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N ach dem Abendessen holten Jack und Liliana ihre Taschen aus dem Audi und gingen zu einem Hotel, das auf der anderen Flussseite stand.

Obwohl es nicht touristische Hochsaison war, herrschte im Hafenviertel lebhaftes Treiben. Die Restaurants am Flussufer waren gut besucht, und immer mehr Lampen wurden eingeschaltet. Es war ein Postkartenpanorama, das Jack an jedem anderen Abend schön gefunden hätte, aber heute Abend waren er und seine Begleiterin vollauf damit beschäftigt, ihre Pläne für das Eindringen in das Lagerhaus zu besprechen und die weiteren Schritte zu vereinbaren, die sie am nächsten Morgen unternehmen wollten.

Sie gingen an einem grauenhaft kitschig als »Piratenschiff« verzierten Ausflugsschiff vorbei, das gerade angelegt hatte und die letzten Touristen aussteigen ließ. »What shall we do with a drunken sailor«, allerdings auf Polnisch, tönte ohrenbetäubend laut aus den Schiffslautsprechern, während die Crew das Schiff für die Nacht vertäute. Liliana erklärte, dass das Schiff tägliche Ausflugsfahrten an der Westerplatte vorbei anbot – einer Halbinsel zwischen der Ostsee und dem Danziger Hafenkanal. Hier hatten die Deutschen am 1. September 1939 ein polnisches Munitionslager beschossen und damit den Zweiten Weltkrieg begonnen.

Die Mottlau teilte sich hier und bildete zwei Flussinseln. Jenseits des Piratenschiffs reckten sich Baukräne auf einer der Flussinseln in den Abendhimmel. Das Flussufer war dicht gesäumt von vielen offenbar neuen Gebäuden, die die Architektur des siebzehnten Jahrhunderts nachzuahmen versuchten.

Jack hatte das Hotel nach einer Empfehlung in TripAdvisor ausgewählt. Es war ein authentischer, aber völlig renovierter königlicher Getreidespeicher mit vier Stockwerken. Den Fotos zufolge war das Zimmer mit einem großen Doppelbett für Liliana und einer Couch für Jack möbliert. Die Couch war lang genug, sodass sich Jack trotz seiner 1,85 Meter in voller Länge ausstrecken konnte.

Wie Jack war sich auch Liliana nicht sicher, ob die Gegenseite nicht bereits herausgefunden hatte, dass die ABW gegen sie ermittelte, zumal jetzt mit Goralski ein ehemaliger ABW -Agent für sie arbeitete. Nach einigem Zögern war sie damit einverstanden, dass sich Jack an der Rezeption mit seinem Decknamen und seinem von Gavin erzeugten Pass anmeldete und das Zimmer in bar bezahlte. Er würde sie dann später als seinen »Gast« in das Zimmer schleusen – mit einem vielsagenden Augenzwinkern und einem großzügigen Trinkgeld für den Mitarbeiter an der Rezeption –, sodass sie ihre wahre Identität nicht preisgeben musste.

Nachdem er die Rechnung beglichen hatte, brachte er ihr Gepäck auf das Zimmer, steckte ein paar der Geräte in die Taschen, die ihm Gavin mitgegeben hatte, und trat wieder auf die Straße hinaus, wo Liliana auf ihn wartete. Sie hatte gute Nachrichten: Goralski war immer noch mit seinem Auto unterwegs, schien aber nicht nach Warschau, sondern in Richtung Łódź zu fahren. Wer nach Prag oder Wien wolle, würde dieselbe Route nehmen, erklärte sie, aber es sei noch nicht klar, wohin Goralski letztendlich fahre.

Mit ein wenig Glück würde Goralski an diesem Abend nicht mehr zurückkehren. Das war gut. Sie hatten genug andere Sorgen und konnten gut auf einen ehemaligen ABW -Agenten verzichten, der zur Tür hereinstürmte, wenn sie es am wenigsten erwarteten.

Liliana war Polizistin und Patriotin. Als sie und Jack endlich in das Hotelzimmer zurückkehrten, bekam sie allmählich kalte Füße.

Jack wies zu Recht darauf hin, dass sie nicht in das Lagerhaus einbrechen und Informationen sammeln dürfe, die sich später als nutzlos erweisen würden, weil kein Durchsuchungsbeschluss vorgelegen hatte. Und was noch schlimmer wäre: Sie würde ihren Job verlieren, der für sie nicht nur eine Erwerbsquelle war – er war ihre Berufung. Wie konnte sie der Nation besser dienen, die sie so sehr liebte?

Aber Jacks Vorschlag, dass er allein in das Lager einbrechen würde, war keinesfalls weniger problematisch. Er war ein Ausländer, der ohne Befugnis in eine polnische Liegenschaft eindrang. Aber Jack erinnerte Liliana daran, dass Gage genau wie er selbst Amerikaner und Hu Peng chinesischer Staatsbürger sei und dass beide die Eigentümer des Lagerhauses seien.

