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Partido de Bahía Blanca, Argentinien

E r war ein Skorpion.

Nie war Unteroffizier Salvio auf diese Tatsache stolzer gewesen als in diesem Moment. Er blickte auf die Uhr.

Drei Minuten bis zum Ziel.

Wie seine Männer trug auch er eine Kampfweste und einen ballistischen ATE -Kevlar-Helm mit Nachtsichtoptik und war mit einer Glock-17-Pistole im taktischen Beinholster und einem M4A1-Karabiner bewaffnet.

Das Heulen der beiden Turbomecca-Triebwerke des EC 145 Eurocopters füllte die schwach beleuchtete Kabine. Salvios Einheit, ein kleiner Trupp von Spezialeinsatzkräften der Grupo Alacrán – der Skorpion-Gruppe –, war die beste Einheit der Argentinischen Nationalgendarmerie, vielleicht sogar ganz Argentiniens.

Grupo Alacrán war die wichtigste Antiterroreinheit Argentiniens. Wie die israelische Jamam – die paramilitärische Spezialeinheit der israelischen Grenzpolizei, mit der Salvios Team im Ajalon-Tal trainiert hatte – galten seine Männer als die blutige Spitze des Speeres.

Salvio reckte drei Finger in die Höhe. Sein vertrauter Adjutant und Stellvertreter Acuña bestätigte das Zeichen mit knappem Nicken und wölfischem Grinsen. Die beiden Männer hatten im Kampf gegen bewaffnete Mafiabanden und radikale Islamisten in La Triple Frontera, der Grenzregion zwischen Brasilien, Paraguay und Argentinien, gemeinsam die Krallen gewetzt. Das Dreiländereck war schon seit Langem eine Bastion des grenzüberschreitenden Handels mit Drogen, Waffen und Menschen, der sowohl von internationalen Kartellen als auch von lokalen Banden kontrolliert wurde, eine Region, in der Gewalt und Kriminalität von Jahr zu Jahr schlimmer wurden. Der Bürgerkrieg im Libanon hatte außerdem Zehntausende Libanesen in diese abgelegene Gegend verschlagen, unter ihnen viele Mitglieder der Terrororganisation Hisbollah.

Und mit der Hisbollah kam der Iran.

Verdammt, dachte Salvio, hatten nicht sogar Osama bin Laden und Chalid Scheich Mohammed, der Chefplaner der Anschläge vom 11. September, vor Jahren La Triple Frontera besucht?

Salvio war überzeugt, dass seine Regierung es niemals schaffen würde, die Banden auszumerzen. Sie schaffte es nicht einmal, die Flut der Gewalt einzudämmen. Aber bald nachdem bin Laden in der Gegend aufgetaucht war, war plötzlich eine Menge Geld und Technologie aus den USA hereingeflossen und hatte den Krieg gegen den Terror auch nach La Triple Frontera gebracht. Das hatte wenigstens das Wachstum dieses hässlichen Krebsgeschwürs für ein paar Jahre in Schach gehalten. Bis sich die Aufmerksamkeit der Amerikaner wieder einem anderen Weltproblem zugewandt hatte. Inzwischen befand sich die Hisbollah hier im Dreiländereck wieder auf dem Vormarsch. Nach Süden.

Dieser Nachteinsatz war der beste Beweis dafür.

Die Aufklärungseinheit der Nationalgendarmerie hatte vor zwei Tagen einen libanesischen Hisbollah-Kommandeur in der Region identifiziert, und die CIA hatte die Sichtung bestätigt. Aber dann hatte die CIA in der Nähe der Küstenstadt Bahía Blanca auch noch einen aktiven Offizier der berüchtigten iranischen Quds-Brigade entdeckt, der Eliteeinheit für Auslandseinsätze, die zur Iranischen Revolutionsgarde gehörte – und von diesem Moment an hatten Salvios Befehlshaber und die CIA Blut gerochen.

Obwohl die argentinische Regierung dagegen protestiert hatte, sollte nächste Woche in Bahía Blanca eine Zusammenkunft junger Chassiden stattfinden. Hunderte junger ultraorthodoxer Juden aus allen Teilen des Landes würden daran teilnehmen. Ein perfektes Anschlagsziel.

