W ir sind da, Jack«, sagte Liliana und schüttelte ihn sanft.
Jack schreckte aus dem Schlaf hoch, wusste im ersten Moment nicht, wo er war. Instinktiv holte er mit dem rechten Arm zum Schlag aus, doch Lilianas Lächeln setzte seine Instinkte außer Kraft.
»Haben Sie schlecht geträumt?«
Jack fuhr sich übers Gesicht. Er war völlig fertig.
»Wie lange habe ich geschlafen?«
»Ungefähr zwei Stunden. Ich habe ein paar Mal versucht, Sie zu wecken, aber Sie haben sich nicht gerührt.«
Jack setzte sich auf und blickte aus dem Fenster. Sie standen auf dem Vorplatz seines Hotels.
Er schaute an sich hinunter. Alles mit Dreck verschmiert, die Jacke, das Hemd. Die Hose war wenigstens wieder trocken.
»Jetzt, wo Sie wach sind: Wollen Sie reingehen und sich frisch machen, und wir ziehen anschließend wieder los?«
Jack schüttelte den Kopf, sowohl um ihn wieder klar zu kriegen, als auch um etwas zu kommunizieren. »Ich denke, wir können heute nichts mehr tun. Ich mache mir heute Abend einen Plan. Und wir treffen uns morgen früh wieder.«
»Klingt gut.«
»Dann vielen Dank für alles.« Jack streckte ihr die Hand hin. Sie schlug ein.
»Bis morgen. Sagen wir, um acht?«
»Um acht.«
Jack sah Lilianas Wagen hinterher, dann steuerte er auf den Hoteleingang zu. Ein modisch gekleidetes junges Paar kam gerade heraus. Der Mann warf ihm einen giftigen Blick zu, und die Frau kicherte im Vorbeigehen.
Der Mann an der Rezeption zog bei seinem Anblick ein missbilligendes Gesicht. Jack stutzte kurz, ehe ihm dämmerte, dass er wie ein Obdachloser mit Laptop aussehen musste, der unter einer Brücke geschlafen hatte.
Er zog den elektronischen Zimmerschlüssel aus der Brieftasche und ließ sein bestes Gebrauchtwagenhändler-Lächeln aufblitzen. »Ryan, Zimmer 311.«
Der Mann nahm den Kartenschlüssel, blieb aber skeptisch.
»Ich habe einer Dame im Regen beim Reifenwechseln geholfen«, erklärte Jack, während der andere auf seiner Tastatur tippte. »Dabei habe ich mich etwas schmutzig gemacht.«
Jacks unbeschmutztes Passfoto erschien auf dem Bildschirm des Mannes. »Ja. Mr. Ryan. In Ordnung. Benötigen Sie den Reinigungsservice?«
Mann, Sie Einstein, woran haben Sie das gemerkt?
»Das wäre großartig.«
»Bitte legen Sie Ihre schmutzigen Sachen in den Trockenreinigungsbeutel, den sie in Ihrem Zimmer finden, und hängen Sie ihn heute Abend an die Türklinke. Morgen früh um sieben haben Sie alles wieder.«
»Danke.«
Der Mann linste über den Tisch hinweg auf Jacks Füße. »Schuhe auch?«
Jacks braune Oxfords starrten vor Dreck.
»Bitte.«
»Einfach vor die Tür stellen.«
»Setzen Sie es auf die Zimmerrechnung.«
»Ist bereits geschehen.«
Jack nickte dankend und ging zur Treppe. Er war mittlerweile hellwach, aber wenig begeistert von der Vorstellung, jetzt mit jemandem im Aufzug zu fahren.
Noch bevor Jack irgendetwas anderes tat, schloss er die Zimmertür ab und ging zur gegenüberliegenden Wand. Er griff nach unten, zog das quadratische Ladegerät, das er benutzte, um seinen Laptop aufzuladen, aus dem europäischen Adapter und trug es zum Schreibtisch hinüber.
Er schaltete seinen Laptop ein und verband ihn unter Verwendung eines 2in1-USB -Steckers mit dem Ladegerät. Dann rief er ein Programm auf, das den Zugang zu der bewegungsgesteuerten Digitalkamera herstellte, die in dem Ladegerät integriert war, das gleichzeitig als Netzteil für seinen Computer diente. Das winzige Fischaugenobjektiv der Kamera besaß einen Bildwinkel von 180 Grad, der weit genug war, um jede Bewegung im Wohn- und Schlafbereich des Zimmers zu erfassen. Wenn jemand das Zimmer betreten hatte, hatte es die Kamera aufgezeichnet.