»Schauen Sie, ich werde nichts stehlen, versprochen. Ich will nur diese beiden Dinger hier irgendwo anbringen.« Er zeigte ihr zwei kleine drahtlose Überwachungskameras mit Nachtsichtfähigkeit. Mit ihren eigenen SIM -Karten und Sendern konnten sie Video- und Audiosignale live auf Jacks Smartphone übertragen oder sie auf der Campus-Cloud speichern, die von Gavin gemanagt wurde. Die Campus-Cloud war natürlich nichts weiter als eine Datenspeicheranlage, das heißt, Reihen um Reihen von nüchternen Servern aus Metall, die von der weltweit führenden Gesellschaft für diese Art von Technologie entworfen, entwickelt und gebaut wurden:

CloudServe.

Noch im Hotelzimmer stellte Jack die beiden Kameras so ein, dass sie mit der Aufzeichnung begannen, sobald sie durch ihre Bewegungsmelder aktiviert wurden. Er konnte die Kameras jederzeit selbst ein- oder ausschalten oder sie so programmieren, dass sie zu bestimmten Zeiten aktiviert wurden. Lithium-Ionen-Batterien und zusätzliche Solarzellen lieferten die Energie für mindestens hundert Stunden ununterbrochene Aufzeichnung. Das war mehr als genug Zeit, um mögliche kriminelle Aktivitäten zu identifizieren, die in dem Lagerhaus stattfinden mochten.

»Ich installiere die Kameras, und schon bin ich wieder draußen. Zwanzig, höchstens dreißig Minuten«, versicherte Jack.

»Sie bringen mich in eine sehr schwierige Lage.«

»Das machen Freunde nun mal hin und wieder«, lächelte Jack, während er die Kameras einpackte. »Vertrauen Sie mir. Rein und raus.«

Liliana seufzte, aber die möglichen Verbindungen zum internationalen Drogensyndikat, gegen das sie und Jerzy ermittelt hatten, sowie den vermutlichen Mordanschlag auf Jerzy konnte sie nicht ignorieren. Außerdem war es eine relativ geringe Straftat, die Jack hier begehen würde. Sie nickte zögernd.

Liliana rief Tomasz an, um ihm gute Nacht zu wünschen, und der kleine Junge bestand darauf, dass auch Jack kurz ans Telefon kam. »Mami kommt morgen wieder nach Hause, Süßer«, versprach sie ihm. Sie zögerte das Telefonat noch ein wenig hinaus, musste es dann aber beenden, als ihre Mutter Tomasz resolut den Hörer wegnahm, ihrer Tochter gute Nacht wünschte und den Kleinen ins Bett brachte.

Jack und Liliana stellten ihre Wecker auf Mitternacht und versuchten, noch ein wenig Schlaf zu finden.

Danzig gilt als sehr sicher, und das galt auch für diesen Stadtteil und sogar zu dieser späten Stunde. Statt zum Auto zurückzugehen, es herbeizuholen und in sicherer Entfernung vom Lagerhaus zu parken, war es entschieden einfacher und schneller, den 20-minütigen Weg vom Hotel zum Hafen und zum Lagerhaus der Firma Baltic General Services zu Fuß zurückzulegen.

Im Hafen selbst war von der Hektik, die tagsüber geherrscht hatte, nichts mehr zu spüren, und auch die vielen Reparatur- und Schiffsbauarbeiten waren zum Stillstand gekommen, nur ein paar am Pier liegende Schiffe waren hell erleuchtet und wurden be- oder entladen.

Die vielen Werkstätten in der schmalen Straße, in der sich Gages Lagerhaus befand, lagen still und verlassen da. Die Straße selbst war nur schwach beleuchtet, aber der Halbmond spendete genug Licht, sodass sie nicht über die eigenen Füße stolperten. Der Himmel war wolkenlos, die Luft kühl, aber wenigstens regnete es nicht. Die Wetter-App auf Jacks Smartphone hatte für später in der Nacht Regen angekündigt, aber im Moment herrschten ideale Bedingungen.

Sie blieben im Schatten der Mauern, so gut es ging. Jack konnte keine Überwachungskameras entdecken. Ein einziger Streifenwagen fuhr vorbei, allerdings viel zu schnell für eine Patrouillenfahrt, wahrscheinlich reagierte er auf einen Notruf.

Hinter einem großen blauen Abfallcontainer gingen sie in Deckung, um die Lage zu sondieren. Das Lagerhaus befand sich genau gegenüber auf der anderen Straßenseite. Die großen grünen Tore waren geschlossen; nirgendwo brannte Licht, und es drangen keine Geräusche zu ihnen herüber. Auch der riesige Truck, der sie so wütend angehupt hatte, war nirgends zu sehen, auch keine anderen Fahrzeuge.