Und ein iranischer Kommandeur der Quds-Brigade würde den Überfall anführen.

Die Hisbollah hatte in Argentinien schon viele Menschen ermordet. Mehr als hundert Juden waren in den 1990er-Jahren bei zwei Bombenattentaten ums Leben gekommen.

Die Terrormiliz hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass sie etwas Derartiges jederzeit wieder tun könne.

Die beiden Terroristen hielten sich in einer kleinen, verlassenen Pferderanch nur sechsundzwanzig Kilometer nördlich der Stadt versteckt. »Gefangen nehmen – lebend«, lautete der einzige Befehl, den Salvio für diese Mission vom comandante mayor erhalten hatte. Das sei eine Chance, das Hisbollah-Netzwerk endlich zu zerschlagen, hatte der Kommandant hinzugefügt. Damit könne man die verdammten iranischen Hunde endlich in den Arsch treten.

Und so hatten Salvio und sein Trupp auf ihrer Basis in Ciudad Evita ihre Ausrüstung zusammengepackt, und Salvio hatte 23 seiner besten Männer für den Einsatz ausgewählt. Die drei Eurocopter flogen auf drei verschiedenen Flugvektoren, wobei sie die direkten Flugrouten vom Stützpunkt zum Ziel vermieden. Das hieß allerdings, dass die Helis bis zum Maximum ihrer Reichweite gehen mussten, aber schließlich hatte es keinen Zweck, es den Tangos zu leicht zu machen, die womöglich schultergestützte MANPAD s mit sich führten. Auf jeden Fall würde Salvios Heli vor dem Rückflug aufgetankt werden müssen.

»Zwei Minuten«, tönte die Stimme des Piloten aus Salvios Headset. Prüfend blickte sich Salvio in der Kabine um. Tarabini, Gallardo, Zanetti, Crispo, Birkner, Hermann. Seine Boys waren noch jung, aber gut ausgebildet, gute Schützen und duros . Alle erwiderten seinen Blick mit zuversichtlichem Grinsen. Wie hungrige Wölfe in einem Rudel.

Sein Rudel.

»Licht aus«, befahl er dem Piloten. Die schummrig rote Kabinenbeleuchtung erlosch.

Salvio schaltete seinen Kommunikationskanal ein. »Bravo One, hier Alpha One. Lagebericht.«

Sein Scharfschützenteam – ein Scharfschütze und ein Beobachter – war bereits auf dem flachen offenen Feld, von dem die Farm umgeben war, in Stellung gegangen. »Freie Sicht auf die Farm. Keine Bewegung. Keine Lichter. Klar zum Angriff, Sir.«

»ETA neunzig Sekunden«, sagte Salvio und fügte auf Englisch hinzu: »Stay frosty!« Er klickte sich aus. Wie jeder andere Argentinier in seinem Alter war auch er mit amerikanischen Filmen aufgewachsen, aber tatsächlich war es sein »Black Hat«-Ausbilder in der Fallschirmspringerschule Fort Benning gewesen, der ihn mit diesem Befehl angebellt hatte.

Zeit, die Puppen tanzen zu lassen.

Salvio befahl den Piloten, ihre Helis in der Nähe des verwahrlosten Farmhauses in NATO -»Y«-Formation auf zwölf, vier und acht Uhr zu landen. Dabei halfen ihm Fotos, die eine Überwachungsdrohne am Vortag aufgenommen hatte. Rund um die Ranch standen nur wenige Bäume und Büsche, nur ein paar dicht beieinanderstehende Mesquitebäume versperrten teilweise den Blick auf die Fenster. Ein paar baufällige Schuppen standen verstreut um das Haupthaus, und der Zaun war an mehreren Stellen umgefallen. Die Ranch hatte eindeutig bessere Zeiten gesehen.

