W atson schaltete ihr Schreibtischtelefon auf Lautsprecher, als die Verbindung hergestellt war. Nach dem vierten Klingeln hob Elias Dahm endlich ab.
»Hallo, Amanda. Was verschafft mir das Vergnügen?«
»Ich habe gerade in meinem Terminkalender nachgeschaut und festgestellt, dass ich den Text für deine Rede noch nicht erhalten habe. Ich sollte doch noch mal drübergehen.« Windgeräusche drangen aus dem Lautsprecher.
»Meine Rede?«
»Für die TechWorld-Konferenz, erinnerst du dich? Die ist in zwei Wochen.«
»Ach ja, klar. Tut mir leid, wo bin ich nur mit meinen Gedanken?«
»Nach den Geräuschen zu urteilen, ist auch der Rest von dir woanders. Wo steckst du denn?«
»Ich stehe vor der Industrie- und Handelskammer in Wickenburg. Schnuckliges Gebäude. Das ganze Städtchen ist schnucklig. Weißt du, was ich gerade sehe?«
»Was für ein Wickenburg?«
»Wickenburg in Arizona. Und? Errätst du, was ich sehe?«
Watson hätte am liebsten Obszönitäten ins Telefon gebrüllt. Elias war ein Genie und ein toller Liebhaber, aber vor allem war er ein altkluger, egozentrischer Kindskopf.
»Ich habe keine Ahnung.«
»Ein Texas-Longhorn. Es steht auf dem Gebäude auf der anderen Straßenseite. Es ist ziemlich sicher aus Plastik.«
»Faszinierend. Und deswegen bist du in Whackaburg …«
»In Wickenburg.«
»In Wickenburg, Arizona? Um dir Kühe anzusehen, die auf Häusern stehen?«
»Hab ich dir nicht gesagt, dass ich heute hierherfliegen wollte?«
Natürlich nicht. »In deinem Terminkalender steht es nicht.«
»Nicht weit von hier ist ein Stück Land, auf das ich ein Auge geworfen habe. 13 000 Hektar. Ideal für einen Solarpark.«
»Solarpark? Ich dachte, das hätten wir endgültig zu den Akten gelegt.«
Wie viele von Elias Dahms brillanten Ideen waren groß angelegte Solarparks zugleich Zukunftsmodelle und finanzielle Massengräber. CloudServe hatte bereits zwei andere Solarparks betrieben, und an beiden wäre das Unternehmen fast bankrottgegangen.
Elias’ Idee war gewesen, alle großen Serverfarmen des Unternehmens mit Solarenergie zu betreiben und den überschüssigen Strom aus eigener Produktion an die Versorgungsunternehmen zu verkaufen. Auf diese Weise hätte sich CloudServe mit kostenlosem Strom versorgt und zusätzlich noch Profit gemacht.
Leider waren die Kosten für ein Kilowatt Solarstrom selbst dann noch unerschwinglich hoch, wenn Subventionen flossen, und keine preisliche Alternative zu fossilen Brennstoffen, allen voran Öl, das sich dank technischer Fortschritte bei der Schieferöl- und Ölsandförderung in den letzten Jahren stark verbilligt hatte. Schlimmer noch: Die Ryan-Regierung hatte sich erfolgreich dafür eingesetzt, die Subventionen für die Solarindustrie zu streichen. Der Vorstand von CloudServe hatte sich über Dahms Einwände hinweggesetzt und die beiden defizitären Solarprojekte eingestellt.
»Die Zeiten ändern sich, Amanda. Vorstandsmitglieder ändern sich. Märkte ändern sich. Das Klima ändert sich. Aber die Sonne nicht. Sie ist die perfekte Energiequelle, und sie kostet nichts. Wir müssen Teil der Solarrevolution werden.«
Sie biss die Zähne zusammen. Sie hatte weder die Zeit noch die Kraft, die Diskussion wieder aufzuwärmen. Das war nur wieder eins von diesen Luftschlössern, denen Elias Dahm ständig nachhing. Alle Machbarkeitsstudien hatten gezeigt, dass weiteren Investitionen in Solarenergie nur Verluste einbringen würden, zumal die Subventionsquelle versiegt war. Aber Elias Dahm war ein unverbesserlicher Träumer. Sie würde diese Diskussion nicht gewinnen.
»Du musst mir unbedingt alles erzählen, wenn du zurück bist. Aber jetzt muss ich dich daran erinnern, dass bei dieser Konferenz in London viel für uns auf dem Spiel steht. Sie ist für uns der wichtigste Medienevent des Jahres.«
»Ich denke nicht, dass wir Mühe haben, mediale Aufmerksamkeit zu generieren«, konterte Elias. In der Woche zuvor war er auf der Titelseite des Magazins Fast Company zu bewundern gewesen und in Joe Rogans Podcast aufgetreten.
