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Warschau, Polen

J ack musste zugeben, dass ein Flug mit der Gulfstream G550 allemal besser war als ein kommerzieller Flug in der ersten Klasse. Kein Schlangestehen an der Sicherheitskontrolle, kein Warten vor dem Boarding, keine hustenden Kids, die Rotz und Bakterien im Flieger verteilten, und keine schnarchenden Sitznachbarn – na ja, außer wenn Ding Chavez irgendwo in der Kabine ratzte.

Für Gerry war es ein teurer Spaß, ihn in einer leeren Maschine rüberzufliegen, aber er hatte so entschieden, und Jack war ihm dafür dankbar. Es ersparte ihm viel Zeit bei einem Auftrag, den er eigentlich gar nicht hatte übernehmen wollen. Er hatte am anderen Ende des Planeten eine Verpflichtung zu erfüllen, und damit auch nur einen Tag länger als nötig warten zu müssen, nervte ihn gewaltig.

Von Flugkapitänin Helen Reid und ihrem Ersten Offizier und Co-Piloten Chester »Country« Hicks mit sicherer Hand gesteuert, setzte der G550-Privatjet sanft auf der Rollbahn des Chopin-Flughafens Warschau auf, Polens größter und wichtigster Flughafen. Reid rollte zu dem kleinen Privatterminal eines örtlichen Fixed-Base-Operators, den die Logistik- und Transportleiterin für Hendley Associates und den Campus damit beauftragt hatte, die Landerechte einzuholen, die Maschine aufzutanken und nötige Wartungsarbeiten durchzuführen.

Jack gähnte und zog sein Sakko an. Der Nachtflug hatte etwas länger als zehn Stunden gedauert, ohne dass die mit zwei Rolls-Royce-Triebwerken ausgestattete Gulfstream hatte zwischenlanden müssen. Ursprünglich hatte Jack unterwegs schlafen wollen, dann aber beschlossen, sich etwas genauer mit den wenigen Unterlagen über Gage Capital Partners und die zwei Dutzend Briefkastenfirmen zu beschäftigen, die, wie er herausgefunden hatte, mit Aaron und seinem Sohn Christopher in Verbindung standen. Eine Stunde vor der Ankunft war es ihm dann doch gelungen, ein Nickerchen einzuschieben, und als er aufwachte, hatte ihm Lisanne einen starken Kaffee hingestellt sowie ein herzhaftes Sandwich mit Truthahnwurst und Ei, das er verschlang, bevor sie landeten.

Es war sehr schade, dass Midas – Bartosz Jankowski – auf den Philippinen festhing, wo er für den Campus einen Auftrag erledigte. Jack hatte den ehemaligen Ranger weder über das Geburtsland seiner Eltern reden hören noch hatte er erwähnt, jemals dort gewesen zu sein. Aber Midas sprach fließend Polnisch und Russisch. Und bei Schießereien war der ehemalige Delta-Aufklärer immer eine große Hilfe. Allerdings war auf dieser Dienstreise allenfalls zu befürchten, dass Jack sich beim Blättern in einem Kontokorrentbuch in den Finger schnitt, sofern er überhaupt eins in die Hände bekam.

»In acht Stunden fliegen wir wieder ab. Besteht die Chance, dass du bis dahin fertig bist? Ich würde dich gern mit zurücknehmen, wenn es dir nichts ausmacht, in London zu übernachten.«

Jack versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen. Ysabel war noch in London, wo sie bei ihren Eltern wohnte. Ein Zwischenstopp in London wäre ein guter Vorwand, ohne Einladung bei ihr aufzukreuzen, um herauszufinden, was eigentlich zwischen ihnen lief.

Falls überhaupt noch was lief, dachte Jack. Er begann sich zu fragen, ob hinter der Funkstille ihrerseits nicht vielleicht mehr steckte als nur das Bedürfnis nach Ruhe und Erholung. Ihre gemeinsame Zeit in Afghanistan hatte gezeigt, dass sie einander noch mochten. Andererseits aber auch nicht darüber hinwegtäuschen können, dass es noch ungelöste Probleme zwischen ihnen gab. Im Moment vermochte er nicht zu sagen, was am Ende die Oberhand behalten würde.

