75

J ack zwang sich, die Augen zu öffnen.

Er lag mit dem Gesicht auf dem schmutzigen Hotelteppich. Sein Schädel brummte, und seine Rippen schmerzten bei jedem Atemzug. Seine Sinne waren von dem Zeug vernebelt, das ihn ausgeknockt hatte.

Er rappelte sich mühsam auf und setzte sich auf das knarrende Bett. Grelles Sonnenlicht brachte ihn zum Blinzeln, doch er konnte sehen, dass sein Zimmer verwüstet worden war.

Wie spät ist es?

Er griff nach seiner Uhr auf dem Nachttisch. Sie war weg. Sein Handy auch. Er durchsuchte seine Taschen. Scheiße.

Er stand auf und sah sich nach seinem Rucksack um. Er konnte ihn nirgends entdecken.

Er riss die Schranktür auf. Nur alte Drahtkleiderbügel und das zurückgelassene Hemd eines anderen.

Er sank auf die Knie und warf einen Blick unters Bett. Nichts.

Er stürzte ins Badezimmer. Ebenfalls Fehlanzeige.

Er war weg.

Verdammt. Da war alles drin.

Er blickte hinab auf seine Füße, an denen er nur noch Socken trug.

Die Arschlöcher haben mir sogar die Wanderstiefel geklaut.

Er tastete nach seiner Brieftasche.

Fort.

Panisch griff er nach Corys Asche an seinem Hals.

Fort!

Wut und Übelkeit überkamen ihn.

Er knurrte durch die zusammengebissenen Zähne.

Scheißkerle!

Die Wut richtete sich nach innen.

Versetzte ihm einen Tiefschlag.

Er hatte alles vermasselt.

Schon wieder.

Jack lief zu dem mit Zigarettenbrandlöchern übersäten Nachttisch auf der anderen Seite des Betts. Eine alte Flip-Clock zeigte 11.35 Uhr. Der Bus, der nach Anta zurückfuhr, musste jede Minute ankommen.

Doch was ihm sofort ins Auge stach: Neben der Uhr lagen sein Pass und sein Busticket für die Rückfahrt.

Botschaft angekommen.

Yankee, go home.

Neben dem Pass bemerkte er ein Stück zusammengeknülltes Papier. Er wusste, was es war, noch bevor er es auseinander strich. Er versuchte, das Foto von Corys Vater auf dem Gipfel der Hermana Alta wieder zu glätten, doch es war ruiniert.

Er steckte das zerknitterte Polaroid in die Hosentasche, schlurfte in das kleine Badezimmer mit den schmutzigen Fliesen und spritzte sich an dem rostigen Waschbecken Wasser ins schmerzende Gesicht. Ein Blick in den halb blinden, gesprungenen Spiegel klärte ihn darüber auf, dass er ein blaues Auge, eine geschwollene Wange und eine dicke, aufgeplatzte Lippe hatte, was den metallischen Geschmack nach Blut in seinem Mund erklärte.

Er begrub das Gesicht in den hohlen Händen und wusch sich mit dem kalten Wasser, um einen klaren Kopf zu bekommen. Dann legte er die Hände erneut zusammen und trank, bis sein brennender Durst gelöscht war. Er trocknete sich das Gesicht mit einem papierdünnen Handtuch ab und strich seine verfilzten Haare glatt. Seine Blase schmerzte. Er pinkelte, wusch sich die Hände und spülte sich den Mund mit Leitungswasser aus, da zusammen mit allem anderen auch seine Zahnbürste gestohlen worden war.

Vom Wasser, das auf den Boden gespritzt war, waren seine Socken nass geworden. Wie zum Teufel sollte er hier ohne Schuhe klarkommen, geschweige denn ohne Geld?

Er nahm den Pass und das Busticket vom Nachttisch und zog die Zimmertür auf. Er spähte den Flur hinauf und hinunter – ein halbes Dutzend Zimmer auf jeder Seite und eine Tür am hinteren Ende. Wahrscheinlich eine Abstellkammer.

