A rnie van Damm, Präsident Ryans Stabschef, saß im Büro der Senatorin Deborah Dixon. Zwischen ihnen stand ein massiver, handgeschnitzter antiker Schreibtisch, aber tatsächlich trennte sie noch viel mehr voneinander.
Als Vorsitzende des Ausschusses für Auswärtige Beziehungen des US -Senats und ehemalige Vorsitzende des Unterausschusses Europa und Regionale Sicherheitskooperation zählte Senatorin Dixon zweifellos zu den mächtigsten Mitgliedern des Senats und hatte vermutlich den größtmöglichen Einfluss auf die Gesetzgebung im Bereich der Außenpolitik. Verträge überlebten oder starben unter ihrer Aufsicht.
Dieses Mal jedoch war die Gesetzesvorlage nicht einfach »gestorben«, sondern war bewusst gekillt worden – gewissermaßen mit einer Kugel in den Kopf und anschließend ausgeblutet –, und zwar von Dixon persönlich, einer republikanischen Parteifreundin! Dabei hätte die Abstimmung genau nach der Linie der Partei laufen sollen – nur hatte sich Dixon nicht daran gehalten, sondern hatte mit den oppositionellen Demokraten gestimmt.
Arnie war wütend. Aber noch wichtiger war, dass auch Präsident Ryan wütend war, ebenso Außenminister Scott Adler, Verteidigungsminister Robert Burgess und der Stabschef der U.S. Army. Der Präsident hatte persönlich über Monate hinweg den bilateralen Vertrag mit Polen sorgfältig geplant und ausgehandelt, der vorsah, auf polnischem Staatsgebiet eine ständige Präsenz der U.S. Army aufzubauen und zu unterhalten. Die Basis war als vorgeschobene Verteidigungsstellung gegen die russischen Expansionsbestrebungen in der Region geplant, eine Maßnahme, zu der sich die USA im Hinblick auf die Stärkung der Abwehrkräfte der NATO veranlasst sahen, zumal aus amerikanischer Sicht das militärische Engagement der Westeuropäer noch immer ungenügend war.
Als Stabschef des Weißen Hauses gehörte es zu Arnies Aufgaben, die Räder auf dem Capitol Hill immer gut geschmiert zu halten, damit die Gesetzesvorlagen reibungslos durchliefen, und natürlich galt das auch für die Vorlage, die Dixon gerade eben gekillt hatte. Die Senatorin war immer eine gute Freundin und verlässliche Kollegin gewesen. Jedenfalls hatte das Arnie bis heute Morgen geglaubt. Während er seine Stahlrandbrille putzte, versuchte er, sich wieder zu beruhigen.
»Du bist echt süß, wenn du wütend bist, Arnie. Hat dir das schon mal jemand gesagt?« Dixon war sechsundfünfzig Jahre alt und gab sich Mühe, wie sechsunddreißig auszusehen, was ihr auch fast gelang. Pilates fünfmal die Woche, Botox dreimal jährlich, eine strenge Paleo-Diät und der beste Hairstylist im gesamten District of Columbia machten natürlich eine Menge aus, aber gute Gene waren auch recht nützlich. Sie war eine äußerst attraktive Frau, ein Hingucker, aber ihren politischen Erfolg verdankte sie letztendlich nicht ihrer fantastischen Erscheinung, sondern ihrem messerscharfen Verstand.
Na gut, zum größten Teil jedenfalls.
»Ich sehe wütend besser aus als sonst? Dann muss ich jetzt gerade der schönste Mann der Welt sein, Deborah. Ein verdammter Adonis! Ich dachte, wir hätten einen Deal?« Arnies kahler Schädel war vor Wut rosa angelaufen.
