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Alexandria, Virginia

J ack packte nur einen kleinen Rucksack.

Er würde ja nur drei Tage fortbleiben, und schlimmstenfalls konnte er seine Klamotten in einem Fluss oder so waschen. Oder besser noch, einen auf Jack Reacher machen und vor Ort irgendwelche billigen Sachen kaufen, statt sich mit Waschen abzumühen.

Der Uber-Fahrer war ein höflicher junger afghanischer Einwanderer namens Mohammad, der als Übersetzer für die U. S. Army gearbeitet hatte. Er holte ihn vor seiner Wohnung ab und fuhr ihn durch den dichten Berufsverkehr zum Dulles International. Es war kurz nach fünf.

Die beiden Männer bemerkten weder den verbeulten blauen Toyota Corolla, der ihnen mit Abstand folgte, noch den Mann, der ihn fuhr, einen ehemaligen Pinkerton-Mitarbeiter mit aknenarbigem Gesicht namens Tyler, der seine blutunterlaufenen Augen hinter einer Oakley-Sonnenbrille verbarg. Tyler war fest entschlossen, an Jack Ryan dranzubleiben. Er wollte seine neue Chefin Sa ndra Kyle beeindrucken, nachdem er bei der Beschattung ein paar Tage zuvor John Clark aus den Augen verloren hatte. Jetzt auf Ryan angesetzt, konnte er zeigen, was er draufhatte.

Der Uber-Fahrer setzte Jack mit einem handgepäcktauglichen Rucksack vor Eingang 6 im Ankunftsbereich des Dulles International Airport ab und raste davon. Tyler gelang es, ein Foto von Jack und dem Kennzeichen des Taxis zu machen, bevor er sich wieder in den Verkehr einfädelte.

Er schickte Kyle seine Fotos, bevor er sie anrief. Sie rief umgehend selbst an.

Er konnte ihr nicht sagen, mit welcher Airline Jack fliegen wollte oder wohin. Ihm ins Gebäude zu folgen hätte nur Sinn gemacht, wenn Jack die Absicht gehabt hätte, sich am Schalter ein Ticket zu kaufen, und das war höchst unwahrscheinlich. Er würde einfach die Sicherheitskontrolle passieren und in einem der beiden wahnsinnig langen Terminalgebäude verschwinden, in die ihm niemand ohne Ticket folgen konnte.

Da Ryan nur ein Handgepäckstück bei sich trug, nahm er zweifellos einen Inlandsflug, der in den nächsten ein, zwei Stunden ging. Tyler musste allerdings zugeben, dass ihnen dieser Hinweis nicht wirklich weiterhalf. Innerhalb dieses zweistündigen Fensters starteten mehrere Hundert Maschinen in alle Himmelsrichtungen und stellten eine Verbindung zum Rest der Welt her.

Um seinen Diensteifer unter Beweis zu stellen, bat er um die Erlaubnis, den Afghanen später am Abend zu befragen, vorzugsweise in dessen Haus, während er seiner jungen Frau eine Pistole an den Kopf hielt. »Das kapiert so ein Stammesmensch«, versicherte er.

Kyle gab ihm grünes Licht und versprach, ihm innerhalb einer Stunde die Adresse des Afghanen zu schicken.

Inzwischen hatte der beleibte Ex-Pinkerton-Detektiv mächtig Durst bekommen. In der U-Bahn herrschte um diese Tageszeit totales Chaos, doch zwanzig Minuten später hatte er es geschafft und betrat einen belebten irischen Pub, den er häufiger besuchte.

