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San Francisco, Kalifornien

L awrence Fung sah nach, ob es Radarfallen gab. Die Luft war rein.

Er stieg aufs Gaspedal, und der 450-PS -Motor trieb den Porsche 911 Targa 4S folgsam über das Tempolimit hinaus.

Mit dem Wagen den kurvenreichen Pacific Coast Highway entlangzuflitzen war gefährlich und aufregend: genau das, was er sich für jede Sekunde seines Lebens wünschen würde. Für den Anruf, den er ein paar Stunden zuvor erhalten hatte, galt genau dasselbe. Fung wusste nicht, ob er einer glänzenden Zukunft oder einem verheerenden Crash entgegenraste.

Dahms Einladung zu einem privaten Dinner in seinem Lustschloss in Martin County markierte eine erstaunliche Wendung. Das war ungefähr so, wie wenn man gebeten wurde, mit Mariah Carey ein Duett zu singen oder mit LeBron James eins gegen eins zu spielen. Dahm war der strahlendste Stern am Silicon-Valley-Firmament. Es war eine Einladung auf den Olymp, um mit Apoll, dem Gott des Lichts und der schönen Künste, zu speisen.

Fung war schon mehrfach in seinem Haus gewesen, allerdings immer im Rahmen eines größeren, gesellschaftlichen Events. Dahm war berühmt für seine bacchantischen, als perfekt inszenierte Networking-Veranstaltungen getarnten Feste, die durch Unmengen an hochpreisigen Spirituosen und erstklassigem Marihuana befeuert wurden. Sein letzter Partybesuch bei Dahm lag mehrere Monate zurück. Er war mit Torré dort gewesen. Jähe Sehnsucht überkam ihn, doch er schob sie beiseite. Er musste sich konzentrieren.

Allein in Dahms Haus eingeladen zu werden, war eine besondere Ehre. Aber sie ergab keinen Sinn. Warum jetzt? Warum so kurzfristig? Trotz seines guten Aussehens und seines Charismas ließ sich Dahm von niemandem etwas vormachen – er war auf seine Art ein echtes Genie. Seine unzähligen sexuellen Eroberungen waren sorgfältige Tarnung, wie Fung vermutete. Er gab sich als Freigeist und hedonistischer Playboy, doch in Wirklichkeit war er ein schlauer und kontrollierter Kopf. Er kannte nur eine große Liebe, nämlich die zu sich selbst und zu der Firma, die er aufgebaut hatte. Jeder, der ihn oder sein Reich bedrohte, wurde rücksichtslos vernichtet. Dahm hatte Karrieren zerstört, keine Frage. Und Fung wusste von mindestens einem Konkurrenten, der einfach verschwunden war; ob er gekauft oder umgelegt worden war, wusste niemand so genau.

Wenn Dahm ihn verdächtigte, Informationen über die IC -Cloud durchzustechen, war er so oder so geliefert, darüber war sich Fung im Klaren. Nur: Wie hätte Dahm davon erfahren können?

Als die auf einer Klippe gelegene Villa in Sicht kam, fragte er sich unwillkürlich, ob ihn heute Abend eine Verführung oder eine Hinrichtung erwartete.

Dahms Leibkoch und Sommelier enttäuschte nicht. Die beiden genossen ein fürstliches Essen, bestehend aus gegrilltem Filet vom Wagyū-Rind, erntefrischem Biogemüse und Fondant-Kartoffeln mit Knoblauch und Thymian und begleitet von einem Cabernet Sauvignon Napa Valley Reserve. Sie speisten neben dem Infinitypool mit Blick auf den Atlantik, von einer Feuerschale aus Stein vor dem leicht kühlen Wind geschützt.

Das Gespräch war zwanglos und geistreich und drehte sich um ihre Favoriten unter den lokalen Indie-Bands, Filme des italienischen Neorealismus, Pop-up-Restaurants und Urlaubsziele. Als das opulente Mahl beendet war und ein zweite Flasche Wein die Stimmung weiter hob, wurde Dahms strahlendes Lächeln mit einem Mal sanfter. Ein kurzer Fingerzeig, und der reizende junge Diener entschwand. Jetzt waren sie allein.

»Ich freue mich so, dass wir das endlich gemacht haben«, begann Dahm. »Nicht zu fassen, dass wir so lange gebraucht haben, um zusammenzukommen.«

»Es war ein wunderbarer Abend. Ich kann Ihnen gar nicht genug danken.«

»Unsinn. Ich habe Ihnen zu danken. Sie sind einer meiner wichtigsten Leute und machen einen der wichtigsten Jobs. Ohne Sie wäre CloudServe nicht da, wo es heute steht.«

»Ich schwimme nur in Amandas Kielwasser. Sie ist der eigentliche Rockstar.«

Dahm schnaubte. »Ja, gut. Amanda ist brillant, keine Frage. Aber ich könnte mir vorstellen, dass es schwer ist, unter ihr zu arbeiten.« Er trank noch einen Schluck Wein.