»Nun, dann hast du dich eben getäuscht. Wir haben lange genug darüber diskutiert, und ich habe gründlich über alles nachgedacht, was du gesagt hast. Der Unterausschuss hat die Angelegenheit von allen Seiten betrachtet, auch die Pro- und Kontra-Aussagen der Experten. Aber wie du weißt, Arnie, muss ich meinen Job machen. Ich bin gewählte Senatorin, nicht irgendein Apparatschik unserer Grand Old Party. Als solche soll ich ›beraten und abstimmen‹ und nicht gehorsam mit dem Schwanz wedeln, wenn Ryan oder seine Leute pfeifen.«
»Nette Rede, Deborah. Die hast du doch nicht selbst geschrieben, oder?«
»Erspar mir den Scheiß, Arnie. Also: Was willst du?«
»Zuerst einmal eine öffentliche Entschuldigung. Du hast den Präsidenten in peinlichster Weise vorgeführt – schon im kommenden Monat ist ein Gipfel mit dem polnischen Präsidenten in Warschau geplant, bei dem die beiden Präsidenten den ersten Spatenstich des Projekts machen wollen.«
»Erstens: Ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass ich meinen verfassungsgemäßen Pflichten als Senatorin nachkomme, auf die ich einen Amtseid geleistet habe. Und zweitens: Schieb mir nicht die Schuld zu, nur weil du schon voreilig die goldene Schaufel für die Grundsteinlegung von Fort Ryan bestellt hast, die nun eben nicht stattfinden wird.«
»Verdammt, Deborah, das ist nicht fair, und das weißt du auch. Niemand fordert dich auf, deine Pflichten zu vernachlässigen. Aber wenn du Bedenken hast, hättest du damit zu uns kommen sollen, wir hätten bestimmt eine Lösung gefunden. Aber du hast dich nicht gerührt. Was zum Teufel ist passiert?«
»Nichts ist ›passiert‹, Arnie – außer, dass ich eben meiner Sorgfaltspflicht nachgekommen bin.«
»Und was hast du mit deiner ›Sorgfaltspflicht‹ entdeckt, das wir nicht längst bis zum Überdruss ausdiskutiert hatten?«
»Ach, komm schon, Arnie. Reden wir doch wie Erwachsene miteinander. Die ganze Sache ist doch nur eine Hurra-Veranstaltung, ein gigantisches Mediengedöns. Der Vertrag schickt den Russen genau die falschen Signale zur falschen Zeit. Es ist höchste Zeit für eine Deeskalation, ganz besonders jetzt, wo gerade ein neuer Präsident an die Macht gekommen ist. Gebt ihm die Chance, sich einzuarbeiten. Wenn wir eine vorgelagerte Militärbasis direkt an der Grenze seiner Einflusssphäre aufbauen, wird er sich doch gezwungen sehen, entsprechend zu reagieren! Wenn er nichts tut, werden die Hardliner im Kreml seinen Kopf fordern – bildlich gesprochen oder vielleicht sogar tatsächlich.«
»Si vis pacem, para bellum «, antwortete Arnie und beugte sich näher. »Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor.«
»Si vis pacem, para pacem «, gab sie scharf zurück. »Wir sollten es zur Abwechslung mal mit Diplomatie versuchen statt mit Provokationen.«
»Wir sind hier nicht die Aggressoren. Wir sind weder in Litauen noch in der Ukraine einmarschiert.« Damit meinte Arnie die jüngsten russischen Einfälle in diese Länder, die von diesen vor allem mit amerikanischen Waffen zurückgeschlagen oder zumindest aufgehalten werden konnten. »Aber das weißt du doch. Ich frage dich noch einmal: Was soll das alles?«
»Ich denke, ich habe mich absolut klar ausgedrückt. Dass Ryan den Vertrag bilateral mit Polen aushandelte, verärgert unsere wichtigsten NATO -Verbündeten, vor allem Deutschland und Frankreich, und provoziert nur noch einen weiteren Krieg mit den Russen. Wir rücken immer näher an ihre Grenzen heran, obwohl wir genau das Gegenteil versprochen hatten.«
»Die Russen suchen ständig nach Ausreden …«