»Leider nein. Es kann acht Stunden oder acht Monate dauern, bis ich dieser Sache auf den Grund gegangen bin.«

»Kann ich dir irgendwie helfen?«

Jack lächelte. Lisanne wusste, wie man mit Waffen umging, wie man einen Raum sicherte und wie man, allgemein gesprochen, Leuten in den Hintern trat, mal ganz abgesehen davon, dass sie fließend Arabisch sprach. Doch soweit er wusste, verstand sie nichts von forensischer Buchhaltung, daher konnte sie nicht viel für ihn tun, zumal sie sich gar nicht in den Fall eingearbeitet hatte. Aber so war sie nun mal, immer hilfsbereit, egal unter welchen Umständen. Das war nur einer der vielen Gründe, warum sie sich keine bessere Nachfolgerin für Adara Sherman auf dem Posten der Transportdirektorin hätten wünschen können.

»Vielleicht ein kurzes Gebet um Geduld. Was ich vorhabe, erscheint mir wie der Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln.«

»Immer noch besser, als in Louisiana Scheiße zu schaufeln.«

»Kann ich nicht beurteilen. Ich war nie in Louisiana.«

Jack streckte den Kopf ins Cockpit, drückte Reid und Hicks die Hand und dankte ihnen für den tollen Flug, dann reichte ihm Lisanne seine Leder- und seine Computertasche.

»Gutes Gelingen!«

»Und euch einen guten Flug.«

Jack stieg die Stufen zum Rollfeld hinunter. Der dunkler werdende Himmel verhieß Regen, und ein leichter Wind zerzauste sein Haar. Das trübe Wetter störte ihn nicht übermäßig, trug aber auch nicht zur Verbesserung seiner Laune bei. Er ging in den Hangar und ins Büro des Flughafendienstleisters, wo er rasch und problemlos den Zoll passierte – ein weiterer Vorteil bei Privatflügen. Mit seinen beiden Taschen und einem frischen Stempel im Pass trat er durch die Vordertür des Mini-Terminals und hielt nach seinem polnischen Kontaktmann Jerzy Krychowiak Ausschau, einem siebenundfünfzigjährigen ABW -Agenten, mit dem Gerry ein Treffen arrangiert hatte.

Jack trat an den Bordstein und suchte mit den Augen die Straße ab.

Wo zum Teufel war er?

»Jack Ryan?« Eine Frauenstimme.

Jack drehte sich um und fing den selbstbewussten, aber müden Blick einer attraktiven Frau auf, die – blond, blauäugig, ungefähr in seinem Alter – vor einem silbernen Audi A5 Coupé stand, der hinter ihr am Straßenrand parkte. Unter ihrem locker sitzenden blauen Blazer zeichnete sich ein Schulter-Holster ab.

Nicht das, was er erwartet hatte. Aber besser als ein Tritt vor den Kopf.

»Ja, der bin ich.«

Sie streckte ihm die Hand hin. »Hallo, Mr. Ryan. Mein Name ist Liliana Pilecki. Ich bin von der ABW

Jack zögerte. Das war höchst ungewöhnlich. »Wo ist Mr. Krychowiak?«

»Er kann leider nicht kommen. Er ist letzte Nacht von einem Auto angefahren worden. Der Fahrer ist flüchtig. Die Ärzte haben ihn vor einer Stunde in ein künstliches Koma versetzt.«

»Das tut mir wirklich sehr leid. Wird er durchkommen?«

»Jerzy ist ein kräftiger Mann. Ich bete, dass er das überlebt.«

Kein Wunder, dass sie müde aussieht, dachte Jack. »Sie machen einen mitgenommenen Eindruck. Er muss Ihr Partner sein.«

»Ich habe bei seiner Frau gesessen, während er operiert wurde. Es war eine lange Nacht.«

»War es ein Unfall oder Absicht?«

»Wir ermitteln noch. Der Wagen wurde drei Kilometer vom Tatort entfernt gefunden, völlig ausgebrannt.«

»Wie haben Sie den Wagen identifiziert?«

»Mithilfe von Verkehrsüberwachungskameras. Der Wagen war gestohlen. Den Fahrer konnten wir nicht identifizieren.«

»Ich frage nicht gern, aber würden Sie mir bitte Ihren Ausweis zeigen?«

»Ja, natürlich.« Sie griff in ihre Jackentasche, zog ein kleines Lederetui hervor und reichte es Jack. Natürlich war alles auf Polnisch. Die paar Brocken Russisch, die er konnte, halfen ihm hier nicht weiter.