Tyler erklomm seinen Lieblingshocker, und schon im nächsten Moment wurden ein Jameson-Whiskey und ein kühles PBR vom Fass vor ihm auf die Bar gestellt. Zwei gescheiterte Ehen hatten ihn sein Haus und seine Pension gekostet. Aber wenigstens erhielt er die miesen Tagessätze, die Kyle ihm zahlte, bar auf die Hand, sodass er sie nicht versteuern musste und, was noch wichtiger war, Lohnpfändungen durch die Anwälte seiner Ex-Frauen, diese Blutsauger, entging. Ein paar Ausflüge ins O’Hare’s jede Woche waren sein einziger Trost, und der Typ hinter dem Tresen – ein ehemaliger Cop – berechnete ihm nur den halben Preis, zum Dank für ein paar entlarvende Fotos, die Tyler von seiner Frau gemacht hatte, mit der er in einem hässlichen Sorgerechtsstreit lag.

Die zweite Runde kam in dem Moment, als ein dunkeläugiger Mexikaner in seinem Alter auf dem Hocker neben ihm Platz nahm. Sie grüßten einander mit einem stummen Nicken, bevor der Barkeeper fragte: »Was darf’s sein?« Der Mexikaner bestellte ein Mineralwasser.

Tyler unterdrückte ein Grinsen und kippte den Whiskey. Wozu Mineralwasser bestellen? Er trank das Bier ex und wischte sich, das vertraute Brennen in der Kehle genießend, den Schaum vom Mund.

Er stand auf, zog einen Zehner aus der Brieftasche und warf ihn auf den Tresen.

»Setzen Sie sich.« Der Mexikaner sprach zu seinem Mineralwasser.

Tyler traute seinen Ohren nicht. »Wie bitte?«

»Sind Sie taub? Ich habe gesagt, Sie sollen sich setzen.«

Der Mexikaner wandte sich ihm zu. Ding Chavez war einen halben Kopf kleiner als Tyler, aber der Blick, mit dem er Tyler durchbohrte, ließ erahnen, dass nicht mit ihm zu spaßen war.

»Ich sage es nicht noch mal.«

Tyler schwankte auf der Stelle und wog in seinem alkoholumnebelten Hirn seine Optionen ab.

»Sie bezahlen?«

»Klar.«

Der dicke Mann setzte sich und bestellte per Wink noch ein Gedeck.

»Was wollen Sie wissen?«, fragte Tyler.

»Warum beschatten Sie Leute von Hendley Associates?«

»Was geht Sie das an?«

»Die Schaufel in meinem Kofferraum hält es für wichtig.«

Tyler hätte fast in die Hose gemacht. Dieser Dreckskerl meinte es ernst. »Ich muss mal pinkeln gehen.«

Ding nippte an seinem Mineralwasser. »Erst wird geredet, dann gepinkelt.«

»Ich muss aber wirklich.«

»Dann reden Sie schnell, wenn Sie sich nicht bepissen wollen. Mir ist das egal. Aber Sie rühren sich nicht vom Fleck.«

Tyler redete, die Zunge gelöst von zwei weiteren Gedecken und der Aussicht, den Abend auf dem Rücken liegend im kalten Boden zu beschließen, das Gesicht bedeckt mit frisch geschaufelter Erde.

Washington, D.C.

Amanda Watson erbleichte, als müsste sie sich gleich übergeben.

Mary Pat Foley war über eine sichere und verschlüsselte Videokonferenz-Leitung mit der CloudServe-Managerin in ihrem Büro in San Francisco verbunden.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Madame Director.«

»Zunächst mal: Meine Freunde nennen mich Mary Pat.« Die DNI musste Watson Gelegenheit geben, sich wieder zu sammeln und zu beruhigen. Foley konnte die Schuldgefühle und die Verlegenheit nur ahnen, die sie in diesem Moment empfinden musste.

»Nun, Mary Pat, hätten Sie mir nicht Ihre Analyse geschickt, hätte ich gesagt, das kann nicht sein. Das wäre meine erste Reaktion gewesen. Aber die Fakten sind verdammt überzeugend. Es wäre ein Leichtes für mich, die Sache als ein Satelliten- und Hardware-Problem abzutun, aber mein Gefühl sagt mir, dass mehr dahintersteckt.«

»Dann sind wir schon zwei. Deshalb habe ich Sie kontaktiert. Ich denke, Sie verstehen mein Dilemma. Ohne konkrete Anhaltspunkte kann ich nicht herausfinden, wer hinter den Datenlecks steckt, geschweige denn seinen Skalp an die Wand nageln.«

Watson lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und kniff nachdenklich die Augen zusammen.