Jack steckte einen der Drahtlos-Ohrhörer in ein Ohr und schaltete sein Smartphone auf stumm. »Rufen Sie mich an, sobald jemand auftaucht. Ich bleibe nicht lange, zwanzig Minuten höchstens, wenn ich erst mal drin bin.«

»Mir ist überhaupt nicht wohl bei der ganzen Sache.«

»Je schneller ich reingehe, desto schneller bin ich wieder da.«

»Versprechen Sie mir, dass Sie nicht versuchen werden, auf das Schiff zu gelangen.«

Jack reckte zwei geschlossene Finger in die Höhe. »Großes Pfadfinder-Ehrenwort.«

Die flackernde Sodium-Straßenlampe hoch oben an der verwitterten Backsteinfassade des Gebäudes hinter ihnen ließ ihr besorgtes Gesicht immer wieder geisterhaft gelblich aufleuchten.

»Bitte seien Sie vorsichtig, Jack.«

»Bin ich immer.«

Jack vergewisserte sich dreifach, dass niemand in Sicht war, dann huschte er hinter dem Container hervor und zur Ecke des Lagerhauses hinüber. Im düsteren Licht sah er, dass die grünen Tore mit einem Vorhängeschloss gesichert waren. Er hatte zwar sein Lockpicking-Set dabei – diese Lektion hatte er in Singapur gelernt –, aber die Größe und das Gewicht der beiden Torflügel waren problematisch, weil sie beim Öffnen vermutlich einen Höllenlärm verursachen würden. Und wahrscheinlich waren sie nicht nur verschlossen, sondern auch alarmgesichert.

Er versuchte, die kleine Nebentür an der linken Seite zu öffnen. Der Türgriff ließ sich nicht bewegen, und auch die Tür selbst war mit einem überdimensionierten Panzerriegel und einem mächtigen Vorhängeschloss gesichert.

Mist.

Er warf einen Blick nach oben. Unter den zwölf Glasfenstern befanden sich vorragende Fenstersimse; eines der Fenster stand offen, aber alle waren gegen Einbrecher mit Eisengittern gesichert. Selbst wenn er eine Leiter finden würde, könnte er nicht durch ein Fenster in das Gebäude einsteigen. Bestenfalls könnte er eine Kamera an dem offen stehenden Fenster anbringen, aber auch nur, wenn er dort hinaufkam. Außerdem würde, wer immer das Fenster offen gelassen hatte, es am Morgen vielleicht wieder schließen und dabei die Kamera entdecken. Das war definitiv keine Option.

Jack sah nur noch eine Möglichkeit: auf der anderen, zum Pier gelegenen Seite in das Gebäude zu gelangen. Er schlich um das noch immer dicht belaubte Geäst eines gefällten Baumes herum, den man gegen die Hausmauer geschoben hatte, und suchte sich einen Weg über die Hoffläche, die als eine Art Müllhalde genutzt wurde und daher mit alten Röhren, Eisenschrott, Gerüstteilen und zerbrochenen Backsteinen übersät war.

Er bewegte sich so schnell und still, wie er konnte, bis er endlich an der hinteren Ecke des Gebäudes ankam. Dort blieb er einen Moment lang unbeweglich stehen, den Rücken an die Mauer gepresst, und lauschte. Das kalte Flusswasser plätscherte gegen den stählernen Rumpf des Schiffes, das er schon früher am Tag gesehen hatte. Scharfer Zigarettengestank drang ihm in die Nase, aber er hörte weder Schritte noch Stimmen.

Er kauerte sich nieder und schob den Kopf vor, bis er um die Ecke spähen konnte. Das Heck des Schiffes war nur ungefähr sechs Meter entfernt und ragte mindestens ebenso hoch über dem Pier auf; BALTIC PRINCESS und ST . PETERSBURG waren in großen weißen Lettern auf dem Heck deutlich zu erkennen. Noch weiter oben leuchtete ein Topplicht am Mast, und in der Brücke schimmerte eine schwache Nachtlampe.

Dann entdeckte er das Glimmen einer Zigarette auf dem Hecküberhang. Im schwachen Licht des Topplichts konnte er eine Gestalt ausmachen. Er zog das Nachtsicht-Monokular heraus und fokussierte es auf die Stelle. Jetzt sah er die Gestalt deutlicher: ein relativ kleiner Mann mit dunkler Jacke und einer Rollmütze auf dem Kopf, der lässig an der Reling lehnte und in die Dunkelheit hinaus starrte. Wenn er die einzige Nachtwache war, würde Jack später kein Problem haben, an Bord zu gelangen, trotz des gegenteiligen Versprechens, das er Liliana gegeben hatte. Doch zuerst musste er irgendwie in das Lagerhaus kommen.

