J ack und Liliana saßen in Wilczeks beengtem Büro, dessen Stahlregale mit Frachtpapieren und Speditionsunterlagen aus Jahrzehnten vollgestopft waren. Auf dem Schreibtisch stapelten sich fleckige Aktenordner und Versandberichte um eine von Kippen überquellende Radkappe, die in einen Aschenbecher umfunktioniert worden war. Wilczek faltete die dicken Hände über dem drallen Bauch und lehnte sich in seinem Sessel hinter dem ramponierten Stahltisch zurück.
»Ich habe keine Ahnung, Mr. Ryan. Ich habe noch nie von einem Christopher Gage gehört. Vielleicht der Besitzer, aber ich nicht.«
»Können Sie mir wenigstens sagen, in welcher Beziehung Sie zu Baltic General Services stehen? Was tun Sie für sie?«
Der große Mann zuckte mit den Schultern. »Was wir für sie tun? Nichts, soweit ich weiß. Aber sie haben viel für uns getan. Eine kleine Lohnerhöhung für meine Mitarbeiter, ein neues Computersystem, in das sich Mrs. Lewandoska immer noch einzuarbeiten versucht. Einen neuen Getränkeautomaten im Pausenraum.«
»Und wie läuft das Geschäft?«, fragte Jack. »Bei unserer Ankunft habe ich gesehen, dass vor jeder Laderampe ein Lkw steht.«
»Das Geschäft läuft gut. Sehr gut. Aber ich mache nicht die Buchführung. Darüber kann Ihnen nur Mr. Stapinsky Auskunft geben.«
»Hätte er denn Zeit für ein Gespräch?«
»Mr. Stapinsky lebt in Krakau. Seine Familie stammt aus der Gegend. Er besitzt dort unten Firmen und Immobilien.«
»Was das hiesige Geschäft angeht: Kommen jetzt mehr Lkw? Kriegen Sie mehr Lieferungen?«
Wilczek kratzte sich am Kopf und überlegte. »Ja. Mehr Lkw, mehr Lieferungen. Aber andere als früher.«
»Inwiefern andere?«
Die Federung seines Sessels quietschte wie eine rostige Türangel, als er aufstand. Er klaubte ein großes, aufklappbares Kartonmesser von seinem überladenen Schreibtisch.
Jack stellte sich vor, wie Wilczek damit auf ihn losging, mit seinem Gorilla-Arm in weitem Bogen ausholte und mit der Klinge nach seiner Kehle zielte.
So arbeitete Jacks Gehirn mittlerweile – genau darauf hatten es Ding und Clark trainiert. Immer vorausschauen. Wilczek würde in keinem Fall einen leicht zu bezwingenden Gegner abgeben, aber mit einem Messer, mit dem er umzugehen verstand? Es wäre schwierig, dabei unverletzt zu bleiben.
Oder vielmehr, am Leben zu bleiben.
»Folgen Sie mir, Mr. Ryan.«
Die Lagerhalle war voll mit Paletten, die in ordentlichen Reihen an den Laderampen ausgerichtet waren. Gabelstapler fuhren zwischen der Halle und den langen Sattelzügen hin und her und stapelten vorsichtig die Paletten. Ein paar Lagerarbeiter schoben Sackkarren mit unpalettierter Ware. Die Luft roch nach dem Erdgas der Staplermotoren und dem verbrannten Hartgummi ihrer Reifen. Die großen Stapler klapperten und schepperten, wenn sie leer aus den Aufliegern herausgeschossen kamen.
