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Gdynia – Danzig, Polen

J ack und Liliana machten sich auf den Weg nach Danzig. Lilianas Blick zuckte immer wieder zum Rückspiegel.

»Problem?«, fragte Jack.

»Ein Mann in einem schwarzen Mercedes folgt uns seit Gages Büro.«

Jack schaute in den rechten Außenspiegel. »Ich sehe ihn nicht.«

»Er ist ungefähr acht Autos hinter uns, auf der rechten Fahrspur. Ich glaube, ich kenne den Mann.«

»Vermutlich keine angenehme Bekanntschaft?«

»Er heißt Goralski. Ex-ABW . Ein echter Brutalo. Wurde rausgeworfen, weil er sich von einem lokalen Mafiaboss bestechen ließ – oder jedenfalls in den Verdacht geriet. Konnte ihm aber nie nachgewiesen werden. Jerzy, mein Partner, hatte ihn immer im Verdacht, dass er mit unserem neuen Fall zu tun hat.«

»Und jetzt beschattet er uns? Das ist interessant. Was können Sie mir über den Fall sagen, an dem Sie und Jerzy arbeiten?«

»Unsere Informanten haben uns von einer neuen Heroin-Pipeline berichtet, die von China über Afghanistan nach Polen verläuft. Hier wird der Stoff dann auf den Rest Europas verteilt. Wir wissen noch nicht, wer wie wo, aber die deutschen Kollegen sind auf eine Spur gestoßen und glauben, dass die OstBank darin verwickelt sein könnte.«

»Wie verwickelt?«

»Die OstBank ist möglicherweise an einer Investmentgruppe beteiligt, die Chemiefabriken in China baut.«

»Und der deutsche BKA -Agent wurde ausgeschaltet, weil er dieser Verbindung nachging? Und jetzt Jerzy …«

»Das war kein Unfall. Ich bin mir jetzt ganz sicher.«

»Und dieser Clown im Mercedes verfolgt uns seit unserem Meeting mit Gage, und Gage steht mit der OstBank in Verbindung und investiert jetzt in Lagerhäuser und Verteilungszentren.«

Liliana warf Jack einen kritischen Blick zu, als sähe sie ihn zum ersten Mal. »Sie sind kein Finanzanalyst, habe ich recht?«

»Wie kommen Sie darauf? Natürlich bin ich das! Sie können gern Hendley Associates anrufen, wenn Sie mir nicht glauben wollen.«

Sie schaltete den Blinker ein, offenbar wollte sie zwei Spuren überqueren, um zur nächsten Ausfahrt zu gelangen.

»Was haben Sie vor?«, fragte Jack.

»Ich greife mir diesen Bastard und kicke ihm in die Eier, bis er mir sagt, warum er Jerzy umbringen wollte.«

»He, warten Sie mal. Das sollten wir uns gut überlegen.«

»Da gibt’s nichts zu überlegen.«

»Aber sicher. Sie haben keinen handfesten Beweis. Ihn fertigzumachen verschafft Ihnen vielleicht für einen Moment ein gutes Gefühl, macht aber unsere Chancen kaputt, diesen ganzen kriminellen Geschäftsring zu sprengen.«

»Das Risiko muss ich eben eingehen.«

»Was würde Ihnen Jerzy jetzt raten? Rache üben – oder den Fall lösen?«

Sie warf Jack einen vernichtenden Blick zu. Zwar blitzten ihn ihre blauen Augen wütend an, aber sie schien sein Argument einzusehen.

»Okay. Er darf seine Eier behalten«, brummte sie. »Vorerst.«

»Einen Augenblick.« Jack zog sein Smartphone heraus und aktivierte den Online-Kartendienst.

Schweigend fuhren sie ein paar Minuten auf der dreispurigen Straße weiter. Liliana entschied sich für die langsamere, aber kürzere Strecke in Richtung des Danziger Stadtzentrums, in dessen Nähe sich Gages Lagerhaus befand. Die Ostsee war nicht weit entfernt; die Luft war kühler, aber immer noch angenehm. Je näher sie dem Stadtzentrum kamen, desto traditioneller wurden die Gebäude, wie Jack auffiel, sogar die neu gebauten Häuser ahmten den Backsteinstil nach oder waren Fachwerkhäuser, die Jack an Ansichtskarten deutscher Städte erinnerten.

