Zufrieden?
Mehdi Mohammadi, der iranische Minister für das Nachrichtenwesen, dessen Ministerium auch die iranischen Geheimdienste unterstellt waren, saß nun schon seit mehr als einer Minute unbeweglich vor dem Computermonitor und starrte diese Frage an. Obwohl sie nur aus einem einzigen Wort bestand, war sie höchst interessant und barg ungeahnte Möglichkeiten.
Und Gefahren.
Dass unten am Bildschirmrand eine Countdown-Uhr gnadenlos die Sekunden heruntertickte, war alles andere als hilfreich, um eine solche Entscheidung zu treffen. Noch zweiundvierzig Sekunden.
»Herr Minister?« Der bärtige junge Techniker lächelte hoffnungsvoll. Er mochte seinen Job. Aber noch lieber mochte er es, weiteratmen zu dürfen. Beides geriet in Gefahr, wenn er Mohammadi verärgerte.
»Ich überlege noch.« Mohammadi strich sich mit der guten Hand über den Bart.
Tatsächlich jedoch war er hochzufrieden. Die Intel von CHIBI war genauso gut wie versprochen. Vielleicht zu gut.
Einerseits hatten die Informationen es den Al-Quds-Brigaden ermöglicht, eine Falle zu stellen und die argentinischen Kreuzzügler auszulöschen, wodurch die Tür in Argentinien für weitere Operationen der Hisbollah weit aufgestoßen wurde – vielleicht sogar für den ganzen Subkontinent. Das würde die Amerikaner und Israelis noch weiter von ihrem Krieg gegen den Allerhöchsten Herrn ablenken, den sie ohnehin nicht gewinnen konnten.
»Dreißig Sekunden, Herr Minister.«
»Ich bin nur auf einem Auge blind und kann die Uhr noch ganz gut selbst lesen!«
Das Ministerium für Nachrichtenwesen der Islamischen Republik Iran – Wezārat-e E t ․ t ․ elā ῾ āt-e G ˇ omhūrī-ye Eslāmī-ye Īrān, (abgekürzt VAJA ) – war früher im Englischen besser als VEVAK bekannt gewesen. Es war die größte, mächtigste und finanziell am besten ausgestattete Behörde des Iran, und Mohammadi war unmittelbar dem Obersten Führer Ajatollah Yasseri unterstellt. Selbst der mächtige Expertenrat durfte sich nicht in seine Arbeit einmischen. Im Nahen Osten stand sein Geheimdienst nur dem israelischen Mossad nach; weltweit war er den Geheimdiensten der Großmächte fast ebenbürtig. Nachrichtendienstliche Erkenntnisse – in seiner Branche Intelligence genannt – waren heutzutage der Schlüssel zu buchstäblich allem. Mohammadis »Unbekannte Soldaten des Imam Zaman« führten überall auf der Welt geheime Aufklärungsoperationen durch. Aber geheimdienstliche Informationen von solcher Qualität hatten sie noch nie beschaffen können.
Diese Art von Informationen wird alles verändern.
Intelligence von wahrhaft unschätzbarem Wert.
Aber wie war CHIBI an diese Erkenntnisse gekommen? Mohammadi hatte eine einzige, anonyme E-Mail erhalten; selbst seine besten Techniker hatten den Absender nicht herausfinden können. Die Mail enthielt ein sehr schlichtes Angebot. »Eine kostenlose Probe« war ihm darin versprochen worden.
Mohammadi hatte das zuerst für eine Falle gehalten, für irgendeinen komplizierten Schwindel, durch den ihm die Amerikaner oder die Israelis Informationen über die Operationen der Quds-Einheiten und der Hisbollah in Lateinamerika entlocken wollten.
Aber nicht einmal die Amerikaner würden zwei Dutzend argentinische Spezialkräfte für nichts weiter als ein Täuschungsmanöver opfern.
Es war einfach alles zu gut, um wahr zu sein. Aber bekanntlich wusste Allah, wie er den Verstand der Ungläubigen verwirren konnte. Und wie jeder Geheimdienstprofi wusste, waren die größten Spionageerfolge im Kalten Krieg nicht durch die traditionellen Spionagemethoden erzielt worden, sondern einfach dadurch, dass irgendwelche Leute durch die Tür der Gegenseite spazierten und freiwillig ablieferten, was immer sie wussten – Leute, die das entweder aus ideologischer Überzeugung taten oder weil sie sich von ihrem Ego oder ihrer Gier verführen ließen.
War das auch hier der Fall? Oder war es wirklich nur eine aufwendig und verdammt clevere Falle, um die Revolution zu vernichten? Und wenn es so war – wer steckte dann dahinter?
Die Operationen gegen den sogenannten »Persischen Frühling« hatten in einem totalen Fiasko geendet. Dank sei Allah, dass ich von Anfang an dagegen gewesen war, dachte Mohammadi. Aber bei diesem Streit hatte sich damals dieser Narr Ghorbani durchgesetzt. Sein Tod war sicherlich Allahs gerechte Strafe gewesen, aber die Russen hatten sich bei dieser fehlgeschlagenen Operation schwer die Finger verbrannt. Vielleicht suchten sie jetzt nach einer Art Vergeltung für Reza Kazems Versagen?
Würde Mohammadi diese Gelegenheit nicht nutzen, verlöre er womöglich das mächtigste Schwert, das ihm Allah jemals in die Hand geben würde, um die Kreuzfahrerfeinde Allahs zu besiegen. Allah würde es ihm womöglich niemals verzeihen, wenn er dieses großzügige Angebot ausschlug.