Jack huschte so leise wie möglich über den fleckigen Flurteppich und öffnete die Tür. Richtig, eine Abstellkammer. Vollgestopft mit Handtüchern, einzeln verpackten kleinen Seifenstücken und Toilettenpapier, das Schleifpapier mit 200er Körnung nicht unähnlich war. Dazu kamen ein Besen, ein Eimer, ein Wischmopp, Lappen und eine altmodische Handkehrmaschine. Ohne allzu große Hoffnung wühlte er in den Sachen.

Da.

Ein Paar ausgelatschte braune Budapester. Er pustete den Staub herunter und rannte in sein Zimmer zurück, wo er sich aufs Bett hockte und mit den nassen Socken in die Schuhe schlüpfte. Sie drückten, aber in der Not frisst der Teufel Fliegen, rief er sich in Erinnerung. Er lockerte die Schnürsenkel so weit wie möglich und band sie zu. Das müsste gehen.

Da fiel ihm auf, dass sie ihm auch die Jacke gestohlen hatten.

Die Ziffern an der alten Flip-Clock ruckten mit einem metallischen Klicken weiter.

Zeit zu gehen.

Jack stieg die einzige Treppe hinunter. Die Bar war leer, von Sands nichts zu sehen.

Natürlich nicht.

Verfluchter Verräter. Nichtsnutziger Säufer.

Vom Alkohol ein flaues Gefühl im Magen und stinksauer wegen der Prügel, die er bezogen hatte, trat Jack hinaus ins Tageslicht. Der Himmel war bewölkt, die Luft kühl.

Aber wenigstens regnete es nicht.

Genau in diesem Augenblick kam der Bus aus Anta in die Stadt gerollt und näherte sich mit stöhnendem Motor und quietschender Federung der Tankstelle. Wieder eine Busladung von Goldsuchern. Er schlug den Weg dorthin ein.

Die Fahrgäste waren ausgestiegen, als er ankam, und der Fahrer tankte den Bus auf. Jack reihte sich in die Schlange von einem halben Dutzend Einheimischen ein, niedergeschlagene, ausgezehrte und schmutzige Leute, deren Träume von Goldschätzen an der bitteren Realität dieses grausamen Ortes zerschellt waren.

Nach dem Tanken bezahlte der Fahrer beim Tankwart, stieg in den Bus und ließ den Motor an. Am Rande seines Gesichtsfeldes bemerkte Jack die beiden Männer, die er am Vorabend in der Bar gesehen hatte. Sie beobachteten ihn und den Bus aus der Ferne. Was ihn nicht weiter überraschte.

Der Bus vollführte eine 180-Grad-Wende und fuhr wieder den Berg hinunter, vorbei an Sands, der mit verschränkten Armen und wachsamem Blick an der letzten Straßenecke stand. Jack hätte nicht übel Lust gehabt, aus dem Bus zu springen und dem versoffenen Kerl eine Abreibung zu verpassen. Doch die Miene des Ex-Rangers hielt ihn zurück. Sie drückte Mitleid aus, entweder mit Jack oder mit sich selbst.

Wie auch immer, das spielte jetzt keine Rolle. Sands und seine Kumpane hatten gesehen, dass sie gewonnen hatten. Jack saß im Bus.

Jack hatte es nicht auf den Gipfel des Berges geschafft, und selbst wenn er ihn doch noch besteigen würde, hätte er keine Asche mehr, die er dort verstreuen könnte. Was ein einfacher und letzter Freundschaftsdienst hätte werden sollen, war ein bitterer Fehlschlag geworden, der Jacks ohnehin schon übermäßige Schuldgefühle wegen Lilianas Tod und des tragischen Schicksals ihres verwaisten Sohnes noch verstärkte.

Verletzt, müde und auf der ganzen Linie besiegt, begriff Jack, dass es Zeit wurde, von hier zu verschwinden.