmer hängt«, sagte Jia Jia.

Ein Mann trat an den Tresen und lenkte Leo ab. Er trank sein Glas aus und stellte es dann ab.

»Wie schön, Sie hier zu treffen, Frau Wu«, sagte der Mann.

Jia Jia schrak auf, als sie ihn sah.

»Ich muss mich für meinen Ton am Telefon entschuldigen, Frau Wu, vielleicht war ich etwas zu pessimistisch«, fuhr der Mann fort. »Heute Nachmittag habe ich Mieter für Sie gefunden. Die Miete, die sie zahlen wollen, ist nicht ganz so hoch wie bei den anderen Wohnungen in Ihrem Gebäude, aber trotzdem ganz ordentlich. Ich glaube, Sie können zufrieden sein.«

»Das ist mein Makler«, sagte Jia Jia zu Leo.

»Freut mich.« Der Mann streckte ihm die Hand hin. Leo drückte sie fest, sagte Jia Jia, er werde die Laterne vorläufig behalten, und zog sich dann aus dem Gespräch zurück. Er trat aus der Tür seiner Bar und sah zu Jia Jias Wohnhaus auf der anderen Straßenseite hinauf. Er zählte die Stockwerke ab, bis er ihr Schlafzimmer gefunden hatte. Vor etwas über einer Woche hatte er zum letzten Mal Licht dort gesehen; er hatte sich schon gefragt, wo sie wohl sein mochte.

Als er wiederkam, saß der Makler wieder bei seiner Begleitung, und Jia Jia musterte die Lippenstiftabdrücke an ihrem Weinglas.

»Sag, wann sind wir uns bloß so fremd geworden?«, fragte sie Leo, den Blick immer noch auf das Glas gerichtet.

»Wir sind uns nicht fremd geworden. Wir waren es immer.« Er seufzte leise – ein entschiedener, solider Seufzer.

»Du bist mir also immer noch böse«, sagte sie.

Er stellte sie sich in einem Dorf über den Wolken vor, von dem aus sie die Welt überblickte, in der er lebte. Ihr Blick sah alles, heftete sich aber an nichts Konkretes.

»Kennst du das Gefühl, dass sich manchmal, wenn dir etwas zustößt …« Sie klopfte mit dem Zeigefinger an das Weinglas. »… tief in dir etwas verändert? Du kannst es nicht mehr rückgängig machen, und du fragst dich, ob das nicht vielleicht der Mensch ist, der du sein willst. Also bleibst du einfach so und überlegst dir, ob du dieses neue Ich wirklich magst, so lange, bis dir wieder etwas zustößt und der ganze Prozess von vorn anfängt. Hast du das schon mal erlebt? Wenn ich dir begegnet wäre, bevor ich Chen Hang geheiratet hätte …«

Leo ließ die schmutzigen Gläser, die er in der Hand hielt, ins Spülbecken fallen, dass es laut klirrte, und unterbrach Jia Jia. »Findest du nicht, dass wir manchmal einfach nur lieben müssen, auf die denkbar schlichteste Weise?«

Zum ersten Mal an diesem Abend richtete Jia Jia ihre volle Aufmerksamkeit auf ihn. Er sah, wie auf einmal Gefühle ihren Blick durchströmten. Ihre Augen waren schwarz, so schwarz, und Leo glaubte, noch nie so wundervolle, leidvolle Augen gesehen zu haben.

»Weißt du, was ich heute beschlossen habe?«, sagte Jia Jia mit fester Stimme. »Ich fahre nach Tibet.«

»Du bist gekommen, um dich zu verabschieden«, sagte Leo. Er verkniff es sich, sie zu fragen, warum sie nach Tibet wollte – sie hatte ihre Gründe, und diese Gründe hatten nichts mit ihm zu tun.

»Und ich soll auf dich warten?«, fragte Leo.

»Ich glaube nicht, dass du dein Leben noch länger mit meinem verstricken solltest. Ich will nicht, dass du das tust.« Sie trank den restlichen Wein in einem Zug aus und schenkte dann beide Gläser wieder voll. Er konnte nur auf ihre Hände schauen. »Trink heute mit mir.« Sie stieß ihr Glas an seines, das auf dem Tresen stand. »Lass uns diesen Abend glücklich in Erinnerung behalten.«

Es war Sonntag und ruhig in der Bar. Jia Jias Makler bezahlte, und bevor er ging, sagte er Jia Jia, er werde ihr den Mietvertrag in den kommenden Tagen zuschicken. Leo machte für den Abend zu. Er nahm seine Fliege ab und stopfte sie in die Tasche, ohne sie zu falten, wie er das normalerweise tat.