Liliana blickte wieder in den Rückspiegel und fluchte auf Polnisch. »Ich habe ihn verloren.«

»Perfekt.«

»Was? Wieso ›perfekt‹?«

Jack blickte nach vorn auf die Straße und deutete auf eine Ausfahrt. »Nehmen Sie die nächste Ausfahrt.«

Sie bog ab, und Jack dirigierte sie zu einem riesigen Einkaufszentrum, der Galeria Metropolia, und dort auf den Parkplatz eines großen Kinokomplexes.

»Jetzt bitte langsam fahren, aber nicht anhalten«, sagte Jack, während er die Reihen geparkter Autos aufmerksam absuchte.

»Was machen wir hier?«

»Ich wollte schon immer Deadpool Two mit polnischen Untertiteln sehen.«

»Was?«

Jack wies auf eine freie Parkbox. »Halten Sie da an.«

Liliana bog auf die Stellfläche ein. »Und jetzt?«

»Passen Sie genau auf, ob Goralski sich blicken lässt.«

Jack stieg aus und ließ den Blick über den Parkplatz schweifen. Niemand war in der Nähe. Auch Liliana stieg aus und suchte den schwarzen Mercedes. Er war nirgends zu sehen.

Jack bückte sich und strich mit der Hand unter dem Heck-Stoßfänger des Cabrios entlang. An der linken Seite des Stoßfängers murmelte er: »Hab ihn.«

Er zeigte Liliana ein kleines magnetisches Gerät.

»Ein GPS -Tracker«, sagte Liliana. »Deshalb hat er sich abgehängt. Er braucht gar keinen visuellen Kontakt.«

»Genau. Und jetzt passen Sie auf.«

Jack duckte sich und rannte quer über den Platz zu einem silbernen Audi mit deutschen Kennzeichen hinüber. Dort vergewisserte er sich noch einmal, dass er von den Parkplatzwächtern nicht beobachtet wurde, und heftete den Tracker auf der rechten Seite unter den vorderen Stoßdämpfer des deutschen Autos. Dann rannte er wieder zu Lilianas Auto zurück und stieg ein.

»Hoffen wir, dass der Deutsche zwei Filme hintereinander anschaut und dann Heimweh bekommt.«

»Netter Trick. Solche Sachen lernt man bei euch im Wirtschaftsstudium?«

»Nein, bei den Pfadfindern. Fahren Sie los – aber nehmen Sie die Ausfahrt am anderen Ende, nur für den Fall, dass unser Freund in der Nähe ist.«

Sie fuhren zu der ersten Adresse, die in den Steuerakten aufgeführt war, behielten aber die Außenspiegel ständig im Blick, um sicherzugehen, dass Goralski Jacks kleinen Trick nicht durchschaut hatte. Als zusätzliche Maßnahme gab Liliana das Kennzeichen von Goralskis Mercedes an die automatisierte Kennzeichenerkennung des ABW weiter und ließ den aktuellen Standort des Fahrzeugs lokalisieren. Als sie dabei erwähnte, dass der Mercedes mit der Fahrerflucht nach Jerzy Krychowiaks »Unfall« zu tun haben könnte, erhielt die Anfrage höchste Priorität. Sobald der Mercedes an einer der Verkehrsüberwachungskameras vorbeifuhr, auf deren Aufzeichnungen die ABW Zugriff hatte, würde eine automatisierte Information an Lilianas Smartphone geschickt.

Bei der ersten Adresse der Liegenschaften, die Gage in Danzig besaß, handelte es sich um genau das, was in den Steuerunterlagen beschrieben war: eine Tankstelle für Autos und Trucks in unmittelbarer Nähe der Autobahn 91, direkt südlich des Stadtzentrums. Sie fuhren einmal um das gesamte Viertel herum, in dem die Tankstelle lag, konnten aber nichts Auffälliges entdecken. Schließlich parkten sie und traten in den sauberen Minimarkt, der ein überraschend breites Warenangebot führte und zu dem ein kleines Restaurant gehörte. Auch hier gab es nichts Ungewöhnliches zu sehen.

Danach fuhr Liliana ins Stadtzentrum. Auf dem Weg zur letzten Adresse auf ihrer Liste kamen sie am Europäischen Zentrum der Solidarität vorbei.

»Ja, ich weiß. Das sparen wir uns für nächstes Mal auf«, versprach Jack, bevor Liliana auch nur ein Wort über das berühmte Museum sagen konnte.