»Danke.« Er gab ihr den Ausweis zurück. »Hören Sie, Sie haben im Moment viel um die Ohren. Ich kann mir auch ein Uber-Taxi bestellen und …«

»Seien Sie nicht albern. Mein Vorgesetzter hat mich über die Angelegenheit unterrichtet und mir Gerry Hendleys E-Mail-Anfrage geschickt. Ich fahre Sie nur herum und mache, wenn nötig, die Dolmetscherin. Für mich ist das kein Problem. Ehrlich.« Sie runzelte die Stirn. »Haben Sie Mr. Hendleys Nachricht nicht bekommen?«

Mist.

Jack hatte seit der Landung noch nicht sein Handy gecheckt. Er schaltete es ein. Da war die Nachricht. Mit ihrem Namen neben seinem in der Adresszeile.

Planänderung. Agentin Liliana Pilecki wird sich drüben um Sie kümmern. Rufen Sie mich an, wenn es ein Problem gibt.

Jack rieb sich die müden Augen. »Verzeihen Sie, Ms. Pilecki. Ich bin heute Morgen ein bisschen neben der Spur. Ich danke Ihnen, dass Sie mich abholen und meinen lahmen Hintern durch die Gegend kutschieren.«

»Kann ich Ihnen eine Tasche abnehmen?«

»Nein danke, nicht nötig.« Jack verbarg mit dem Handrücken ein Gähnen.

»Sie müssen einen Jetlag haben. Ich setze Sie im Hotel ab, und wir legen dann später am Nachmittag los.«

»Nein, nein, mir geht es gut. Ich würde lieber gleich anfangen.«

»Wie Sie wollen.«

Liliana öffnete den Kofferraum des Audis, und Jack verstaute seine Taschen. Zehn Minuten später fuhren sie auf einer von Bäumen gesäumten, vierspurigen Straße, auf der dichter Pendlerverkehr herrschte, in Richtung Stadtzentrum, dessen moderne Wolkenkratzer in der Ferne emporragten.

»Waren Sie schon einmal in Warschau, Mr. Ryan? Oder in Polen?«

»Bitte nennen Sie mich Jack. Und nein. Es ist das erste Mal.«

Jack sah aus dem Beifahrerfenster. Viel Grün und saubere Straßen. »Eine schöne Stadt.« Ein Unwetter zog auf. Die ersten Tropfen klatschten auf die Windschutzscheibe. Die automatischen Scheibenwischer sprangen an.

»Für mich ist sie vor allem groß. Ich stamme aus einer Kleinstadt bei Krakau im Süden, aber ich lebe sehr gerne hier.«

»Ihr Englisch ist übrigens hervorragend.«

»Danke. Ich habe Verwandte in Chicago. Ich habe dort ein Auslandsjahr an der Highschool gemacht und dann zwei Jahre an der Loyola University studiert, Klavier im Hauptfach und Rechnungswesen im Nebenfach.«

»Interessante Kombination.«

»Rechnungswesen war die Idee meines Vaters. Er war ein sehr praktisch denkender Mensch.«

»Ist er verstorben?«

»Letztes Jahr. Prostatakrebs.«

»Das tut mir leid.«

»Danke.«

»Und wie lange sind Sie schon bei der ABW

»Fünf Jahre.«

»Brauchen sie viele Pianistinnen in Ihrer Abteilung?«

Sie lachte. Eine angenehme Überraschung für sie beide.

»Nein, nicht viele. Mein Türöffner war mein Abschluss in Rechnungswesen, auch wenn ich die Prüfung nur mit Ach und Krach bestanden habe.«

Ihr Lachen entblößte schöne Zähne, bemerkte Jack. Und einen Ehering trug sie auch nicht. Aber Bosnien war ihm eine weitere Lehre in Sachen Frauen gewesen, und so nahm er sich vor, sich zu zügeln.

»Und wie sind Sie vom Klavierspielen zum Waffentragen gekommen?«

»Meine Schwester ist in dem Jahr, in dem ich meinen Abschluss gemacht habe, an einer Überdosis Heroin gestorben.«

»Wie furchtbar. Das tut mir sehr leid.«

»Der Tod ist uns in Polen nicht sehr fremd. Trotzdem danke. Nach ihrem Tod fühlte ich mich so ohnmächtig und wütend. Und ich dachte mir, bei der ABW könnte ich etwas Gutes tun. Vielleicht die Schwester von jemand anderem retten. Das war das Mindeste, was ich tun konnte.«

»Drogen sind ein Gift, das die gesamte westliche Welt bedroht«, sagte Jack. »Letzte Jahr sind über 70 000 Amerikaner an einer Überdosis gestorben. Mehr, als im Vietnamkrieg gefallen sind.«