»Sie hat mir eine Menge beigebracht, aber ja, Amanda ist … eigen, ganz sie selbst.«

»Sie sind viel zu klug und, wie ich vermute, zu ehrgeizig, um eine Nummer zwei zu bleiben. Wie sehen Ihre langfristigen Pläne aus?«

»Ich liebe meinen Job bei CloudServe. Mein Nahziel ist eine weitere Beförderung.«

»Und danach?«

»Sie wissen doch, was man über Rockstars sagt? Man will entweder einer von ihnen sein oder sie ficken.«

Fung bereute die Bemerkung augenblicklich. Der Wein hatte ihm die Zunge gelöst. Aber es stimmte. Dahm war tatsächlich der ultimative Rockstar. Er wollte genauso sein wie er.

Und er wollte …

»Vorsicht mit dem, was Sie sich wünschen.« Dahm lächelte. »Es ist einsam an der Spitze, und von dort oben geht es nur noch in eine Richtung.« Er schenkte Fung und sich nach.

»Dieses Risiko nehme ich gerne in Kauf.«

»Das freut mich zu hören. Denn ehrlich gesagt, Sie machen mir Sorgen.«

Fung geriet in Panik. »Wieso?«

»Sie sind zu intelligent, um in einem Unternehmen zu bleiben, selbst in einem so dynamischen wie meinem.« Dahm lehnte sich zu ihm herüber. »Ich habe Sie eingeladen, weil ich Sie als Bedrohung betrachte.«

»Mich? Wieso?«

»Weil ich mich selbst in Ihnen sehe. Derselbe hungrige Blick, dasselbe Feuer im Bauch. Sie gehen bereitwillig jedes Risiko ein, nur um die Grenzen auszutesten, die Ihnen andere, weniger kluge Köpfe, setzen möchten. Sie wissen um Ihre Größe und die Ketten der Mittelmäßigkeit, mit denen andere Sie fesseln würden.«

Fung nahm einen Schluck Wein und musterte Dahm über den Rand des Glases hinweg. Die Komplimente, die er ihm machte, versetzten ihn in einen Endorphinrausch, wie er ihn noch nie erlebt hatte. Besser als der erste Kuss. Besser als …

Wohin sollte das noch führen?

»Die Gesellschaft hat Regeln, der Staat hat Regeln. Das ist alles Bullshit«, fuhr Dahm fort. »Will man das eigene Potenzial ausschöpfen, muss man diese Konventionen sprengen. Nationalismus, Patriotismus, Progressivismus – alle diese Ismen sind nur Fesseln, die uns die Pseudogenies auferlegen, um uns von der Sonne fernzuhalten. Finden Sie nicht auch?«

Fung witterte hier höchste Gefahr. Aber möglicherweise auch eine Chance. »Ich bin Amerika dankbar dafür, was es für meine Familie und mich getan hat.«

»Ich auch. Ich bin nämlich in Holland geboren, müssen Sie wissen, aber meine Eltern sind in dieses Land eingewandert, da war ich erst zwei. Sie und ich sind hungrig, weil wir Einwanderer sind oder Kinder von Einwanderern.«

»Das ist es doch, was Amerika groß macht, oder? Der ständige Zustrom hungriger, ehrgeiziger Einwanderer.«

»Besonders von Chinesen und anderen Asiaten. Übrigens, die meisten Leute wissen es nicht, aber mein Vater wurde in Indonesien geboren, das zu der Zeit noch Niederländisch-Indien hieß. Er war halb Holländer, halb Chinese.«

»Ach wirklich? Faszinierend.«

»Und obwohl ich wie Sie dankbar bin für die Chancen, die mir dieses Land geboten hat, liegt doch klar auf der Hand, dass die Zukunft China gehört, finden Sie nicht auch?«

Fung betrachtete das gut aussehende Gesicht über den Tisch hinweg. Die tiefblauen Augen schienen ihn zu verschlingen. Wie die eines Liebhabers. Oder die eines Killers. Fung war sich nicht sicher.

»Doch«, stimmte er zu. »Die westlichen Demokratien scheinen in den letzten Zügen zu liegen. Das chinesische Modell wirkt stabiler und dynamischer.«

»Genau. Und nebenbei bemerkt, zur Hölle mit allen Regierungen, auch der chinesischen. Gesetze sind nur Instrumente der wenigen Mächtigen, um den Rest von uns auf Linie zu halten.«

»Manchmal kommt es einem in der Tat so vor.«

»So, nun wissen Sie, warum mein Fokus auf China liegt. CloudServe muss aggressiv expandieren, bevor es zu spät ist, und Sie halte ich für den Mann, der uns dabei helfen kann.«

»Warum? Weil ich ethnischer Chinese bin?«

»Ja. Aber ein brillanter und hochmotivierter ethnischer Chinese, der die Sprache und die Kultur kennt und obendrein als Hacker über das perfekte Rüstzeug für diese Aufgabe verfügt.«

Fungs Blutdruck stieg. Wohin soll das führen?

