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J acks Hotel lag in der Innenstadt, sodass man überall bequem zu Fuß hinkam, was für halb Warschau zu gelten schien. Die helle und moderne Hotellobby war in gedämpften Grau- und Blautönen gehalten und mit weißen Ledersofas und Möbeln im dänischen Stil eingerichtet. Die junge Empfangschefin, eine freundliche Ukrainerin, sprach fließend Englisch. Mit einem strahlenden Lächeln teilte sie ihm mit, dass sein Zimmer bezugsfertig und die Kundenkarte freigeschaltet sei, falls er den Zimmerservice oder andere Dienste in Anspruch nehmen wolle.

»Die Bank öffnet in wenigen Minuten«, sagte Liliana. »Soll ich anrufen und für Sie einen Termin vereinbaren?«

»Für uns, würde ich sagen.«

»Und was soll ich als Grund nennen?«

»Sagen Sie, dass ich für Hendley Associates arbeite, dass wir eine große amerikanische Investmentfirma sind und in Polen Geschäfte machen wollen.« Eilends fügte er hinzu: »Was grundsätzlich ja auch der Wahrheit entspricht. Wenn sich hier Geschäftsmöglichkeiten bieten, möchte Gerry das wissen.«

Liliana lächelte. »Lügen fällt Ihnen schwer, nicht wahr?«

»Ich bin nicht gerade dazu erzogen worden.«

»Sie würden einen miserablen Spion abgeben.«

»Ich kann auch nicht kochen.«

»Und als was soll ich mich vorstellen?«

»Wäre es für Sie okay, wenn Sie sagen, Sie seien hier in Warschau meine persönliche Assistentin?«

»Klingt plausibel. Ich rufe an, während Sie sich frisch machen.«

»Bin in einer halben Stunde wieder da.«

Liliana setzte sich auf eine weiße Couch und zückte ihr Telefon.

Jack nahm mit seinen beiden Taschen die Treppe, um sich in Schwung zu bringen. Doch eigentlich sehnte er sich nach einer weiteren Tasse Kaffee. Vielmehr einer ganzen Kanne.

Fünfundzwanzig Minuten später war er wieder in der Lobby, geduscht und rasiert und in sauberer Kleidung, eine Ledermappe in der Hand und seine Laptop-Tasche über der Schulter. Liliana saß noch auf demselben Sofa und tippte Nachrichten auf ihrem Handy.

»Können wir?«

»Ja.« Liliana stand auf und steckte das Handy ein. »Der Bankmanager heißt Stanislaus Zbyszko. Er erwartet uns.«

»Wunderbar. Bitte nach Ihnen.«

Ein nicht abreißender Strom von Straßenbahnen und Autos beförderte Menschen überallhin, doch auch die Gehwege waren stark bevölkert, obwohl es regnete.

Liliana steuerte geschickt durch den dichten Verkehr auf der sechsspurigen Allee und hielt sogar mit der hellgelben Straßenbahn mit, die auf der siebten Spur in der Mitte rollte. Warschau war eine moderne, pulsierende europäische Großstadt. Bürogebäude säumten die Hauptverkehrsadern, zusammen mit Wohntürmen und glitzernden Wolkenkratzern.

»Wir sind gleich da«, sagte Liliana.

»Die Gebäude in Warschau sehen nagelneu aus, jedenfalls die meisten.« Der Audi hielt an einer roten Ampel. Jack deutete auf ein Hochhaus auf der anderen Straßenseite. »Ich habe keine Ahnung, was das ist. Sieht aus wie eine monstermäßige Hochzeitstorte.«

»Das ist der Kultur- und Wissenschaftspalast. Er wurde in den Fünfzigerjahren von den Sowjets gebaut. Jahrzehntelang war er das zweithöchste Gebäude in ganz Europa.«

»Es sieht fast so aus wie das Empire State Building, bis auf ein paar merkwürdige Besonderheiten. Auf jeden Fall ist es verdammt groß.«

»Wir Einheimischen nennen es Stalins Penis.«

Jack lachte. Mit so etwas hatte er nicht gerechnet. »Du lieber Himmel, er wirkt ziemlich imposant.«

»Die Russen haben damit eine klare Botschaft gesendet. Schließlich waren wir zu der Zeit eine sowjetische Kolonie.«