Die drei Eurocopter schwebten in fast perfekter Synchronisation bis auf knapp einen Meter über dem hart gestampften Boden herab, fast 100 Meter vom Haus entfernt. Salvio sprang zuerst, dicht gefolgt von seinen Männern. Kaum schlugen ihre Stiefel auf dem Boden auf, als sie auch schon lossprinteten. Während die Skorpion-Operateure auf das Haupthaus zustürmten, stiegen die Hubschrauber mit brüllendem Lärm sofort wieder hoch, um in größerer Höhe weite Überwachungsschleifen zu fliegen. Vor dem blauschwarzen Nachthimmel zeichnete sich das alte Farmhaus nur als grauer Schatten ab.

Salvio war auf vier Uhr gelandet. Flüsternd erteilte er seinem Team über das Comms seine Befehle, obwohl er sich darauf verlassen konnte, dass seine Männer auch ohne ihn wussten, was sie zu tun hatten.

»Bravo One, wir sind auf dem Boden«, meldete er dem Scharfschützenteam. »Bereit für Feuerschutz? Kommen.«

»Bereit für Feuerschutz, Sir.« Das Schützenteam lag auf sechs Uhr, die große Barrett-M95-Repetierbüchse war direkt auf die Haustür gegenüber gerichtet und bereit, jeden cabrón mit .50-BMG -Patronen zu löchern, der dem Schützen vor das Nachtsichtgerät geriet.

Salvios Team rückte zuerst geduckt in langsamem Trab vor, genau wie die beiden anderen Teams. Hier draußen auf der grasbewachsenen Ebene war kaum Deckung zu finden, weshalb die Hubschrauber Salvios Trupp relativ nahe am Ziel hatten absetzen müssen. Er hatte sich für einen Nachtangriff entschieden, in der Hoffnung, dass die Kämpfer im Haus keine Nachtsichtgeräte hatten.

Jetzt rannten die vierundzwanzig Soldaten schnell aus drei Richtungen auf das Haus zu, die Waffen entsichert, die Patronen schussbereit in der Kammer. Schwere Stiefel stapften die Stufen zu der halb morschen, um das Haus verlaufenden Veranda hinauf, gingen rechts und links neben den Fenstern und den beiden Türen in Deckung und zogen die Ringe der Blendgranaten.

Salvio war neben der Vordertür in Stellung gegangen. Arabische Musik plärrte blechern aus einem Radio irgendwo im Haus. Er flüsterte einen weiteren Befehl in sein Mikro. Scheiben splitterten, als die Schockgranaten gleichzeitig durch sechs Fenster geworfen wurden. Die Männer kniffen die Augen zu und rissen die Münder auf, als die Granaten explodierten.

Mit ihren schweren Stiefeln traten sie die Türen ein. Die Skorpions stürmten in die dunklen Räume. Das taktische Licht an Salvios Glock 17 und die herumgeschwenkten Lichter an den Karabinern seiner Männer erhellten das Wohnzimmer.

»Sicher!«, hörte Salvio einen seiner sargentos aus einem der Hinterzimmer brüllen. Kurz danach folgten weitere »Sicher!«-Rufe. Acuña erschien; die herumzuckenden Lichtstrahlen blitzten in seinen Augen, aber die Enttäuschung war ihm klar anzumerken.

»Alle Räume gesichert, Sir. Niemand hier.«

Salvio fluchte und schob die Glock ins Holster zurück. Wo zum Teufel waren diese Scheißkerle?

»A quí!«, rief einer der Soldaten aus der Küche. Salvio und Acuña stürmten hinüber. Der Gefreite Gallardo stand in einer kleinen Nebenkammer und hielt sein Waffenlicht auf den Boden gerichtet: eine Falltür. Salvio riss die Tür hoch, zog gleichzeitig die Pistole und schaltete deren taktisches Licht ein.

»Gallardo, Hermann, mir nach«, befahl Salvio knapp und stieg in den dunklen Schacht hinunter.

Salvio und seine beiden Männer kehrten mit leeren Händen in die Küche zurück. Der Tunnel unter der Falltür war ungefähr 70 Meter lang und führte zu einem der leeren, baufälligen Schuppen draußen. Die Terroristen waren anscheinend durch den Tunnel geflohen, ohne vom Scharfschützenteam bemerkt worden zu sein.

Salvio kontaktierte die Piloten der Helikopter, die mit Nachtsichtgeräten und Wärmekameras ausgestattet waren. »Seht ihr was?«

»Nein, nicht mal ein Kaninchen.«

Verdammt!