»Nein, Arnie. Betrachte das doch einmal aus ihrem Blickwinkel. Die Russen ließen die deutsche Wiedervereinigung zu, aber erst, nachdem die NATO zugesichert hatte, nicht weiter nach Osten zu expandieren. Und was passierte dann? Deutschland wurde wiedervereint – was übrigens der schlimmste strategische Albtraum der Russen war, zumindest in Europa –, und die NATO erweiterte sich trotzdem nach Osten.«
»Das stimmt nicht. Oder hast du die NATO -Russland-Grundakte von 1997 nicht gelesen? Außerdem passierte das alles lange vor Ryans Präsidentschaft.«
»Aber er steht dazu. Oder hat er etwa unsere NATO -Verpflichtungen in Osteuropa verringert? Kroatien? Albanien? Dann auch noch Montenegro! Um Himmels willen, Arnie, glaubst du wirklich, wir brauchen Montenegro für die strategische Tiefenverteidigung in Europa? Spar dir die Antwort, wir beide kennen sie doch längst. Und die Russen kennen sie auch. Du bist doch eines von Präsident Ryans Wunderkindern. Dann sag mir doch, was du tun würdest, wenn du Russe wärst und die Situation genau umgekehrt wäre?«
»Ich würde jedenfalls nicht meine Nachbarn überfallen.«
»Wirklich nicht? Wenn Kuba plötzlich Atomraketen aufstellen würde? Oder wenn die Russen ihre Bear-Bomber auf Luftstützpunkten in Kanada stationieren würden? Würdest du dann dem Präsidenten raten, geduldig abzuwarten? Weil man das nicht als Bedrohung ansehen könne?«
»Aber wir sind nicht die Russen!«
»Russen!« Dixon schüttelte den Kopf und winkte mitleidig ab. »Was habt ihr Neokonservativen nur mit Russland? Das ist doch heute nichts weiter als eine riesige Tankstelle für Öl und Gas und mit Atomwaffen, die sie nie einsetzen werden. Bestenfalls eine drittklassige Macht.«
»Sag mal, Deborah, welche Farbe hat der Himmel in deiner Welt? In meiner ist er blau, und in meiner Welt ist Russland eine aggressive und extrem gefährliche Atommacht, die immer weiter expandieren wird, wenn niemand sie aufhält. Die Deutschen werden das ganz bestimmt nicht wagen. Aber die Polen – oder zumindest werden sie uns helfen, die Russen aufzuhalten.«
»Unser derzeitiger Verteidigungshaushalt ist zehnmal größer als der Russlands und auch noch deutlich größer als die gesamten Verteidigungsausgaben der nächsten acht Länder, einschließlich Russland und China. Und, verdammt, unser Verteidigungsbudget ist dreimal größer als der gesamte Rest der NATO -Länder zusammengerechnet. Glaubst du im Ernst, ein weiterer amerikanischer Stützpunkt in Polen macht da noch einen Unterschied?«
Arnie seufzte. »Wir waren doch früher einer Meinung? Jetzt verstehe ich dich nicht mehr. Sag mir ganz offen und ehrlich, was du eigentlich willst?«
»Was ich will?« Dixon stand auf. »Ich sag dir, was ich will. Einen Bourbon on the rocks. Willst du auch einen?« Ohne auf eine Antwort zu warten, ging sie zu ihrer Büro-Minibar hinüber.
Während Dixon Eiswürfel in ihr Glas fallen ließ, strich sich Arnie nachdenklich über den kahlen Schädel. Was für ein Spiel trieb diese Frau?
Geistesabwesend glitt sein Blick über die Wände. Er kannte die Fotos – Dixon mit Königen und Präsidenten, mit dem Papst und mit einer Reihe bekannter Wirtschaftsbosse. Auf einem Foto hielt sie einem zweifach Amputierten im Walter-Reed-Militärkrankenhaus tröstend die Hand. Ein anderes Foto zeigte sie im Cockpit eines F-35-Kampfflugzeugs, und auf einem weiteren Foto klebten ihre Augen am Periskop eines Jagd-U-Boots der Los Angeles -Klasse.
Außerdem gab es auch Fotos von Hilfsprojekten, die vom Dixon-Gage Charitable Trust in Afrika und überall auf der Welt finanziert wurden.