Das Museum befand sich auf dem Gelände der berühmten Danziger Werft, in der Lech Wałęsa und die Gewerkschaft Solidarność die Streikbewegung angeführt hatten, die letztendlich den Sturz der kommunistischen Regierung mitverursacht hatte. Die Werft ist heute viel kleiner als in ihren Glanzzeiten unter den Kommunisten, wird aber immer noch betrieben. Die Skyline wurde von riesigen Kränen beherrscht, an denen die für den Neubau oder die Wartung von Schiffen benötigten, viele Tonnen schweren Stahlplatten hingen. Auf den Kais reihten sich weitere Gebäude und Ausrüstungen für das Beladen oder Löschen der Schiffsladungen. Die gesamte Werft zog sich am Ufer der Toten Weichsel entlang, eines Nebenflusses der Weichsel, die in die nahe Ostsee mündete.

Das Werftgelände schien völlig ungesichert, jedenfalls konnte Jack kein Sicherheitspersonal entdecken und auch keine Überwachungskameras. Gabelstapler und Lkws rumpelten über den abgenutzten Straßenasphalt zwischen teilweise halb verfallenen Gebäuden, die größtenteils aus Backsteinen und Eisen zu bestehen schienen.

»Die Gebäude, die in Ordnung sind, wurden wahrscheinlich noch von den Preußen vor dem Ersten Weltkrieg gebaut«, erklärte Liliana. »Die baufälligen Schuppen haben die Kommunisten gebaut.«

Sie bogen in eine der Zufahrtsstraßen ein, wo sie langsamen Gabelstaplern und sonstigen Transportern entweder hinterherfahren oder ausweichen mussten. In vielen der Werkstätten oder Lagerhäuser wurde gearbeitet; Paletten wurden auf- oder abgeladen, Schweißbrenner sprühten Funken, Schweißdrähte glühten. Überall war Hämmern, Klappern und Befehlsgebrüll zu hören.

Liliana musste einem Gabelstapler ausweichen, der mit einer Ladung Stahlröhren aus einer Einfahrt herausgeschossen kam, und wurde kurz darauf fast von einem Lieferwagen gerammt, der mit Acetylen- und Sauerstoffflaschen beladen war und ihr auf der engen Straße die Vorfahrt nahm.

»Gages Lagerhaus ist gleich dort vorn«, sagte sie, obwohl Jack es selbst sehen konnte, da es auf dem Navi des Audis markiert war.

»Ganz am Ende der Straße«, nickte Jack.

Hinter ihnen war ein überlautes Hupen zu hören. Jack warf einen Blick zurück: Knapp 30 Meter hinter ihnen hupte ein roter JAC -Sattelzug einen Gabelstapler an, der ihm die Weiterfahrt versperrte. Der Truck glich dem Sattelzug, den Jack im Lagerhaus in Warschau gesehen hatte, aber er war nicht sicher, ob es sich um dasselbe Fahrzeug handelte. Durch die Spiegelung auf der Windschutzscheibe konnte er Fahrer und Beifahrer nur undeutlich ausmachen, glaubte aber, dass ein Chinese am Steuer saß. Auf dem Beifahrersitz saß ein Weißer, der die Füße mit den schweren Stiefeln lässig auf die breite Ablagefläche auf dem Armaturenbrett gelegt hatte. Jack meinte auch zwei weitere Trucks zu sehen, die dem ersten Fahrzeug langsam folgten.

In dem Moment, als Liliana vor dem Lagerhaus anhalten wollte, schoben zwei muskulöse Männer die beiden riesigen grünen Schiebetore auf. Sie starrten den Audi unter ihren gelben Schutzhelmen misstrauisch an. Einer brüllte etwas über die Schulter zurück. Jack erhaschte einen Blick in die riesige, höhlenartige Lagerhalle, in der Gabelstapler herumfuhren und vollbepackte Paletten auf gewaltige Stahlregale hoben. Aber Jacks Aufmerksamkeit wurde sofort von einem Schiff in Anspruch genommen, das in der schwächer werdenden Abendsonne nicht weit vom Lagerhaus an der Kaimauer vertäut war und gerade entladen wurde.