»Sehen Sie?«, fragte Wilczek mit einer ausholenden Armbewegung. »Alles, was wir jetzt kriegen, ist billige Chinaware. Das sind die Geschäfte, die über die ›Neue Seidenstraße‹ abgewickelt werden, von der ständig geredet wird.«
Wilczek zerschnitt mit seinem scharfen Kartonmesser die Plastikumhüllung einer Palette, zog einen Karton heraus, schlitzte das Klebeband auf und brachte ein verpacktes Radio zum Vorschein. Er deutete mit dem Messer auf die Schachtel. »Sehen Sie? Made in China. Alles. Ohne Ausnahme.«
Wilczek brüllte einem seiner Männer zu, er solle das Gerät wieder verpacken, dann führte er Jack und Liliana zu einer der offenen Paletten neben der nächsten Tür. Die Kartons waren mit einer Kombination aus Englisch und Chinesisch beschriftet, manche auch auf Polnisch, Französisch oder Deutsch. Zwei junge Männer luden sie gerade auf schwere Sackkarren um. Sie schienen einen Zahn zuzulegen, als Wilczek nahte. Er knurrte ihnen etwas zu, und der Größere antwortete in unterwürfigem Ton, während der andere mit seiner vollbeladenen Sackkarre zum offenen Schlund des über zehn Meter langen Aufliegers eilte. Der Große wuchtete die letzten Kartons auf seine Karre und jagte ihm nach.
Als sie außer Hörweite waren, kicherte Wilczek. »Ukrainer. Gute Jungs. Fleißige Arbeiter.« Er zwinkerte Jack zu. »Aber sagen darf man ihnen das nicht, sonst arbeiten sie nicht mehr so hart, oder?«
Jack sah sich in der Halle um. Chinesisch konnte er nicht lesen, aber die englischen Aufdrucke verrieten, was die Kartons enthielten: Gettoblaster, Kinderfahrräder, Glaswaren, Damenschuhe, Handwerkzeuge, Dachnägel.
Ein Telefon klingelte über die Lautsprecher, die an der Decke hingen, und im nächsten Moment war die brüllende Stimme der Empfangsdame zu vernehmen. Jack hörte nur die Worte Pan Kierownik heraus.
»Wenn Sie mich bitte entschuldigen. Ich muss den Anruf entgegennehmen. Aber bitte schauen Sie in meinem Büro vorbei, wenn Sie gehen.«
»Das werden wir«, sagte Jack.
Sobald Wilczek hinter seiner Bürotür verschwunden war, sagte Jack zu Liliana: »Sie sind ja so still.«
»Haben Sie gefunden, was Sie suchen?«
Jack deutete mit dem Kopf auf eine in Plastik eingeschweißte Palette. »Wenn ich zweihundert Akku-Stichsägen brauchen würde, dann ja. Im Übrigen bin ich verwirrt.«
Die beiden Ukrainer stöhnten und schwatzten, während sie Kartons hinten in den Laster stapelten.
»Ich sehe mich noch etwas um«, sagte Jack.
»Und ich rede mit den beiden Jungs, wenn sie zurückkommen.«
Jack näherte sich dem Heck des halbvollen Aufliegers, als die letzten Kartons verstaut waren. Die beiden Ukrainer eilten mit ihren leeren Sackkarren an ihm vorbei, deren Vollgummireifen über die stählerne Ladeklappe rumpelten. Soweit er es beurteilen konnte, machten die Jungs einen guten Job. Sie verstauten schwere Ware wie Wagenheber und Dachnägel unten im Fahrzeug und leichtere darüber. Er rührte nichts an. Das war auch nicht nötig.
Er verließ den Auflieger wieder und sprang von der Laderampe. Der Auflieger selbst stammte aus chinesischer Produktion, ebenso die große, rote JAC -Zugmaschine. Er blickte kurz nach links und rechts zu den anderen Laderampen. Neben ein paar Volvos und Mercedes entdeckte er noch mehrere in China hergestellte Sattelzüge.
Um sich Sakko und Hose nicht schmutzig zu machen, stieg er die Stahltreppe hinauf, die in die Halle führte.
Er musste grinsen, als er sah, wie die beiden Ukrainer Kartons auf ihre Karren stapelten und dabei mit der schönen Polin flirteten, die einem Plausch offensichtlich nicht abgeneigt war. Dann hatten sie ihre Karren beladen und starteten wieder in Richtung Laster, als Jack zu Liliana trat.
