C hen Xing war ein treuer Parteifunktionär. In China ging alle Macht von der Partei aus, und wer Macht ausüben wollte, musste der Partei angehören. Dabei ging es nicht um ideologische Überzeugungen; die alles überstrahlende Bedeutung des Maoismus als sozialistische revolutionäre Bewegung und Weltanschauung war mit Mao Zedong gestorben. Heute zählte nur noch eins: das nationale Interesse Chinas zu fördern. Wenn Chen überhaupt eine Religion hatte, dann war es diese.
Der Große Vorsitzende Mao hatte gelehrt, dass alle Macht aus den Gewehrläufen komme, und das Ministerium für Staatssicherheit war das Gewehr, das die Kommunistische Partei Chinas in Händen hielt – das Ministerium, in dem Chen Xing die ultrageheime Division für Internationale Terrorabwehr sehr erfolgreich leitete.
Schon als Kind waren ihm von seinem Onkel die Spielregeln der Partei eingebläut worden: »Mandarine in Bauernjacken«, wie der Onkel sie genannt hatte. Kleinliche Egos, Gruppenkonsens und auf andere abgeschobene Verantwortung. Chen beherrschte das Spiel gut und war sogar über die unvermeidlichen Ineffizienzen erhaben, die jede große Bürokratie kennzeichnen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Parteifunktionären war Chen jedoch hochgradig talentiert. Seine zähe Effizienz und die rücksichtslose Ausführung seiner Aufgaben in der Terrorabwehr hatten ihn rasch die Karriereleiter emporklimmen lassen, bis er nun selbst die Abteilung leitete. Seine Untergebenen fürchteten und bewunderten ihn.
Das galt auch für seine eigenen Vorgesetzten.
Nur wenige Menschen in China verfügten über so viel Macht und Einfluss wie Chen. Und einige der Personen, die noch mächtiger waren als er, befanden sich in diesem Augenblick auf der anderen Seite der Tür des Konferenzsaals.
Chen wartete nun schon seit über einer Stunde. Während dieser Zeit war eine Menge verschlüsselter Textnachrichten auf seinem Smartphone eingegangen, mit denen ihn sein nervöser Stab mit dringend benötigten Detailinformationen versorgte. Die letzte Nachricht war ein Toxikologiebericht.
Der Sicherheitsbeamte an der Tür drückte leicht auf den Ohrhörer, dann nickte er Chen zu, wagte jedoch nicht, ihn direkt anzublicken. Chen erhob sich und knöpfte sein Jackett zu. Der Wärter öffnete die breite Tür zum Konferenzraum, und Chen trat ein.
Man lud Chen nicht ein, sich zu setzen, und man bot ihm auch kein Getränk an, nicht einmal Wasser. Auf dem Widescreen an der Stirnseite des Raums war ein HD -Foto zu sehen, eine Nahaufnahme der Überreste eines der Arbeiter, die bei dem Angriff der NFLA getötet worden waren. Der verkohlte Leichnam lag mitten in qualmender Asche auf dem Rücken, einen verschrumpelten Arm mit klauenartig erstarrten Fingern in die Luft gereckt.
Die Mitglieder der Lobito-Arbeitsgruppe saßen mit versteinerten Mienen schweigend um den langen Mahagoni-Konferenztisch. Chen kannte sie alle, entweder persönlich oder zumindest ihre Namen. Die Luft war dick von Zigarettenrauch, so beißend und faul wie die smoggeschwängerte Pekinger Luft draußen vor den Fenstern im sechsten Stock des Büroturms aus grünlich schimmerndem Glas und Stahl.
Chen stand vor ihnen, sein Magen hatte sich verkrampft. Im Leben eines jeden Menschen gibt es Augenblicke, in denen sich alles schlagartig verändert. Ein schwerer Autounfall, ein Lotteriegewinn, die Geburt eines Kindes. Für Chen war die heutige Besprechung einer dieser Augenblicke. Seine Karriere stand auf dem Spiel.