»Es hebt sich von der übrigen Architektur ab.«

»Das meiste, was Sie sehen, ist relativ neu. Sie müssen nämlich wissen, dass Warschau fast vollkommen zerstört wurde – dem Erdboden gleichgemacht wie Hiroshima und Nagasaki.«

»Von den Nazis?«

»Ja, und den Russen, die es zugelassen haben. Haben Sie schon mal vom Warschauer Aufstand gehört?«

»Ja, aber nur am Rande. Ausführlich damit befasst haben wir uns nicht.«

»Er zählt zu unseren heroischsten Momenten. 1944 haben sich Tausende Polen gegen die Nazi-Besatzer erhoben. Die Waffen hatten sie selbst gebaut, den Nazis gestohlen oder von den Briten erhalten, die sie aus der Luft abgeworfen hatten. Die Sowjets standen am anderen Ufer der Weichsel und drängten sie dazu, sich zu erheben. Aber dann wurden unsere Kämpfer – die besten des polnischen Untergrunds –niedergemetzelt, weil die Russen nicht eingriffen. Stalin ließ zu, dass die Deutschen sechzehntausend Polen abschlachteten, weil er nicht wollte, dass irgendwelche polnischen Patrioten den Krieg überlebten.«

»Wenn es nach mir ginge, würde ich die Hochzeitstorte in die Luft sprengen und aus den Ziegelsteinen Klohäuschen bauen.«

»Wir lassen sie lieber stehen, als Erinnerung an den russischen Verrat. Sind Sie in Geschichte bewandert?«

»Ich habe auf dem College Geschichte studiert.«

»Das ist gut. Die meisten Amerikaner interessieren sich offenbar nicht dafür. Wie ich festgestellt habe, scheinen die Amerikaner zu glauben, dass der Zweite Weltkrieg am 1. September 1939 mit dem deutschen Einmarsch in Polen begonnen hat, doch dabei vergesst ihr, dass Hitler das nur getan hat, weil er zuvor einen Pakt mit Stalin geschlossen hatte. Der hat uns drei Wochen später selbst überfallen, und Polen wurde in zwei Teile zerlegt wie eine Weihnachtsgans. Die Deutschen wurden besiegt, aber die Russen haben nach dem Krieg ganz Polen für sich behalten. Welche Ironie, finden Sie nicht? Die Briten haben vor dem Krieg Hitler beschwichtigt und nach dem Krieg Stalin. In beiden Fällen haben die Polen den Preis dafür bezahlt. Die Alliierten haben Deutschland wegen Polen den Krieg erklärt, doch am Ende haben sie uns verraten und unser Land den Kommunisten zum Geschenk gemacht. Für euch war der Krieg 1945 zu Ende. Aber für uns? Erst 1989, als der Kommunismus schließlich zusammenbrach. Wir mussten fünfzig Jahre Besatzung erdulden, und am Ende mussten wir uns selbst befreien.«

»Von der Seite habe ich es noch nie betrachtet.«

»Entschuldigen Sie, dass ich so viel rede. Aber Geschichte ist für uns nicht nur ein Unterrichtsfach. Sie ist Teil unseres Alltags.«

Die Ampel schaltete auf Grün, und Liliana gab Gas. »Übrigens, dass so viel Gebäude hier neu sind, liegt daran, dass fast neunzig Prozent der alten im Verlauf des Krieges von den Deutschen zerstört wurden. Nach der Niederschlagung des Aufstands haben sie auf dem Rückzug alles, was noch stand, dem Erdboden gleichgemacht und bei Massenexekutionen zweihunderttausend Zivilisten ermordet.«

Jack wusste nicht, was er sagen sollte. Er konnte sich das Ausmaß der Zerstörung nicht vorstellen, geschweige denn das durch Grausamkeit und Verrat verursachte kollektive Leid.

Liliana bedachte ihn mit einem höflichen Lächeln. »Willkommen in Polen.«

Sie setzten die Fahrt schweigend fort. Ein paar Minuten später bog Liliana in eine andere belebte Straße ab und fuhr auf einen Parkplatz direkt gegenüber einem hoch aufragenden Gebäude, an dem noch gebaut wurde. Sie stellte den Motor ab und zog die Handbremse an.

»Wir sind da.«

Jack schob seinen Laptop unter den Sitz. »Dann mal los.«