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Distrikt Afrin, Syrien

H auptmann Akar studierte seine Karte im Schein der Innenbeleuchtung seines Kobra-Kommandofahrzeugs, der türkischen Version des Humvee. Der Kommandant der Spezialkräfte »Maroon Berets« konnte vor einem Gefecht nie schlafen, selbst wenn die Kräfteverhältnisse so ungleich waren wie hier.

Er ließ der Heizung wegen den Motor laufen, denn es war eine kalte Nacht. Er nahm wieder einen tiefen Zug von seiner Zigarette und sah auf die Uhr. Erst kurz nach drei. Der Angriff auf das schlafende Dorf sollte in zwei Stunden beginnen, begleitet von Luftnahunterstützung durch in Italien entwickelte T129A-Atak-Hubschrauber. Ein Zug seiner besten Kommandosoldaten führte eine Gruppe von hundertfünfzig tschetschenischen Fanatikern an – ehemaligen IS -Kämpfern, die jetzt auf türkischer Seite gegen das syrische Regime kämpften.

Seit zwei Wochen überfiel seine gemischte Einheit regime-freundliche Dörfer hinter den Linien, schoss alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte, steckte Häuser und Bauernhöfe in Brand und überließ die Frauen der Gnade oder Ungnade der tschetschenischen Monster. Sein Auftrag lautete, jeden bewaffneten Widerstand zu brechen und die ländlichen Gebiete an der Nordgrenze zu terrorisieren, um die widerspenstige syrische Armee zu demoralisieren. Mit etwas Glück würde sich sein Land diesen Teil des Grenzgebiets innerhalb der nächsten Monate einverleiben.

Seine kampfesmüden Soldaten schliefen noch in der Scheune und den Nebengebäuden des kleinen, geräumten Gehöfts, das sie später am Tag niederbrennen würden. Er beschloss, ihnen noch ein paar Minuten Ruhe zu gönnen. Sie hatten sich die Bäuche vollgeschlagen, nachdem gestern eine in Incirlik stationierte Lockheed C-130 Hercules Nachschub für sie abgeworfen hatte: Proviant, Wasser und Munition, mehr als genug, um ihren Terrorfeldzug fortzusetzen.

Der Hauptmann gähnte und streckte sich. Es wurde Zeit, die Wachposten zu kontrollieren und sich noch eine Tasse starken schwarzen Kaffees zu holen. Er stieg aus dem Wagen in die kalte Nachtluft hinaus und zertrat seinen Zigarettenstummel im trockenen Staub. Die Nacht hatte eine dichte Decke aus funkelnden Sternen über den samtschwarzen Himmel gebreitet. Der Anblick raubte ihm fast den Atem. Ein Jammer, dass unter dieser stillen Schönheit so viel Hässliches gedeihen sollte.

Aber war es nicht Allahs Wille?

Östliches Mittelmeer

Kapitän Zweiten Ranges Nikulin studierte die Live-Wärmebilder der Drohne auf seinem LCD -Bildschirm in der von leisem Summen erfüllten Operationszentrale. Die Projekt-21631-Raketen-Korvette Wyschni Wolotschok war eines der modernsten Schiffe der Bujan-M-Klasse und von der Schwarzmeerflotte der Russischen Föderation eigens für diese Sondermission abgestellt worden.

Die aus großer Höhe aufgenommenen Schwarz-Weiß-Wärmebilder zeigten die Temperaturunterschiede der Bodenziele. Auf zwei Gebäuden glühten Schornsteine vor Hitze. Vier Wachposten – jedenfalls die Teile von ihnen, die nicht von Uniformen bedeckt waren – hoben sich wie weiße Gespenster vom dunklen, kalten Boden ab. Einer stand abseits von den anderen an einer dunklen Stelle, mit einer größer werdenden Pfütze zu seinen Füßen. Pisst wie ein Kuh, dachte Nikulin. Genieße es, solange du noch kannst.

Ein besonders heller Fleck auf dem Bildschirm erregte die Aufmerksamkeit des Hauptmanns: ein Fahrzeug mit laufendem Motor, der vor Hitze weiß glühte.

Die Wärmebilder lieferten die visuelle Bestätigung für die Anwesenheit der Banditenkolonne, von der der FSB berichtet hatte. Und was noch besser war: Der GLONASS -Peilsender, den ein FSB -Agent in dem aus der Luft abgeworfenen Munitionsnachschub implantiert hatte, funktionierte nach Auskunft seines Offiziers für elektronische Kampfführung einwandfrei.

Zwei Bestätigungen waren seines Erachtens mehr als genug. Es wurde Zeit.

Nikulin gab seinem Feuerleitoffizier den Befehl. Der Alarm wurde ausgelöst.

Das erste von acht vertikalen Startrohren explodierte in einem grell blendenden Feuerblitz, als das Startbooster des Kalibr-Marschflugkörpers vom Typ SS -N-30 unter ohrenbetäubendem Getöse zündete und, einen weißen Abgasstrahl hinterlassend, in den sternenübersäten, dunklen Morgenhimmel jagte. Sieben weitere Raketen folgten in rascher Folge.

Sekunden später wurden die Booster abgeworfen, und die Turbofan-Marschtriebwerke starteten. Die mit GLONASS -Satellitennavigation ausgestatteten Überschall-Lenkwaffen, die auf Geschwindigkeiten von über einer halben Meile in der Sekunde beschleunigen konnten, würden das Ziel in Nordsyrien in weniger als vier Minuten erreichen und mit ihren jeweils vierhundertfünfzig Kilo schweren, hochexplosiven Sprengköpfen zerstören.

Distrikt Afrin, Syrien

Hauptmann Akar stand am Heck des Mercedes Axor und trank den Rest seines dampfenden schwarzen Kaffees, während sich sein übernächtigter Feldwebel eine Zigarette anzündete. Er hob die Kanne hoch. »Noch einen, Herr Hauptmann?«

»Nein, sonst muss ich nur pinkeln«, antwortete Akar. Er klopfte dem Feldwebel auf die Schulter und grinste. »Es wird Zeit, die Männer zu wecken.«

Der Feldwebel nickte beflissen, und die rot glühende Spitze seiner Zigarette wippte in der Dunkelheit.

Die beiden Männer wandten sich zum Gehen, blieben aber wie erstarrt stehen. Das unverwechselbare Dröhnen von Turbofan-Triebwerken ertönte in der Ferne.

»Hauptmann …«

Die erste Rakete schlug ein und verdampfte die beiden Männer in einer Explosion, die den Boden erschütterte und den Himmel taghell erleuchtete. Sieben weitere folgten in ebenso vielen Sekunden.

Die letzten Explosionen des brennenden Munitionslasters hallten noch Minuten später von den flachen Hügeln wider. Inmitten der Flammen gellten die Schreie der wenigen überlebenden Verwundeten durch die Nacht.

Konzeptbeweis Nummer drei.