Und sein Leben.
Er ließ den Blick durch den Raum schweifen. Auf dem Tisch standen zahlreiche leere Wasserflaschen und mit Kippen überquellende Aschenbecher. Offenbar war es eine lange Besprechung gewesen. Am Kopfende saß die Vorsitzende des Seidenstraßen-Fonds. Zu ihrer Rechten saßen der Stellvertretende Außenminister, der CEO der staatlichen National Offshore Oil Corporation (CNOOC ) – der Muttergesellschaft von Sino-Angola Energy – und der persönliche Sekretär von Staatspräsident Zhao. Zur Linken der Vorsitzenden saßen verschiedene Parteifunktionäre, Vertreter wichtiger Behörden und Repräsentanten von Ministerien und mächtigen staatlichen Unternehmen.
Chen ergriff nicht das Wort; er kannte seinen Platz in der Hierarchie. Das Foto auf dem Widescreen sagte ihm, warum man ihn herbeizitiert hatte, was er allerdings bereits wusste. In Lobito waren achtundsiebzig chinesische Staatsbürger ermordet worden, Dutzende hatten schwere Verletzungen oder Brandwunden davongetragen, und viele von ihnen hatten fast keine Überlebenschancen.
Mehrere Teilnehmer der Besprechung feuerten ihre Fragen hart und schnell auf Chen ab.
»Wer ist für diese abscheuliche Tat verantwortlich?«
»Die NFLA hat sich schon fünfzehn Minuten danach zu dem Anschlag bekannt«, antwortete Chen.
»Wer sind diese Verbrecher?«
»Das wissen wir nicht.«
»Wo befindet sich ihre Basis?«
»Das wissen wir nicht.«
»Wie viele gehören dazu?«
»Das wissen wir nicht.«
»Haben Sie denn überhaupt einen Plan, wie Sie diese Leute aufspüren können?«
»Ich nutze im Moment alle verfügbaren Ressourcen und erschließe auch neue Wege.«
Der Ölmanager beugte sich vor und faltete seine von Leberflecken übersäten Hände auf dem Tisch.
»Die NFLA hat sich auch zu der Ermordung meines Neffen bekannt. Wie haben sie das gemacht?«
»Sie verwendeten ein Nervengift, genauer gesagt eines der Nowitschok-Derivate, die von den Russen entwickelt wurden.«
»Ein Nervengift? Wie das amerikanische VX ?«
»Ja, aber mit fünf- bis zehnmal stärkerer Wirkung. Das Gift blockiert die Weitergabe von Impulsen in den Teilen des Nervensystems, die für die Steuerung der Organe und des Blutkreislaufs verantwortlich sind. Neben anderen Symptomen führt es zu Atemlähmung und Herzstillstand. Es handelte sich wahrscheinlich um eine der Varianten A, B oder C. Die Variante D ist ein Pulver, es wurden jedoch keine Pulverreste gefunden.«
»Wie wurde es verabreicht?«
»Durch damit behandelte Kondome.«
»Kondome? Unfug. Seine Frau war unfruchtbar.«
»Er war zuvor mit einer Frau zusammen gewesen.«
»Mit einer Frau? Sie meinen: Mit einer Hure?« Der CEO von CNOOC lief puterrot an. Seine Familienehre stand auf dem Spiel.
»Sie besuchte ihn regelmäßig. Wie man mir berichtete, war sie außergewöhnlich. Und sehr teuer. Fan Mins Leibwächter hatten sie genauestens überprüft. Sie hatte an diesem Abend keine Waffe bei sich. Es gab daher keinen Grund, sie zu verdächtigen.«
»Aber offenbar doch«, warf die Vorsitzende ein.
Chen wagte nicht, die Verantwortung dafür auf sich zu nehmen. Schon die leiseste Andeutung von Schuldbewusstsein würde wie ein blutiger Köder im Haifischbecken wirken. Er musste extrem vorsichtig vorgehen.