»Sie leiten das IC -Cloud-Red-Team, und das bedeutet, dass Sie Führungsqualitäten besitzen, und was am wichtigsten ist, Sie denken wie ein Hacker.« Dahm lachte. »Es würde mir todsicher nicht gefallen, wenn Sie es auf mich abgesehen hätten.«

Fungs Alarmglocken schrillten.

»Was genau schlagen Sie vor?«

»Ich möchte, dass Sie ein eigenes, auf China fokussiertes Unternehmen für Cybersicherheit gründen. Es von Grund auf aufbauen. Es wird Ihr Unternehmen sein, Ihre Vision, Ihr Baby, aber an CloudServe gebunden, zwecks Schutz und Unterstützung.«

»Zu welchem Zweck? Um die Chinesen zu hacken – oder die Amerikaner?«

»Beide selbstverständlich. Aber ganz legal. Sie werden den Regierungen beider Länder ein Angebot unterbreiten, wie sie jedes System, und zwar überall, gefahrlos und risikolos auf Schwachstellen überprüfen können. Damit ist unbegrenzt viel Geld zu verdienen.«

»Ich bin überwältigt. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

Dahm lehnte sich zurück. »Lassen Sie mich ganz ehrlich zu Ihnen sein. Würden Sie irgendwann losziehen und Ihre eigene Firma gründen, was Sie auf jeden Fall tun würden, würde es früher oder später zwischen uns zum Krieg gekommen, und ich würde alles in meiner Macht Stehende tun, um Sie zu vernichten – unternehmerisch gesprochen, versteht sich. Wir sind ja schließlich keine Mörder, nicht wahr?« Er lächelte verschmitzt.

Fungs Augen weiteten sich. »Das will ich doch hoffen.«

»Stattdessen ziehe ich es vor, hier und jetzt eine Allianz zu schmieden. Ich möchte, dass Sie ihre kühnsten Träume verwirklichen, aber ich möchte auch, dass Sie es als mein Partner tun, nicht als mein Konkurrent. Was sagen Sie dazu?«

»Für mich geht damit ein Traum in Erfüllung. Ich kann es noch immer nicht fassen.«

»Da mir der Verwaltungsrat von CloudServe und die Börsenaufsicht im Nacken sitzen, müssen Sie das Kapital natürlich selbst beschaffen. Es werden Millionen nötig sein. Aber das wird Ihnen nicht schwerfallen, oder?«

Wieder war Fung verwirrt, begeistert und panisch. Worauf wollte Dahm hinaus?

Für Fung galt dasselbe wie für CloudServe – fantastischer Cashflow, aber stets am Rande der Pleite. Wäre Dahm darüber im Bilde, würde dieses Gespräch nicht stattfinden. Oder doch? CHIBI wusste Bescheid und machte sich seine Schwachstellen zunutze. Machte Dahm dasselbe wie CHIBI ?

Moment mal. Was? Nein. Das konnte nicht sein. Oder doch?

»Ich bin nicht gerade ein Risikokapitalgeber, Elias. Ich weiß nicht, wie Sie darauf kommen, dass ich so viel Geld auftreiben könnte.«

»Sie haben mehrere Einhorn-Start-ups mit aufgebaut – gewiss, sie sind pleitegegangen, aber sie waren gute Adressen. In eine hatte ich sogar ein wenig investiert. Sie müssen sich nur wieder an die Investoren wenden, die diese Projekte unterstützt haben, und zwar mit einer virtuellen Absichtserklärung meinerseits, dann wird das Geld schon fließen. Was meinen Sie?«

»Ich fühlte mich geschmeichelt. Alles in mir sagt, dass ich die Gelegenheit beim Schopf packen soll. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich um einen Tag Bedenkzeit bitte?«

»Ganz und gar nicht«, antwortete Dahm. Er stand auf und streckte seine sportlichen 193 Zentimeter. »Wie wär’s jetzt mit dem Nachtisch?«

»Gerne.«

»Wunderbar. Ich bin gleich zurück.«

Darauf verschwand Dahm im Haus.

Fung nippte an seinem Wein, als plötzlich Roberto erschien, muskulös wie ein Schwimmer und nur mit einer Badehose und einem Lächeln bekleidet.

Der große Brasilianer legte Fung eine vertraute Hand auf die Schulter. »Ich hoffe, du bist hungrig, denn ich bin der Nachtisch.«

Fung stellte das Weinglas ab.

Roberto trat an den Rand des Infinitypools, der nur wenige Schritte entfernt war.

»Willst du dich mir anschließen?« Er zog die Badehose aus.

Fung starrte den Adonis an, der wie aus Marmor gehauen vor ihm stand. Seine Verwirrung verwandelte sich in Lust.

Woher wusste Dahm von Roberto, seinem Favoriten?

Das war doch nicht möglich. Oder doch?

Nein.

Aber CHIBI wusste von ihm.

»Eine Runde Schwimmen? Ja, klingt verlockend.«