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Alexandria, Virginia
Hendley Associates

J ack Ryan junior saß vor dem Monitor, starrte die Excel-Tabelle an und kratzte sich hinter dem Ohr. Nichts juckte dort, es war nur eine nervöse Angewohnheit. Aber seit jener Nacht in Afghanistan, als ihm das Ohr bei der Explosion einer Haftbombe fast abgerissen worden war, wurde er das Gefühl nicht mehr los, dass es jederzeit wieder abfallen könnte. Zwar hatte ihm ein Drogenhändler, der zum Islamischen Staat gehörte, das Ohr mit neun Stichen und Katzendarm wieder angenäht, aber seither fanden seine Finger wie von selbst den Weg zurück zur Narbe, und seine Zunge tastete sich automatisch zu der Lücke, die ein schon in seiner Kindheit ausgeschlagener Zahn hinterlassen hatte. Oder die Zunge berührte den Zahn, der bei der Explosion beschädigt, aber inzwischen überkront worden war.

Die Prellungen, Muskelzerrungen und sonstigen Schmerzen, die er bei jener Mission erlitten hatte, waren inzwischen wieder vollständig abgeklungen. Es war einer der brenzligsten Einsätze gewesen, an denen er je beteiligt gewesen war, und er war einfach nur dankbar, dass er ihn überlebt hatte. Und sogar noch dankbarer war er, dass Ysabel Kashani wieder in sein Leben zurückgekehrt war.

Gewissermaßen.

Ysabel hatte die Operation in Afghanistan gemeinsam mit Jack durchgemacht, hatte danach für kurze Zeit in Moskau gearbeitet und war dann wieder nach London zu ihrer Familie zurückgekehrt – wohl um sich von all den Strapazen zu erholen, vor allem aber, um sich darüber klar zu werden, wie es in ihrem Leben weitergehen sollte, und das galt auch für ihre Beziehung zu Jack. Als Jack ihr in Afghanistan wieder begegnete, hatte sie für das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung gearbeitet, aber nach allem, was dort geschehen war, konnte sie nicht mehr in die Region zurückkehren, weder in ihr Heimatland Iran noch nach Afghanistan.

»Ich brauche einfach noch ein wenig Zeit, Jack«, hatte sie gesagt, und in Wahrheit galt das auch für ihn selbst. Er hatte geglaubt, sie sei verheiratet und hätte ein Kind – eine clevere Deckung, auf die er bei seiner Suche in den sozialen Medien gestoßen war –, und wie ein vollkommener Idiot hatte er die Story geschluckt, ohne ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Er hatte geglaubt, sie für immer verloren zu haben, doch jetzt war sie plötzlich wieder da. Weder sie noch er selbst war sich sicher, was das bedeutete oder was die Zukunft bringen würde.

Das war einer der vielen Gründe, warum er für den jüngsten Arbeitsauftrag so dankbar war.

Jack rieb sich das müde Gesicht. Es war spät, höchste Zeit, aufzuhören. Die Zahlen und Spalten der Tabelle wimmelten über den Monitor wie Ameisen auf einem Müsliriegel. Schon seit Stunden brütete er über diesen elektronischen Tabellen und versuchte, aus dem Datenlabyrinth schlau zu werden, das dieses Unternehmen mit den vielen Geldtransfers zwischen seinen internationalen Bankkonten konstruiert hatte, und die Frage zu lösen, warum die Daten im 10-K-Jahresbericht, den jedes börsennotierte Unternehmen einreichen musste, mit den Kalenderdaten nicht übereinstimmten. Es lag auf der Hand, dass hier etwas faul war.

Jack arbeitete als Finanzanalyst für die Investmentfirma Hendley Associates, der »weißen«, öffentlich sichtbaren Seite des Unternehmens, gleichzeitig aber auch als Feldagent für den Campus, der »dunklen« Seite der Firma. Der Campus war eine inoffizielle Geheimdienstorganisation, die im Namen der Vereinigten Staaten Missionen ausführte, für die traditionelle Sicherheitsorganisationen nicht eingesetzt werden konnten oder durften.

Aber solange Jack nicht operativ unterwegs war, arbeitete er hier an seinem Schreibtisch für das Finanzhandelsunternehmen, um den Ruf von Hendley Associates als eine der führenden Investmentfirmen zu mehren. Denn letztendlich verdiente Hendley Associates das Geld, mit dem die vielen verdeckten Operationen des Campus finanziert wurden.

Jack hatte seine berufliche Laufbahn als Finanzanalyst begonnen und liebte diese Arbeit. Aber würde er sich zwischen seinen beiden Jobs entscheiden müssen, würde er den des Feldagenten bevorzugen. Tatsächlich genoss er aber auch die Zeiten, in denen er als Finanzanalyst arbeitete. Die ruhige Arbeit am Schreibtisch aktivierte andere Teile seines Gehirns und baute den Stress und Adrenalinüberschuss seiner Kampfeinsätze ab.