»Auch Europa hat mit dem Problem zu kämpfen, und hier wird es mit jedem Tag schlimmer. Schwerpunkt meiner Arbeit ist die organisierte Kriminalität, deshalb spielen Drogen und Drogengeld bei meinen Ermittlungen eine große Rolle.«

»Und jetzt haben Sie mich an der Backe.«

»So würde ich das nicht sehen. Ich freue mich, Ihnen behilflich zu sein.«

»Das weiß ich zu schätzen.«

Aber wie können Sie mir behilflich sein?, fragte sich Jack. Ich darf Ihnen ja nicht sagen, dass ich nach dem Dreck suche, den eine amerikanische Senatorin am Stecken hat. Und einmal ganz davon abgesehen, dass ihn Gerry zu strengem Stillschweigen verdonnert hatte, widerstrebte Jack die Vorstellung, der Agentin eines ausländischen Geheimdienstes, selbst wenn es ein verbündeter war, Amerikas schmutzige Unterwäsche zu zeigen.

»Ich bin, wenn ich das so sagen darf, ein großer Fan Ihres Präsidenten«, erklärte Liliana. »Er hat den Mut besessen, den Russen die Stirn zu bieten, als die meisten führenden Politiker der NATO -Staaten gekniffen haben.«

»Ich bin auch ein großer Fan von ihm.«

»Und Sie sind Finanzanalyst bei Hendley Associates, richtig?«

»Ja.«

»Interessant, dass Ihr Boss, Mr. Hendley, mit dem Leiter der ABW befreundet ist.«

»Gerry war früher US -Senator. Er kennt eine Menge Leute in aller Welt.«

»Wie ich höre, ist er ein enger persönlicher Freund von Präsident Ryan.«

»Ja, das ist er.«

»Gut, Jack, dann sagen Sie mir: Wo wollen Sie anfangen?«

»Ich bin mir nicht ganz sicher.«

»Könnten Sie mir dann vielleicht sagen, wonach Sie suchen?«

»Ich ermittele, welche Geschäftsbeziehungen ein Unternehmen unterhält, das in Polen unter dem Namen Baltic General Services LLC registriert ist. Es ist zu hundert Prozent im Besitz von zwei Parteien. Eine davon ist ein Amerikaner namens Christopher Gage. Haben Sie schon mal von ihm gehört?«

»Leider nein. Und warum ermitteln Sie gegen ihn?«

»Ich habe mich schlecht ausgedrückt. Ich stelle keine Ermittlungen im eigentlichen Sinn an. Meine Firma handelt im Auftrag eines Kunden, der mit Gage Geschäfte machen möchte, aber Genaueres über seine Finanzen erfahren will, bevor er in der Beziehung einen Schritt weiter geht. Genügt das als Erklärung?«

»Fürs Erste ja. Und was macht diese Firma namens Baltic General Services in Polen?«

»Das herauszufinden gehört zu meinen Aufgaben. Anscheinend arbeitet sie in Polen mit anderen Firmen zusammen.«

»Was für Firmen?«

»Das weiß ich nicht genau. Sie sind in Privatbesitz wie Baltic General Services und übrigens auch Gages Mutterunternehmen, die Gage Group International. Das ist einer der Gründe, warum ich hier bin. Mir ist nicht klar, was diese Firmen tun – zu Hause sind meine Informationsquellen in Bezug auf polnische Firmen beschränkt. Abgesehen von der Tatsache, dass Gages Unternehmen an ihnen beteiligt sind, haben sie nur eine Gemeinsamkeit: Gage hat die Investitionen über eine deutsche Regionalbank abgewickelt, was doch etwas merkwürdig ist.«

»Wie heißt die Bank?«

»OstBank.«

Liliana zog die Stirn kraus. »Sind Sie sicher?«

»Ja. Warum?«

»Ich bin nicht befugt, Näheres darüber zu sagen, aber so viel kann ich Ihnen verraten: Die Bank ist für meine Behörde keine Unbekannte.«

»Geldwäsche?«

Liliana trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad und wog ihre Antwort ab. »Letzte Woche wurde ein Kollege vom deutschen BKA in Berlin ermordet.«

»Und er hat gegen die OstBank ermittelt?«

»Genau.«

»Dann muss ich da ansetzen. Wann machen die Banken hier auf?«

»Erst in einer Stunde.«

»Dann schlage ich vor, Sie fahren mich ins Hotel, und ich springe kurz unter die Dusche und rasiere mich, bevor wir loslegen.«

»In Ordnung. Ich warte solange in der Lobby.«