»Ich rede von Aufmerksamkeit der positiven Art. Verstehst du? Von der Art, die uns Geld bringt. Ich rede von Leuten aus der Industrie. Von Leuten, die Verträge unterzeichnen. Das bedeutet, wir müssen viele Hände schütteln und viele Egos streicheln.«
»In solchen Dingen bist du einsame Spitze, Amanda. Ich bin davon überzeugt, dass du das hinkriegst.«
Natürlich kriege ich das hin, sagte sie sich. So wie ich jeden anderen Scheiß hier hinkriege, während du Praktikantinnen vögelst und argentinische Polo-Ponys künstlich besamst.
»Elias, ich brauche bei dieser Sache wirklich deine volle Aufmerksamkeit.«
»Die hast du.«
»Wo ist dann die Rede? Du bist der Hauptreferent, schon vergessen?«
»Sie wird Dynamit. Ich kann es kaum erwarten, sie dir zu zeigen.«
Was bedeutet, dass du noch keine Zeile geschrieben hast.
»Wann kommst du zurück?«
»Wir fahren in rund zwanzig Minuten mit dem Geländewagen zu dem Grundstück raus. Ach … hier gibt es einen In-N-Out-Burger, nur vierzig Minuten die Straße rauf. Wir sollten mal zusammen einen Double-Double essen.«
»Ich bin Veganerin, erinnerst du dich?«
»Seit wann?«
Geh zur Hölle, Elias. »Lass dich nur nicht von einer Gila-Krustenechse beißen oder was da sonst so kreucht und fleucht. Und ruf mich an, wenn du in Kalifornien gelandet bist.«
»Wird gemacht.«
»Gute Fahrt.«
Sie beendete das Gespräch, vor Wut kurz vor dem Platzen.
CloudServe war auch ihre Firma. Sie gehörte zu den größten Aktionären – auf dem Papier war sie steinreich. Nur leider durfte sie keinen ihrer Anteile in naher Zukunft zu Geld machen. Und es war gut möglich, dass Elias vorher die Firma an die Wand fuhr.
Elias gehörte zu diesen neuen Finanzgenies, die Unternehmensgewinnen keinen besonderen Wert beimaßen. Das war nur einer der Gründe, warum sich das Kurs-Gewinn-Verhältnis bei CloudServe-Aktien im dreistelligen Bereich bewegte, auch dank aggressiver Bilanzierungspraktiken. Tatsächlich hätte es nahe null liegen müssen.
Statt an Gewinn und Rendite maß Dahm den Erfolg am Cashflow. Der Computing-Dienst von CloudServe war ein margenstarkes Geschäft mit hohem Investitionsbedarf, erwirtschaftete aber als eigenständige Abteilung nach wie vor Gewinn. Eine Belastung für die Firmenkasse waren all die anderen Abenteuer, von denen Elias träumte, darunter sein Herzensprojekt, das Raumfahrtunternehmen SpaceServe. »Nein« war für ihn ein Fremdwort, und seine handverlesenen Vorstandsmitglieder wollten ihm kein Wörterbuch kaufen. Der wilde Ritt mit ihm machte einfach zu viel Spaß.
Watson riss eine Schublade auf und nahm ein Fläschchen mit ätherischem Öl heraus. Sie schüttete ein paar Tropfen auf ihre Handflächen, verrieb sie und legte sich die Hände über Nase und Mund. Sie schloss die Augen, sog mehrmals langsam und tief die nach Lavendel duftende Luft ein und stellte sich vor, sie stünde allein auf einem zuckerweißen Sandstrand unter einem strahlend blauen Himmel. Ihr Atem wurde langsamer. Ihr Puls auch. Ihr Bewusstsein konzentrierte sich ganz aufs Atmen.
Ein. Aus. Ein. Aus.
Langsam und kaum merklich ebbte ihre Wut ab.
Leises Klopfen an den Rahmen ihrer Tür riss sie aus ihrer Trance.
Es war ihre neue Assistentin. Eine Indonesierin mit H1-B-Visum und Kopftuch.
»Was gibt es denn, Masayu?«
»Sie haben einen Anruf auf Leitung zwei, Ms. Watson.«
Watson blickte auf ihr stumm gestelltes Schreibtischtelefon.
»Wer ist es?«
»Mr. Dahm. Er sagt, er habe vergessen, Ihnen etwas zu sagen.«
Watson zwang sich zu einem Lächeln.
»Danke.«
Sie hob ab. Ein Witz, den er gehört hatte. Und den er ihr erzählen wollte, bevor er ihn vergaß. Sie täuschte ein Lachen vor und legte auf.
Sie versuchte es wieder mit dem Lavendelöl.
Es half nicht.