»Die genaueren Umstände müssen von Fan Mins Sicherheitsteam überprüft werden, Genossin Vorsitzende. Wir sind gerne bereit, das Team dabei zu unterstützen.«
Chen brauchte nicht eigens zu erwähnen, dass Fan Mins Sicherheitsteam bei Sino-Angola Energy beschäftigt war, nicht beim Ministerium für Staatssicherheit.
»Woher wollen Sie wissen, dass es ein vergiftetes Kondom war?«
»Wir haben ein unbenutztes Kondom in ihrer Handtasche gefunden. Leider liegt der Kriminaltechniker, der es entdeckte, im Koma.«
»Sie haben hoffentlich die Hure im Gewahrsam?«
»Sie liegt im Leichenschauhaus.«
»Sie haben sie getötet?«, bellte der Ölmanager. »Das war dumm!«
»Sie wurde von einem Betonmischer überfahren und getötet, dreizehn Minuten, nachdem sie Fan Min verlassen hatte, wie aus der Aufzeichnung einer Überwachungskamera zu ersehen ist, die wir sicherstellen konnten. Es handelt sich um Fahrerflucht.«
»Ein Unfall?«
»Höchst unwahrscheinlich.«
Der Stellvertretende Außenminister unterbrach die Befragung. »Wenn Sie die Kameraaufzeichnung haben, müssten Sie doch den Betonmischer leicht finden können?«
»Der Lastwagen war achtzehn Stunden zuvor als gestohlen gemeldet worden. Er wurde drei Kilometer nördlich der Stadt zurückgelassen und ist vollständig ausgebrannt. Darin fanden wir eine verkohlte Leiche, vermutlich der Fahrer.«
Der Ölmanager schüttelte den Kopf. »Warum sollte diese Hure meinen Neffen ermorden wollen?«
»Ich bezweifle, dass sie ihn ermordet hat.«
»Wie meinen Sie das?«
»Es wäre zu gefährlich. Wäre sie nicht von diesem Betonmischer überfahren worden, wäre sie an dem Gift gestorben, das durch die Kondome in ihren Körper eingedrungen sein muss, wie es im toxikologischen Bericht über ihre Leiche heißt.«
»Sie glauben also, sie hätte die Kondome benutzt, ohne zu wissen, dass sie vergiftet waren?«
»Das ist korrekt.«
»Woher hätte sie diese mörderischen Dinge haben können?«
»Wir glauben, jemand hat sie ihr gegeben, eine Person, der sie vertraute. Oder sie wurde dazu gezwungen. Eine logische Vermutung wäre, dass es ihr Zuhälter gewesen sein könnte.«
»Wissen Sie, wer er ist?«
»Ein australischer Staatsbürger. In unseren Datenbanken deutet nichts darauf hin, dass er einem ausländischen Geheimdienst angehört.«
»Aber sicherlich hat er ein Strafregister?«
»In den lokalen Polizeiberichten ist nichts über ihn zu finden. Wir vermuten, dass er Polizisten bestochen hat, damit sie ihn beschützen.«
»Wo ist er jetzt?«
»Das wissen wir nicht.«
»Ihre Vermutung?«
»Er liegt irgendwo verscharrt. Wir erkundigen uns derzeit bei unseren Informationsquellen in Australien.« Chen wandte sich an den General der Volksbefreiungsarmee, der auf der rechten Seite des Tisches saß. »Wir ersuchen formell um Unterstützung durch die Einheit 61398, um die Datenbanken von Fluglinien, Zugverbindungen und anderen Reisemöglichkeiten einsehen zu können.«
Der General lächelte breit und wandte sich an die ganze Runde. »Die Armee steht selbstverständlich bereit, um Ihrem Ministerium aus diesem Chaos herauszuhelfen.«
Chen erstarrte. Das war eine weitere Herausforderung.