Ein wahrer Riese von einem Mann kam aus dem Halbschatten des Lagers und blieb vor dem weit geöffneten Tor stehen. Mit seinem blonden Bürstenhaarschnitt und den breiten Schultern hätte er als Dolph Lundgrens jüngerer Bruder durchgehen können, nur war er noch größer und entschieden hässlicher als der Schauspieler. Die Fäuste, groß wie Vorschlaghämmer, hatte er in die Hüften gestützt, sodass die Ellbogen wie Stahlträger seitwärts herausragten – eine eindeutig drohende Haltung, die den Fremden im Audi galt. Und nicht weniger drohend wirkte die Pistole, die sich an seiner Hüfte unter dem Arbeitshemd deutlich abzeichnete.

»Freunde von Ihnen?«, fragte Jack.

»Ich würde gerne seinen Waffenschein sehen. Hat er wahrscheinlich nicht.«

»Das würde uns mit unserem wichtigeren Problem nicht weiterhelfen. Wir müssen herausfinden, was in diesem Lagerhaus abgeht. Und ich würde mich auch ganz gern auf dem Schiff umsehen, das da gerade entladen wird.«

»Dunkel wird es erst in zwei Stunden. In dieser Straße wäre eine verdeckte Überwachung kaum möglich.«

»Wir kommen zurück, wenn es dunkel ist. Vielleicht können wir dann mehr herausfinden.«

Mit lautem Hupen kam der Sattelzug heran. Wieder drehte sich Jack um. Der Chinese am Steuer versuchte gar nicht erst, seine Ungeduld und Gereiztheit zu verbergen. Die Stiefel des Beifahrers lagen immer noch auf der Ablage.

Wieder ließ der Truck ein langes, wütendes Hupen hören.

»Osioł«, schimpfte Liliana und gab so heftig Gas, dass der Audi Kies und Dreck hochschleuderte.

Der Muskelprotz und seine Kumpel am Schiebetor brüllten dem Audi wütende Schimpfwörter hinterher.

»Ich hoffe, Sie sind hungrig, Jack. Ich kenne da ein Restaurant, nicht weit von hier.«

»Bin am Verhungern. Beim Essen können wir besprechen, wie wir weiter vorgehen.«

Jack war sich sicher, dass ihm das Essen schmecken würde – und dass sein Plan Liliana nicht schmecken würde.

Cluzets Stiefel lagen auf dem breiten Armaturenbrett des JAC -Trucks, mit dem er fast durch ganz Zentralasien gefahren war. Sein Rücken schmerzte, und in seinem Schädel pochten erbarmungslose Kopfschmerzen. In diesem Zustand konnte er für nichts Geduld aufbringen, schon gar nicht für Touristen, die sich verfahren hatten. Sie waren grade mal ein paar Meter vor dem Endziel einer wahrhaft knochenbrechenden Fahrt über mehr als 6000 Kilometer. Er kam mit einem Tag Verspätung an, was ihn und seine Männer den Extrabonus kosten würde. Noch ein paar Stunden mehr würden ihnen womöglich eine Kugel in den Hinterkopf einbringen.

»Hupe noch mal!«, befahl er dem Fahrer. Lin nickte; der Truck stieß ein langes, wütendes Hupen aus. Der silberne Audi gab Gas und raste in einer Wolke von Straßenstaub davon.

Der Chinese lachte. »Das hat ihnen Angst gemacht!«

Aber Cluzet hatte sich aufgesetzt und starrte dem Audi nach.

Lin schaltete in einen niedrigen Gang, und der Truck ruckte vorwärts.

Etwas stimmte nicht mit dem Audi. Aber Cluzets Migräne pochte inzwischen so stark, dass er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Er fischte eine Packung Tylenol aus dem Handschuhfach, warf drei Tabletten ein und begann zu kauen. Die Druckluftbremsen zischten, und der Truck kam vor den geöffneten Lagerhaustoren zum Stehen. Cluzet hatte einen seiner Männer vorausgeschickt, einen riesigen skandinavischen Muskelberg namens Hult, der immer noch dem Audi wütend nachstarrte.

Cluzet stieg aus der Kabine, streckte sich und gähnte. Er schüttelte Hult die Hand, und die beiden tauschten sich über die jüngsten Ereignisse aus. Hult war damit einverstanden, das Ausladen und die Neubeladung der Trucks zu beaufsichtigen, um Cluzet Zeit für ein gutes Essen, ein sauberes Bett und zwei einsatzfreudige Huren zu geben, bevor sich der Konvoi am nächsten Morgen wieder auf die Rückfahrt machte.