Aufmerksam schwenkte er das Monokular über die gesamte Länge des Schiffsdecks, konnte aber niemanden sonst entdecken. Er blickte auch den Pier entlang, der sich am Flussufer erstreckte. Ein Stück weit entfernt lag ein weiteres Schiff vertäut; auch darauf leuchteten ein paar Lampen, aber nichts rührte sich. Danach wandte er sich wieder dem Wächter auf dem Hecküberhang zu – gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, dass der Mann seine Kippe über Bord ins Wasser schnippte, sich umdrehte und in einer der Aufbauten verschwand.

Das war Jacks Chance. Rasch rannte er um die Ecke. Er konnte sein Glück kaum fassen: Eine der beiden Türen hier auf der Rückseite des Lagers stand ungefähr einen halben Meter weit offen – der Spalt war gerade breit genug, um sich seitwärts hindurchschieben zu können. Jemand war wohl zu faul oder zu nachlässig gewesen, um sie völlig zu schließen.

Jack schlich vorsichtig bis zur Tür, duckte sich daneben nieder und lauschte. Nichts. Auch seine Nase nahm weder Schweißgeruch noch Zigarettenrauch wahr.

Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, dachte er und musste unwillkürlich grinsen, als er sich vorsichtig durch den Türspalt schob.

Die Lagerhalle enthielt zwar ein paar Reihen aufeinandergestapelter Paletten, war aber ansonsten fast völlig leer. Das schwache Topplicht vom Schiff draußen drang kaum in die dunkle, höhlenartige Halle. Noch immer hatte er keinerlei Geräusche gehört. Er zog sein Smartphone heraus, aktivierte die Taschenlampe und schlich zur hinteren Wand, um dort eine der Kameras anzubringen.

Als er an den ersten Palettenstapeln mit Betonsäcken vorbeikam, hörte er plötzlich das kaum wahrnehmbare Rascheln von Kleidern und spürte einen schwachen Luftzug. Instinktiv duckte er sich, sodass die herabschwingende Faust seinen Kopf nur streifte, aber die Wucht und Schnelligkeit des Arms waren doch stark genug, um ihn einen halben Schritt zur Seite taumeln zu lassen.

Jack fing sich sofort wieder, schnellte herum und übertrug den Schwung der Bewegung in einen harten linken Aufwärtshaken. Seine Faust krachte gegen den mächtigen Brustkasten des Riesen, den er am frühen Abend am Tor hatte stehen sehen.

Jeden Mann von normaler Größe hätte der Schlag zurücktaumeln lassen, doch der Riese hatte ebenfalls zu einem Linkshaken angesetzt; seine granitharte Faust krachte mit voller Wucht auf Jacks rechtes Ohr, wodurch der Ohrhörer tiefer in den Gehörgang getrieben wurde. Das harte Plastikteil grub sich scharf in das weiche, empfindliche Gewebe.

Jack stieß unwillkürlich einen Schmerzensschrei aus, konnte aber die Energie und den Adrenalinschub in einen Handkantenschlag umsetzen, der auf den Kehlkopf gezielt gewesen war, den Gegner aber nur knapp darunter in den Übergang von der Kehle zum Schlüsselbein traf. Der Riese schnappte zwar nach Luft, griff aber weiter an, bis –

Knack! Am Eingang wurde eine Pistole abgefeuert. Der harte, scharfe Knall wirkte wie ein Messerstich in Jacks Ohren, während das 9-mm-Geschoss in einen Zementsack direkt über dem Kopf des größeren Mannes einschlug.

»Stopp! Policja! «, brüllte Liliana vom Eingang herüber. Hinter dem taktischen Licht ihrer Pistole war sie nur als schwarzer Schatten auszumachen.

Beide Männer fuhren herum. Liliana kam langsam näher.

»Jack? Alles in …«

Doch bevor sie die Frage zu Ende bringen konnte, tauchte hinter ihr eine Schattengestalt mit hocherhobenem Schlagstock auf und griff Liliana an. Der Schlag auf ihren Kopf war so hart, dass ihr die Pistole aus der Hand flog und über den Betonboden schlitterte, wobei das taktische Licht wie ein Stroboskop über die Palettenstapel zuckte.

Bewusstlos brach sie zusammen. Jack schrie, »Lil!« und wollte ihr zu Hilfe kommen, wurde aber schon nach zwei Schritten selbst von einem mächtigen Schlag auf den Kopf getroffen. Sein Schädel schien mit einem blendenden Schmerz förmlich zu explodieren. Er verlor das Bewusstsein, noch bevor er auf dem ölverschmierten Boden aufschlug.