»Wir bedauern den Tod der drei Soldaten der Volksbefreiungsarmee. Sie wurden aber getötet, bevor der Angriff auf die Raffinerie erfolgte, an einem Ort, an dem keine Sicherheitskameras installiert waren. Dennoch denken wir, dass unsere bescheidenen Anstrengungen schon sehr bald zur Festnahme ihrer Mörder führen werden – mit Ihrer großzügigen Unterstützung.«
Der General kniff bei Chens geschickt verhülltem Vorwurf wütend die Augen zusammen. Denn tatsächlich hatten die Soldaten ihre Pflichten vernachlässigt.
»Aus welchem Grund sollte ein australischer Zuhälter einen chinesischen Ölmanager umbringen wollen?«
»Vermutlich diente er nur als Mittelsmann für die Personen, die Fan Min tot sehen wollten. Wir denken, dass er sehr viel Geld dafür erhielt, die vergifteten Kondome weiterzuleiten und keine Fragen zu stellen.«
Der Sekretär des Präsidenten warf ein: »Und weil er zu viel wusste, hat man auch ihn beseitigt.«
»Genau das ist auch meine Vermutung.«
Damit endete die Befragung.
So weit, so gut, dachte Chen. Sein Team in Luanda hatte in dieser kurzen Zeit fantastische Arbeit geleistet. Er konnte nur hoffen, dass es reichen würde.
Die wichtigsten Köpfe in der Runde berieten sich in scharfem Flüsterton. Chen war für seine brutale Aufrichtigkeit bekannt, was bei einem Mann in seiner Position nur selten vorkam. Aber die Ehrlichkeit konnte ihn bestenfalls für kurze Zeit schützen.
Jetzt ergriff die Vorsitzende des OBOR -Fonds wieder das Wort.
»Ich bin nicht sicher, ob Ihnen das volle Ausmaß dessen bewusst ist, was dieser Angriff bedeutet.«
»Vermutlich nicht, Genossin Vorsitzende. Bitte klären Sie mich auf.« Was hätte er sonst sagen können?
Die Vorsitzende erging sich in einem langen Vortrag über das Wesen und die Dimensionen der Seidenstraßen-Initiative und deren lebenswichtige Bedeutung für die zukünftige ökonomische und militärische Entwicklung Chinas.
Danach gab der Stellvertretende Außenminister einen kurzen Überblick über die strategische Rolle Angolas im Rahmen der BRI .
Der CEO des Ölkonzerns CNOOC erläuterte wortreich die Konsequenzen, die sich aus dem Arbeiterstreik in Lobito ergaben, und die katastrophalen Folgen des Baustopps für die Raffinerie und potenziell für jedes andere chinesische Projekt in Angola.
Ein warnender Hinweis, dass Präsident Zhao ein persön liches Interesse an dieser schrecklichen Angelegenheit habe, kam von seinem Sekretär, mit besonderer Betonung, wie dringend notwendig es sei, die Täter zu bestrafen, die China diese nationale Demütigung zugefügt hatten, die nun ein schlechtes Licht auf den Präsidenten und letztendlich auf die Partei werfe.
Und zu guter Letzt wurde Chen unmissverständlich klargemacht, welche Strafe für ihn vorgesehen war, sollte er bei der Lösung dieses Problems versagen.
»Ich danke Ihnen.« Mehr sagte Chen nicht.
Mehr konnte er nicht sagen.
Die Vorsitzende gab ihm eine einzige Anweisung auf den Weg: »Ziehen Sie jede Strippe, drehen Sie jeden Stein um, zerstören Sie jedes Nest. Tun Sie alles, was Sie tun müssen, um diese Banditen aufzustöbern, die unsere Leute ermordeten, und fegen Sie sie auf der Stelle vom Angesicht der Erde!«
Er verneigte sich leicht in der althergebrachten Weise.
»Das werden wir tun.«