Einen ähnlichen Netzteil-Spion, der auch als Ladegerät für seinen Elektrorasierer diente, hatte Jack im Badezimmer angebracht. Den brauchte er sich allerdings gar nicht anzusehen, wenn dieser hier keinen Hinweis auf einen Eindringling lieferte.
Das Programm hatte nur aufgezeichnet, wie Jack am Morgen das Zimmer verlassen hatte und soeben zurückgekommen war. Das letzte Bild zeigte, wie seine durch das Fischauge verzerrte Hand das Gerät umschloss, bevor er es aus der Wand zog.
»Der gute alte Gav«, flüsterte Jack vor sich hin, dankbar für die elektronische Wundertüte, die ihm Biery auf die Reise mitgegeben hatte.
Als Nächstes gönnte sich Jack eine heiße Dusche. Es war ein langer Tag gewesen, den er größtenteils sitzend verbracht hatte, zuerst in der Gulfstream von Hendley Associates und dann in Lilianas Audi. Unterm Strich hatte er nichts über Dixon oder irgendwelche krummen Geschäfte herausgebracht, die sie mit ihrem Stiefsohn Christopher Gage eingefädelt haben könnte. Gage hingegen schien hier in Polen einiges am Laufen zu haben, zumindest mit Stapinsky, der recht harmlos zu sein schien, auch wenn er ein aufgeblasenes Arschloch war.
Er putzte sich in der wohltuend dampfigen Badezimmerluft die Zähne und dachte über das weitere Vorgehen nach. Das Beste, was ihm einfiel, war, Gerry anzurufen.
»Hallo, mein Junge. Wie läuft’s da drüben?«
Jack erstattete einen kurzen Tagesbericht, der mit »ich habe nichts vorzuweisen« endete.
»Hören Sie, ich habe Sie nicht da rübergeschickt, um irgendwas zu beweisen. Ich habe Sie rübergeschickt, um festzustellen, ob da etwas zu finden wäre. Und wenn da nichts ist, dann ist da eben nichts. Aber schließlich ist es erst Ihr erster Tag. Seien Sie nicht so streng mit sich.«
»Ich muss noch ein paar Spuren nachgehen. Ich melde mich dann morgen wieder mit dem, was ich habe – oder auch nicht. Auf jeden Fall werde ich eine Liste von Anhaltspunkten haben, denen ich am Computer nachgehen kann, wenn ich zurück bin.«
»Was sagt Ihnen Ihr Bauchgefühl?«
»Na ja, heutzutage bewegen sich alle in der Grauzone. Unternehmen statten ihre Finanzabteilungen mit großen Budgets aus, damit sie bis an die äußersten Grenzen der Legalität gehen, um Steuern zu sparen, was wohl auch klug ist. Es könnte sein, dass Christopher Gage nur nach Regeln spielt, die andere gemacht haben, und dass mir das nicht gefällt, heißt nicht unbedingt, dass er oder seine Stiefmutter sich etwas zuschulden haben kommen lassen.«
»Graben Sie trotzdem weiter.«
»Wird gemacht.«
Jack zog eine Sporthose und ein Sweatshirt an, bevor er sich an seinen Laptop setzte und eine Textnachricht an Liliana schrieb.
Wäre es möglich, aus der letzten vierteljährlichen Umsatzsteuererklärung von Baltic General Services mehr über das Unternehmen zu erfahren? Mein Gedanke: Könnten sie noch mehr Firmen gekauft haben oder andere Partnerschaften eingegangen sein? Und lässt sich herausfinden, ob Christopher S. Gage weitere Firmen in Polen gegründet hat oder Firmen, die in Polen tätig sind? Ich weiß, das ist keine leichte Aufgabe, aber mir gehen die Ideen aus. Danke noch mal für das fantastische Essen und den exzellenten Fahrservice. Ich kann es kaum erwarten …
Jack riss sich zusammen, löschte »Ich kann es kaum erwarten« und schrieb stattdessen:
Dann bis morgen um acht.
Er trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. Er hatte das ungute Gefühl, dass er etwas übersehen hatte. Aber was?