Die Fotowand sagte alles. Deborah Dixon war eine sehr erfolgreiche Abgeordnete, eine teilnahmsvolle Politikerin, eine außenpolitische Expertin und, nach ihrem maßgeschneiderten Fendi-Anzug und den Manolo-Blahnik-Pumps zu urteilen, eine Frau mit teurem Geschmack, die einen schwerreichen Mann geheiratet hatte.
Aber sie war zweifellos auch sehr ehrgeizig.
Dixon setzte sich wieder hinter ihren Schreibtisch und nippte an ihrem Bourbon. »Wo waren wir stehen geblieben?«
»Ich will, dass dir eins klar wird: Mit dieser Sache kommst du nicht durch. Präsident Ryan ist entschlossen, den Vertrag verabschieden zu lassen. Er hat sich um deine Zustimmung bemüht, aber du hast ihn in die ausgestreckte Hand gebissen. Das war ein schwerer Fehler, vor allem für eine Person, die ihre Augen auf den höchsten Preis richtet.«
Dixon schnaubte verächtlich. »Verdammt, Arnie, ich habe mal jemanden vom Reinigungspersonal im Weißen Haus überrascht, als er sich an den Schreibtisch des Präsidenten setzte. Zeig mir jemanden in dieser Stadt, der nicht die ›Augen auf den höchsten Preis richtet‹. Die Frage ist nur, was würde irgendeiner dieser Menschen tun, wenn er den Preis tatsächlich erringen würde?«
»Die Nation gegen alle Feinde verteidigen, innere und äußere. Jedenfalls hoffe ich das.«
»Ah, wenigstens dabei sind wir einer Meinung. Aber der Teufel steckt immer im Detail.«
»Schau mal, Deborah. Du willst für das Amt des Präsidenten kandidieren? In Ordnung. Aber mit Ryans Unterstützung würde es dir entschieden leichter fallen als ohne.«
»Und das könntest du heute schon zusichern?«
Arnie schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht, wie du genau weißt. Der Präsident wird die Person unterstützen, die er für am besten geeignet hält.«
»Dann ist die Entscheidung doch wohl klar, oder nicht?«
»Es wäre ein Fehler, gegen die Agenda des amtierenden Präsidenten für die Präsidentschaft zu kandidieren, vor allem, wenn man derselben Partei angehört.«
»Du weißt, dass ich keine typische Parteifunktionärin bin und auch nie war. Ich bin unabhängig.«
»Gut – dann kandidiere eben als Unabhängige!«
»Mit null Chancen? Nein danke. Ich brauche natürlich die Nominierung durch die Republikanische Partei, wenn ich gewinnen will.«
»Dann achte darauf, wie du dich verhältst, warte deine Chance ab und folge der Agenda des Präsidenten!«
Dixons blasiertes Lächeln verschwand. Ihr Gesicht lief rot an vor Wut.
»Soll das ein Ratschlag sein? Klingt eher wie eine Warnung!«
»Nur ein guter Rat. Aber überlege dir gut, welche Konsequenzen es hat, wenn du ihn nicht befolgst.« Arnie stand auf. »Ich muss zu einer Besprechung, Senatorin. Danke, dass du dir die Zeit genommen hast.« Er drehte sich um und ging, ohne auf ihre Antwort zu warten.
Dixon lehnte sich zurück und drehte das Whiskyglas zwischen den Fingern. Innerlich kochte sie vor Wut. Präsident Ryan war sauer. Na schön, das hatte sie erwartet. Das gehörte zu dem Preis, den sie zu zahlen bereit war. Aber sie hatte auch gar keine andere Wahl. Soweit es den Vertrag mit Polen betraf, hatte man ihr glasklare Anweisungen gegeben.
Allerdings hatte sie nicht die Absicht, auf ihre Chance zu warten.
Nachdenklich nippte sie ein wenig Whisky. Der Gedanke, dass Ryan hinter ihr her sein könnte, schickte ihr einen kalten Schauder über den Rücken.
Aber die Alternative war noch viel schlimmer.