»Ihr Bericht wurmt mich deshalb so, weil ich vor ein paar Monaten den Eindruck hatte, dass ein Teil ebendieses Satelliten-Uplink-Codes Probleme machte. Sie müssen wissen, dass wir permanent nach Schwachstellen in unseren Systemen suchen. Ich habe meinen besten Mann drangesetzt. Er hat tatsächlich auch eine Sicherheitslücke gefunden, aber gesagt, sie sei nur minimal und nie ausgenutzt worden, soweit er es beurteilen könne. Er hat sie geschlossen, und wir haben weitergemacht.«

»Ist es möglich, dass er etwas übersehen hat – eine andere Schwachstelle vielleicht?«

»Nein, nachdem er die Lücke gestopft hatte, haben wir das System auf Herz und Nieren geprüft. Es war unangreifbar.«

Foley seufzte. Hinter den größten Spionageskandalen der Geschichte hatten nie ausländische Agenten gesteckt, sondern amerikanische Verräter. Aldrich Ames hatte ebenso im Dienst der CIA gestanden wie Edward Snowden, bevor er zu einer privaten Partnerfirma der NSA wechselte. Robert Hanssen hatte dem FBI angehört, Pollard und Walker der Navy. Es war mehr als wahrscheinlich, dass auch diesmal ein Insider am Werk war. »Ich frage nur ungern, aber vertrauen Sie Ihrem Mann in dieser Sache?«

Watson runzelte die Stirn. »Interessant, dass Sie das fragen. Larry Fung gehört zu den intelligentesten Leuten, mit denen ich je zusammengearbeitet habe. Bis vor Kurzem hätte ich die Hand für ihn ins Feuer gelegt.«

»Was hat Ihre Meinung geändert?«

Watson schüttelte den Kopf, wie angewidert von sich selbst.

»Er hat jede interne Sicherheitsüberprüfung bestanden und besitzt eine gültige Top-Secret-Sicherheitsfreigabe, also besteht doch kein Grund, ihn zu verdächtigen, oder? Doch aus den Briefings zum Thema Spionageabwehr weiß ich, dass man auf bestimmte Verhaltensauffälligkeiten achten soll – und auf alles, was mit nachrichtendienstlicher Abschöpfung zu tun hat. Na jedenfalls spielt der Typ gerne den Märtyrer und wirft meines Wissens mit Geld nur so um sich.«

»Ich dachte, ihr im Silicon Valley schwimmt alle im Geld.«

»Wir verdienen sehr gut, aber nicht so viel, wie Sie denken – und nach Abzug der Steuern bleibt nur etwas mehr als die Hälfte. Ein Großteil der Bezahlung erfolgt in Aktienoptionen, und in dieser Hinsicht ist Elias mir und besonders Larry gegenüber sehr großzügig gewesen. Das Problem ist nur, wie er die von uns unterschriebenen Geheimhaltungsvereinbarungen und Wettbewerbsklauseln absichert. Er hat unseren Aktienanteil auf fünf Jahre treuhänderisch hinterlegt und blockiert.«

»Ist das legal?«

»Legal? Ja, aber unmoralisch. Auf jeden Fall effektiv. Deshalb muss Larry eine ganze Weile warten, bevor er sein CloudServe-Lotterielos zu Geld machen kann.«

»Geld ist ein starkes Motiv. Aber auch andere Beweggründe können ausschlaggebend sein: Ideologie, Druck durch Erpressung, Narzissmus.«

»Deshalb habe ich vor ein paar Tagen angefangen, etwas herumzuschnüffeln. Ich habe nichts gefunden und ihn auch nie bei etwas Fragwürdigem ertappt. Doch auf der anderen Seite ist er so verdammt clever, dass er seine Spuren verwischen kann, und das würde er ja auch tun, wenn er nichts Gutes im Sinn hätte. Ich kenne den Mann. Er geht methodisch vor, ist umsichtig und genau.«