Er hätte die Gefangennahme der beiden Terroristen unverzüglich dem comandante mayor melden sollen, doch jetzt würde der Alte ganz schön sauer sein. Salvio hatte nichts in der Hand außer seinem eigenen Schwanz. Nicht gerade das, was sie im Hauptquartier von ihm erwarteten.

Wütend bellte Salvio seine Befehle. Er würde diese Bruchbude auseinandernehmen, vielleicht fand er dabei irgendwelche Hinweise. Irgendetwas, womit er dem HQ beweisen konnte, dass der ganze Einsatz nicht völlig vergeblich gewesen war.

Sie nahmen das Haus von oben bis unten auseinander, schlitzten Matratzen auf, kippten den Inhalt von Schubladen, Schränken und Kommoden auf den Boden, rissen Dielen heraus. Als sie damit fertig waren, glich das Haus einem Trümmerfeld nach einem Tornado.

Ganz sicher war jemand hier gewesen – es lagen jede Menge Abfälle und Zigarettenkippen herum, und die verdreckte Toilette war nicht gespült worden.

Aber sie fanden nicht mal den kleinsten Hinweis, den Salvio als Trophäe hätte mit zurücknehmen können.

Während seine Männer herumstanden, Wasser aus ihren Trinkblasen tranken und Proteinriegel verschlangen, beorderte Salvio die Helikopter für die Extraktion des Teams herbei. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als wieder in die Kaserne in Ciudad Evita zurückzukehren und Feierabend zu machen.

Zehn Minuten später landeten die drei Eurocopter, und ihre Rotoren wurden langsamer. Um den Rotorblättern aus Karbonfaser auszuweichen, liefen Salvios Männer geduckt zu den Maschinen hinüber und drängten sich hinein. Sie mussten noch Platz schaffen für den Sniper und seinen Beobachter, die am Vortag sechs Kilometer zu Fuß zurückgelegt hatten, um nicht entdeckt zu werden. Der Sniper setzte sich vor Salvios Füßen auf den Boden.

Wenigstens waren seine Männer gut drauf, tröstete sich Salvio. Sie lachten und frotzelten einander, wie es junge Männer eben machen, um nach einem Kampfeinsatz das aufgestaute Adrenalin wieder abzubauen.

Auch wenn dabei kein einziger Schuss abgefeuert worden war.

»Bereit, Leutnant?«, fragte der Pilot.

»Let’s get back to the barn« , antwortete Salvio auf Englisch, noch so ein Spruch, den sein Ausbilder in Fort Benning immer geknurrt hatte. »Rápido .« Salvios Sohn war Stürmer und sollte heute mit seinem fútbol -Team antreten. Mit ein bisschen Glück würde das Auftanken der Helis reibungslos ablaufen, dann könnte Salvio noch rechtzeitig zum Spiel wieder zu Hause sein.

Die Turbinen heulten auf, als die Eurocopter gleichzeitig abhoben, sich in den warmen, sternenfunkelnden Nachthimmel schwangen und in einer Reihe zurückflogen.

Einen Herzschlag später schrillten in allen Helis die Warngeräte los.

Raketenanflug.

Salvio packte einen Haltegriff, gleichzeitig kippte der Heli jäh nach unten, um der Rakete auszuweichen, während automatisch eine Düppelwolke hinausgeblasen wurde. Durch die Tür des Bordschützen musste Salvio mit ansehen, wie ein feuriger Strahl heranraste, in einen seiner Helis einschlug und in einer Wolke aus flammendem Metall explodierte.

Das Letzte, was Salvio hörte, war das urgewaltige Brüllen der hochexplosiven Ladung, die seinen Helikopter auseinanderriss und ihn und fast alle anderen auf der Stelle tötete. Die wenigen schreienden Überlebenden starben, als sie mit dem brennenden Wrack fünfhundert Meter tiefer auf dem Boden aufschlugen.

Innerhalb von nur dreißig Sekunden wurde Salvios gesamte Skorpion-Einheit ausgelöscht.

Konzeptbeweis Nummer eins.