Aber Jack brauchte diesen Stress auch. Er hatte kein Problem damit, bei gefährlichen Einsätzen seinen Teil zu übernehmen. John Clarks Trainingsmethoden hatte er es zu verdanken, dass er sich bislang in taktischen Situationen ganz ordentlich geschlagen hatte – obwohl es natürlich noch viel zu lernen gab. Aber im Umgang mit Handfeuerwaffen war er mittlerweile sehr geübt und geschickt, ebenso in Close Quarters Battle – dem Kampf auf nahe und nächste Entfernung mit allen Mitteln, wozu auch der direkte Nahkampf zählt, einschließlich des Kampfs mit dem Messer.

Aber wie bei seinem Vater war das eigene Gehirn Jacks beste Waffe.

Gedankenabwesend strich sich Jack über den sauber getrimmten Bart, während sein Blick über den Monitor glitt und die Tabellen nach Hinweisen absuchte. Diese Nuss musste er knacken, bevor er sich wieder dem anderen Projekt zuwandte, das er zu analysieren hatte, eine Investmentofferte in Dubai, die ihm immer mehr wie ein zwielichtiges Geschäft vorkam.

Er und sein Vater hatten viele Gemeinsamkeiten, aber in letzter Zeit hatte sich Jack des Öfteren über sein eigenes Leben Gedanken gemacht, eine Art Bestandsaufnahme. Sein Vater, damals Lieutenant im U.S. Marine Corps, war ungefähr in Jacks jetzigem Alter gewesen, als er aus gesundheitlichen Gründen den Dienst hatte quittieren müssen. Danach hatte er Jacks Mom geheiratet, mit ihr zwei Kinder bekommen, als Börsenhändler bei Merrill Lynch ein Vermögen verdient, nebenher seinen Doktor in Geschichtswissenschaft gemacht, an der Naval Academy unterrichtet und war dann für die CIA tätig geworden.

Wenn er sich das Leben als eine Art Wettlauf mit seinem Vater vorstellte, hatte ihn sein alter Herr längst abgehängt. Verdammt, Jack dachte manchmal sogar, er sei in den Startblöcken hängen geblieben. Er nahm die Lesebrille ab und rieb sich den Nasenrücken, um die Kopfschmerzen zu vertreiben, die hinter seinen Augäpfeln zu pochen begonnen hatten. Als das Telefon schrillte, blickte er verblüfft auf die Uhr. Zu spät für normale geschäftliche Anrufe. Auf dem Display leuchtete Gerry Hendleys Nummer auf, Jacks Boss. Jacks Vater hatte Gerry Hendley vor Jahren dazu überredet, die Firma Hendley Associates und den Campus zu gründen.

»Hallo, Gerry.«

»Jack, haben Sie einen Moment Zeit?«

»Ja, natürlich. Ich komme sofort.«

Gerry Hendley, ein ehemaliger Senator aus South Carolina, begrüßte Jack mit einem freundlichen Schulterklopfen und wies auf einen der Besucherstühle vor seinem makellos aufgeräumten Schreibtisch. Er selbst setzte sich auf den anderen Besucherstuhl.

»Danke, dass Sie sofort kommen konnten, Jack«, sagte Hendley mit seinem weichen Südstaatenakzent. »Ich weiß, dass Sie bei dem Dubai-Projekt unter Druck stehen. Haben Sie schon erste Ergebnisse erzielen können?«

»Dad sagte immer, wenn etwas zu gut aussieht, um wahr zu sein, ist es wahrscheinlich so. Ich kann nur noch nicht genau sagen, was daran faul ist.«

»Ich weiß, dass Sie so hartnäckig sein können wie Ihr Vater, und das ist bei solchen Problemen eine Tugend. Kaffee?«

»Nein danke. Womit kann ich Ihnen helfen?«

Hendleys maßgeschneidertes Hemd mit den Doppelmanschetten und den diamantbesetzten Manschettenknöpfen sah so makellos aus wie sein silbern glänzendes volles Haar. Der frühere Senator war selbst ein äußerst scharfsinniger Finanzexperte und hatte sein Unternehmen zu einer der profitabelsten Beratungsfirmen der Finanzbranche gemacht. Aber seine eigentliche Leidenschaft galt noch immer der nationalen Sicherheit. Wie Jacks Vater war auch Hendley ein Patriot der alten Schule, was er auch jederzeit offen bekannte. Noch wichtiger war, dass diese Einstellung nicht nur auf Worten, sondern auch auf Taten beruhte. In seinem Bürosafe bewahrte er einhundert vom Präsidenten unterzeichnete Blanko-Begnadigungen auf – für seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Keine einzige war für ihn selbst bestimmt.