»Wissen Sie, wie sich das anhört? Als wäre die Tatsache, dass Sie nichts gegen ihn finden konnten, der beste Beweis für seine Schuld.«

»Ich weiß, es klingt lächerlich, und deshalb hatte ich meine Bedenken schließlich auch über Bord geworfen. Aber dann kam Ihr Bericht, und dass er genau das Problem anspricht, an dem Larry gearbeitet hat, hat mir einen Schauer über den Rücken gejagt. Und bei der Rumschnüffelei, von der ich gesprochen habe, habe ich entdeckt, dass von meinem Computer aus die NRO -Workstation durchsucht wurde, die Sie in Ihrem Bericht erwähnen. Das Problem ist nur: Ich habe auf diese Workstation nie zugegriffen. Ich habe den fraglichen Tag und Zeitpunkt überprüft und schon an meinem Verstand gezweifelt, bis ich mir meine Uber-Quittung von dem Abend angesehen habe. Tatsache ist: Jemand hat meinen Computer dazu benutzt, sich ohne mein Wissen die NRO -Workstation anzusehen.«

»Und Sie haben Fung im Verdacht?«

»Ihr Bericht bestätigt es so gut wie. Er war an jenem Abend die letzte Person, die sich nach mir noch im Büro aufhielt. Wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen, er wollte meine digitalen Fingerabdrücke im Rechner hinterlassen für den Fall, dass es Probleme geben sollte.«

»Ist Ihr Computer nicht biometrisch gesichert?«

»Doch, aber das Red Team hat ein Gerät namens PassPrint entwickelt, mit dem es solche Schutzvorkehrungen überwinden kann und …«

Watson schloss die Augen. »Ich bin ja so eine Idiotin.«

»Was ist?«

»Larry war der Verantwortliche, der das Projekt geleitet hat.«

»Wie wollen Sie jetzt weiter vorgehen?«

»Als Erstes würde ich gerne noch mal die Satelliten-Software durchchecken und eine neue Diagnose durchführen. Wir müssen unbedingt handfeste Beweise dafür finden, dass es wirklich ein Problem gibt. Ich möchte die Leistung Ihrer Leute nicht kleinreden, aber Korrelation ist kein Beweis. Ich möchte der Sache auf den Grund gehen, und wenn mir das gelingt, werden sich vielleicht neue Hinweise ergeben.«

»Wie lange brauchen Sie? Die Zeit läuft gegen uns.«

»Spätestens bis Büroschluss werde ich etwas für Sie haben.«

»Gut. Während Sie der Sache nachgehen, werde ich ein paar von meinen Leuten diskrete Erkundigungen über Mr. Fung einziehen lassen.«

»Ja, bitte tun Sie das, und ›diskret‹ ist hier das Schlüsselwort. Er ist unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils. Wenn wir uns in ihm irren und er dahinterkommt, was wir tun, wird er außer sich sein, und ich werde völlig unnötig einen meiner besten Leute verlieren. Und was noch schlimmer ist: Er wird es überall in der Stadt herumerzählen und unseren Ruf ruinieren. Uns vielleicht sogar verklagen.«

»Ich verstehe vollkommen. Wir werden das Ganze unterm Deckel halten. Ich freue mich darauf, bis Büroschluss von Ihnen zu hören.«

»Das werden Sie. Und halten Sie mich bitte auf dem Laufenden, wenn Sie etwas über Larry herausfinden.«

»Sie haben mein Wort«, versprach Foley.

Das Videotelefonat endete, und Mary Pat schrieb eine Nachricht an den Direktor der NSA -Abteilung Spionageabwehr, in den Medien oft als Q Group bezeichnet, und bat ihn um Unterstützung im Fall Fung.

CHIBI las den Nachrichtenverkehr zwischen Foley und Q Group ein paar Stunden später höchst amüsiert.