Und sicherlich würde ihm auch der Ajatollah nicht verzeihen, es abgelehnt zu haben. Mohammadis gesundes Auge, das nicht von den brutalen Folterknechten der SAVAK – des berüchtigten Geheimdienstes des Schahs – geblendet worden war, zuckte kurz zu dem Techniker, der direkt neben ihm saß. War dem jungen Mann klar, dass sein Leben in den nächsten paar Sekunden auf der Kippe stand?
Aber es gab noch eine weitere Möglichkeit. Könnte dies nicht das Schwert des Teufels sein, das auf das Herz der Islamischen Republik zielte? Würde er, Mohammadi, am Ende nicht selbst das Schwert aus dem Feuer ziehen und in das Herz der Revolution stoßen, wenn er sich dazu verleiten ließe, auf Informationen zu vertrauen, die von dem Ungläubigen am anderen Ende dieser Computerverbindung geliefert wurden?
Kein Lohn ohne Risiko. So würden es die Amerikaner sehen, oder nicht?
Mohammadi berührte den Stumpf aus verschmolzenen Knochen und verbranntem Gewebe, der von seiner linken Hand übrig geblieben war. Noch so ein Geschenk der CIA und des vom Mossad ausgebildeten SAVAK -Abschaums, die gemeinsam versucht hatten, die iranische Revolution im Keim zu ersticken. Sein Hass auf die Amerikaner und Juden kannte keine Grenzen. Aber Allah hatte sein Leiden genutzt, um ihn so hart wie den Stumpf an seinem Arm zu machen. Aus den heiligen Schriften hatte er viel gelernt, aber nichts war so wichtig wie die Wahrheit, dass es im Paradies keine Feiglinge gab.
Er blickte wieder auf die Uhr. Noch vier Sekunden.
»Schreib: ›Ja, zufrieden‹«, befahl Mohammadi knapp.
Der Techniker seufzte innerlich und tippte die Antwort schnell ein.
Der Austausch erfolgte in Englisch, der Sprache, die CHIBI benutzte. Als junger islamischer Gelehrter war Mohammadi nach Kanada geflohen, um dem mörderischen Zugriff des Schahs zu entkommen. Während seiner Jahre in Kanada hatte er Französisch und Englisch gelernt – bis ihn schließlich die SAVAK -Agenten aufgespürt und nach Teheran zurückverschleppt hatten. Dort hatten sie ihn dann einem intensiven »Verhör« unterzogen.
Auch das war ein Beweis für die allwissende Führung Allahs in seinem Leben.
»Und jetzt frage: ›Wie viel?‹«
Der Techniker gab die Frage ein.
Die Antwort erschien sofort auf dem Monitor.
Sie kennen die Bedingungen.
»Nennen Sie Ihren Preis«, ließ Mohammadi antworten.
Sie kennen die Bedingungen.
»Lassen Sie mich wenigstens wissen, gegen wen ich biete.« Mohammadi befürchtete, bei der Auktion von einem anderen Bieter überboten zu werden, der diese Informationswaffe am Ende gegen die Islamische Republik einsetzen könnte. Andererseits wollte er auch nicht zu viel bezahlen müssen. Die iranische Wirtschaft lag derzeit am Boden. Um die Auktion in London zu gewinnen, würde Mohammadi den Ajatollah um sündhafte hohe Beträge bitten müssen. Aber was wäre, wenn die anderen Mitbieter weit weniger mächtig waren als sein eigenes Ministerium und folglich viel weniger bieten würden?
Sie kennen die Bedingungen.
CHIBI war ganz offensichtlich sehr vorsichtig. Weder Grammatik noch Wortwahl oder argumentative Logik gaben Mohammadi auch nur den geringsten Hinweis auf CHIBI s Identität.
»Feinde der Revolution?«
Sie kennen die Bedingungen.
Natürlich kannte er sie. Absolute Anonymität der Bieter war zugesichert worden. Aber die anderen Bieter mussten sicherlich andere große Geheimdienste sein, die gegen die Amerikaner kämpften. Wer sonst würde das haben wollen, was CHIBI zu verkaufen hatte?
Ja oder nein?
»Ja. Ich werde zum von Ihnen genannten Termin einen Vertreter nach London entsenden.«
Nähere Anweisungen erhalten Sie in Kürze.
CHIBI verschwand vom Display. Irgendeiner der unzähligen digitalen Dschinns, die in der Wildnis des Dark Web herumgeisterten.
Ein kalter Blick aus Mohammadis geblendetem Auge sorgte dafür, dass der Techniker aus dem klimatisierten Raum floh. Der Chef des iranischen Geheimdienstes blieb allein in dem unterirdischen Bunker zurück, umgeben von einem Dutzend großer, leise summender Monitore, und rieb sich nachdenklich den Armstumpf.
CHIBI war ein Genie. Schon ein einziges, geheimes Gebot in einer anonymen Auktion würde dem Anbieter maximalen Profit garantieren. Und wenn CHIBI anderen Interessenten »kostenlose Proben« von derselben Qualität wie für die Sache in Lateinamerika angeboten hatte, war bei der Auktion ein scharfer Wettbewerb zu erwarten – und entsprechend hohe Gebote.
Er musste dringend mit dem Obersten Führer sprechen. Mohammadi stand auf und strich die Falten seiner Klerikerrobe glatt.
Keine Frage, die iranische Volkswirtschaft befand sich auf Talfahrt. Er würde deshalb seine gesamten Überredungskünste brauchen, um beim Obersten Führer die riesige Summe lockerzumachen, die er benötigte, um in London Erfolg versprechend mitbieten zu können.
»Unschätzbar« war eben nicht billig zu haben.
Inschallah.