Im Lauf der Nacht tranken sie immer mehr und redeten immer weniger. Während der seltenen Gespräche, die sie führten, lachte Jia Jia aufrichtiger, als Leo sie je hatte lachen hören. Sie kam hinter den Tresen und durchstöberte seine Whiskey-Vorräte; sie plünderte seine Tasche, zog seine Fliege heraus, band sie sich um den Hals und machte ein Selfie mit seinem Smartphone. Sie erschien ihm vertrauter als je zuvor. Er trauerte um das Leben mit ihr, dass er nie gehabt hatte, um die Nächte, die sie nie gemeinsam hinter den erleuchteten Fenstern einer gemeinsamen Wohnung verbracht hatten.

Sie ließen Musik auf ihren Smartphones laufen und tanzten. Einmal machte Jia Jia sich über Leo lustig, weil er nur Jazzplatten besaß. »Wie soll man denn zu solchen Liedern tanzen?«, fragte sie, während sie seine Sammlung durchsah.

Als die Sonne durchs Fenster hereinschien, brachte er sie zur Tür und sagte ihr, dass er sie liebe.

»Wie sehr liebst du mich?«, entgegnete sie.

»Das kann ich gar nicht sagen.«

»Gut.«

Sie band sich die Haare wieder zusammen und ging zur U-Bahn.

Zurück in der Bar spülte und wischte Leo alle Gläser ab, bis auf das eine, das Jia Jia benutzt hatte. Er blieb lange am Tresen sitzen, auf dem Hocker ganz am Ende, und hielt ihr Glas fest. Als er schließlich spürte, wie die Müdigkeit ihn übermannte, spülte er das Glas sehr gründlich und hängte es zu den anderen über den Tresen. Er stellte Jia Jias Laterne auf einen kleinen Tisch in der Ecke und ging nach Hause, um lang und tief zu schlafen.

 

Als Jia Jia wieder in die Wohnung ihrer Großmutter kam, brannte das Aquarium. An einer Seite des Beckens loderte eine einzelne Flamme hinauf, vom Fuß des Aquariums bis zur Decke, fast so groß wie ein Kind. Die Korallen schwangen wie Metronome hin und her, und die Fische setzten ihren trägen, ziellosen Weg fort, ohne etwas zu merken.

Jia Jia stürmte in die Küche, auf der Suche nach irgendeinem Behälter. Ihre Großmutter wusch gerade den Reis und hatte, wie die Fische, nichts von dem Geschehen mitbekommen. Jia Jia zerrte einen Eimer unter der Spüle hervor, stieß dabei eine Flasche Reinigungsmittel um, füllte den Eimer mit Wasser und schleppte ihn ins Wohnzimmer. Sie kippte ihn über das Aquarium, wobei die Hälfte auf ihr landete. Das Wasser schien die Flamme etwas zu dämpfen, und Jia Jia wiederholte den Vorgang. Inzwischen war auch ihre Großmutter aus der Küche gekommen und schrie Anweisungen.

»Schnell, schnell, schnell«, rief sie immer wieder und schlurfte umher, so rasch sie konnte.

Jia Jias Tante kam aus ihrem Zimmer, sah das lodernde Aquarium, rannte sofort ins Bad, um einen zweiten Eimer zu holen, und brüllte dabei Jia Jias Großmutter an, ihr aus dem Weg zu gehen. Jia Jia wusste schon nicht mehr, wie viele Wassereimer sie auf das Aquarium gekippt hatte. Sie war ganz außer Atem, ihre Arme fühlten sich an, als könnten sie nicht mal mehr sich selbst halten. Schließlich gelang es ihrer Tante mit letzter Kraft, die Flamme zu löschen.

Jia Jia stöpselte das Aquarium aus, und das blaue Schimmern erlosch, die Fische und Korallen blieben dumpf und düster zurück. Die drei Frauen standen rund um den Tank, und keine von ihnen sagte etwas.