»Ich hatte soeben ein langes und sehr interessantes Telefonat mit Arnie van Damm. Haben Sie schon gehört, was sich heute in Dixons Komitee abgespielt hat?«

»Nein, tut mir leid. Ich war zu sehr in die Geschäftsberichte vertieft.«

»Ich will Sie nicht mit den Details langweilen, aber um die komplizierte Geschichte auf den Punkt zu bringen: Arnie und ich machen uns Sorgen, dass sich Senatorin Dixon für chinesische Interessen einsetzt.«

Jack runzelte die Stirn. »Wow. Das ist ein schwerer Vorwurf.«

»Tatsächlich ist es im Moment eher ein Gefühl, eine vage Vermutung.«

Jack nickte. Wenn sein Vater schon echte Beweise hätte, würde die Frau bereits in der Untersuchungshaft auf ihren Prozess warten, ob sie Senatorin war oder nicht. »Bestimmt wäre sie nicht die Einzige. In D.C. ist heutzutage eine Menge chinesisches Geld im Umlauf.«

»Aber doch wohl kaum unter Leuten mit so viel Macht wie Senatorin Dixon. Wenn das stimmt, hätten wir ein riesiges Problem.«

Jack nickte noch einmal. »Hm. Aber warum erzählen Sie mir das?«

»Ich weiß, dass Sie bis über beide Ohren in Arbeit stecken und dass Sie ein paar Tage Urlaub beantragt haben. Trotzdem möchte ich Sie bitten, alles andere beiseitezulegen und sich Dixons finanzielle Situation genauer anzuschauen.«

Jack rutschte verlegen auf dem Stuhl hin und her. Das Dubai-Projekt abzuschließen hatte für ihn absolute Priorität, aber auch der kurze Urlaub war ihm wichtig. Er hatte dem sterbenden Cory ein Versprechen gegeben und war entschlossen, es zu halten.

»Wir haben doch eine ganze Gruppe von Finanzanalysten, die alle genauso gut wie ich sind oder sogar noch besser. Kann nicht einer von ihnen diese Sache übernehmen?«

Hendley bedachte ihn mit einem breiten Lächeln. Perfekt ausgerichtete Zähne mit Porzellanveneers strahlten auf. Auf Jack wirkte Hendley manchmal wie eine Mischung aus freundlichem Großvater und einem weißen Hai. »Sie verfügen über die genau richtige Kompetenz für diesen Job, mein Junge. Sie haben eine Hartnäckigkeit, die man nicht einfach erlernen kann, und, was noch wichtiger ist, auch den politischen Verstand, der Ihnen sagt, wann Sie vorsichtig agieren müssen, wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Mit anderen Worten, ich soll auch in ihrer Wäscheschublade herumwühlen, darf mich aber nicht erwischen lassen.«

»Nicht den Hauch eines Verdachts dürfen Sie erregen. Erst recht nicht nach dem Chadwick-Fiasko. Wir müssen das auf kleinster Flamme kochen.«

Niemand in der Familie Ryan konnte Senatorin Chadwick sonderlich gut leiden. Bis vor Kurzem hatte Chadwick ihre irrationale, völlig ungerechtfertigte Abneigung gegen Präsident Ryan nicht nur im privaten Kreis, sondern auch in den Medien kundgetan. Dem Präsidenten war es gelungen, ihre Vorwürfe klug und umsichtig von sich zu weisen. Im Grunde war auch ihre Anschuldigung, Präsident Ryan halte sich eine »persönliche Killertruppe«, so dumm und unglaubhaft, dass sie allen außer den stursten Ryan-Hassern fast komisch vorkommen musste – wenn sie der Wahrheit nicht gefährlich nahe gekommen wäre. Denn der Campus war in der Tat eine Geheimwaffe für schnelle Eingriffe, die Jacks Vater zur Verfügung stand, um das Nationalinteresse zu verteidigen, wenn andere Ressourcen nicht eingesetzt werden konnten. Aber der Campus konnte nur effektiv arbeiten, wenn er im Verborgenen blieb. Und das musste auch so bleiben.

Jack seufzte frustriert. »Verstehe.«

»Ich würde Sie nicht darum bitten, wenn es nicht von höchster Wichtigkeit wäre oder wenn ich diesen Job jemand anders anvertrauen könnte. Sie kennen ja Ihren Vater. Er würde nicht im Traum daran denken, das FBI gegen eine gewählte Amtsperson ermitteln zu lassen, solange keinerlei plausible Beweise vorliegen.«

»Und ich soll diese Beweise aufspüren.«

»Das bringt es auf den Punkt.«

»Es kommt zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt.«

»Bei wirklich wichtigen Dingen ist das meistens der Fall.«

Jack nickte zögernd. »Dann werde ich mich wohl daranmachen müssen. Haben Sie irgendeinen Vorschlag, wo ich anfangen soll?«

»Sie werden bei der Senatorin ganz sicher keine Hinweise auf Aktivitäten entdecken, die auf den ersten Blick zu erkennen sind. Und sie wird auf keinen Fall gegen irgendwelche Gesetze verstoßen. Ich würde mich daher zuerst einmal mit ihrem Mann Aaron Gage befassen. Er hat im Laufe der Jahre sehr viele Geschäfte mit den ChiComs durchgeführt und ist auch an der Belt-and-Road-Initiative beteiligt. Seine Investmentfirma ist sehr stark in diesen Infrastrukturprojekten engagiert. Ich vermute, dass das ein guter Ausgangspunkt wäre.«

Jack stand auf. »Ich fange sofort damit an.«