Wie wäre es, eine Liste aller in Polen tätigen chinesischen Unternehmen zu erstellen und mit der Liste der Firmen abzugleichen, mit denen Gage verbunden war? Und dann? Müsste er auch die genauer überprüfen. Aber ohne Gerichtsbeschluss oder eine andere rechtliche Befugnis, die ihm Zugang zu ihren Büchern ermöglichte – und dergleichen war nur mit einem hinreichenden Tatverdacht zu kriegen –, würde er wahrscheinlich nicht sehr weit kommen. Denn schließlich: Würde jemand bei Gerry reinmarschieren und ihn bitten, ihm die Geschäftskonten von Hendley Associates zu zeigen, würde ihm Gerry wahrscheinlich einen Tritt in den Arsch geben und ihn von der Security kurzerhand an die Luft setzen lassen.
Gages amerikanische Steuerunterlagen waren keine öffentlich zugänglichen Dokumente, und wenn Gage mit weniger als zehn Prozent an einer ausländischen Firma beteiligt war, musste er das nicht dem Finanzamt melden.
Jack überlegte weitere zwanzig Minuten, aber ihm wollte nichts mehr einfallen. Trotz der Dusche war er noch nicht ganz klar im Kopf.
Sein Telefon summte. Eine Nachricht von Liliana.
Bin Ihnen einen Schritt voraus. Ich habe in die gleiche Richtung gedacht und telefoniert, während Sie geschlafen haben. Morgen früh dürfte uns eine Liste von Möglichkeiten vorliegen. Soll ich Ihnen einen Kaffee mitbringen?
Interessant. Aus welchem Grund sollte sie weiter nachforschen wollen, außer sie war jetzt selbst an Gage interessiert? Um ihm einen Gefallen zu tun? Unwahrscheinlich. Sie war ein Profi – und Patriotin. Falls sie an Gage interessiert war, dann weil sie es für möglich hielt, dass er in etwas verwickelt war, das den Interessen ihres Landes schadete. Wenn dem so wäre, hieße das, dass Gage gegen die Interessen eines engen Verbündeten Amerikas arbeitete. Und dann lohnte es sich, tiefer zu graben.
Einen Schritt voraus? Klingt eher nach zwei oder drei Schritten. Danke dafür. Kaffee und Frühstück werde ich im Hotel zu mir nehmen, bevor Sie kommen, trotzdem danke. Noch einen schönen Abend.
Das Angebot war nett und ganz bestimmt völlig harmlos. Es war Jacks eigenes Sünderherz, das ihm Sorgen machte.
Er rief Ysabels Kontaktdaten auf. Ich könnte ihr ein paar Zeilen schreiben und abwarten, wie sie reagiert. Er sah kurz im Chat-Verlauf nach. Das letzte Mal hatte er ihr vor zwei Wochen geschrieben und sich erkundigt, wie es ihr gehe.
Sie hatte bislang auf keine seiner Nachfragen reagiert.
Die wenigen Gespräche, zu denen sie in Afghanistan und im Iran Gelegenheit hatten, wenn sie mal nicht damit beschäftigt waren, sich vor Kugeln und bösen Jungs in Sicherheit zu bringen, waren nicht unbedingt angenehm gewesen. Sie war sauer und das zu Recht. Er hatte gedacht, sie könnten sich wieder versöhnen.
Sah so aus, als hätte er sich geirrt.
Jack schaltete den Computer aus. Vielleicht sollte er die erzwungene Auszeit dazu nutzen, sich die Stadt anzusehen. Er öffnete gerade TripAdvisor auf seinem Handy, um nachzusehen, was die Stadt um diese Zeit zu bieten hatte, als ihm plötzlich bewusst wurde, dass er eigentlich gar nicht in der Stimmung dazu war. Durch die Bars wollte er auf keinen Fall ziehen, und die Museen, die er sich gerne ansehen würde, hatten bestimmt schon geschlossen. Außerdem hatte er auf seinem virtuellen Schreibtisch noch das Dubai-Geschäft liegen, für das noch eine Menge zu tun war. Und er würde sich besser fühlen, wenn er für das gute Geld, das die Firma ihm zahlte, etwas leistete.
Er beschloss, noch drei Stunden zu arbeiten, und wenn er dann noch nicht müde war, wollte er eine Allergiepille einwerfen, damit er schlafen und sich seine innere Uhr auf die morgige Aufgabe einstellen konnte. Vielleicht hatte er ja Glück und konnte schnell wieder nach Hause und seine Reise für Cory neu planen.