»Sieht so aus, als hätten Sie heute Abend vielleicht ein Date.«
»Zwei, wenn ich’s richtig anstelle.« Sie lachte. »Was Interessantes entdeckt?«
»Nichts Besonderes. Was haben Sie herausgefunden?«
»Die beste Kneipe hier in der Gegend gehört dem Onkel des Größeren. Er sagt, er kann dafür sorgen, dass wir das Bier zum halben Preis bekommen, wenn er hier fertig ist.«
»Klingt verlockend. Sonst noch was?«
»Sie beladen und entladen Lkw, mehr nicht. Sie werden bar bezahlt, wahrscheinlich um Steuern zu sparen. Sie sagen, die meisten Lkw fahren in polnische und deutsche Städte, manche aber auch bis nach Italien, Frankreich und Spanien.«
»Sind Sie startklar?«
»Wenn Sie es sind.«
»Verabschieden wir uns noch von Mr. Wilczek.«
»Und dann?«
»Hängt davon ab.«
»Wovon?«, fragte Liliana.
»Von Ihren Plänen für heute Abend.«
Sie lächelte. »Meine ukrainischen Freunde können ein paar Tage warten, denke ich.«
Wilczek hatte gerade den Telefonhörer aufgelegt und zündete sich eine Zigarette an, als Jack und Liliana wieder in sein Büro traten. Er riss eine Schublade auf, fischte eine zerknitterte Visitenkarte heraus und reichte sie Jack.
»Mr. Stapinskys Hauptgeschäftsstelle befindet sich in Krakau. Gewöhnlich ist er dort anzutreffen.«
»Vielen Dank.« Jack steckte die Karte ein.
»Am besten, ich rufe ihn für Sie an.«
»Machen Sie sich bitte keine Umstände.«
»Das macht doch keine Umstände«, sagte der große Mann und drückte mit dem Mittelfinger Ziffern auf dem Telefon. An seinem Zeigefinger fehlte die Kuppe. Die verheilte Wunde sah aus wie geschmolzenes Wachs.
Das Telefon klingelte zweimal, bevor sich am anderen Ende eine weibliche Stimme auf Polnisch meldete. Wilczek stellte knurrend ein paar Fragen, nahm dann einen tiefen Zug von seiner Zigarette und wartete ungeduldig, bis sich die Frau wieder meldete. Wilczek runzelte die Stirn, dankte ihr – vermutete Jack jedenfalls – und legte auf.
»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Mr. Stapinsky auf Geschäftsreise ist und kein Interesse an Investitionen von Ihrer Seite hat.« Er drückte den Stummel in der Radkappe aus.
»Das ist wirklich schade«, sagte Jack.
»Danke für Ihre Bemühungen«, fügte Liliana hinzu.
Sie schüttelten sich gegenseitig die Hände. Wilczek griff wieder zum Telefon und wählte eine weitere Nummer, während Jack und Liliana das Büro verließen.
Liliana entriegelte den Wagen mit der Fernbedienung, und sie stiegen ein.
»Wohin jetzt?«, fragte Liliana und ließ den Motor an.
»Nach Krakau, natürlich.«
»Stapinsky ist nicht dort. Oder glauben Sie, Wilczek hat uns angelogen?«
»Nicht Wilczek. Stapinsky. Und ich möchte herausfinden, warum.«
»Und wenn er wirklich nicht dort ist?«
»Können wir uns trotzdem ein wenig umsehen. Falls Sie nichts dagegen haben.«
Liliana suchte seinen Blick. »Sie geben wohl nicht so schnell auf, was?«
»Wenn es drauf ankommt, nein.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Ist ja auch egal. Mein Auftrag lautet, Sie überall hinzubringen, wo Sie hinwollen. Also fahren wir.«