D er leichte Eisregen war in einen wärmeren Schauer übergegangen. Ein schneidender Wind fegte über das Gipfelplateau.
42 Minenarbeiter in Lumpen scharten sich zitternd um einen Kochtopf, dessen Inhalt auf einem notdürftigen Gasbrenner in dem großen Schuppen köchelte. Ein einzelner Wächter lungerte in der Nähe herum. Eine indigene Frau schöpfte den Eintopf in die Blechnäpfe der Arbeiter, die an ihr vorbeischlurften und sich dann erschöpft zum Essen auf den kalten, harten Boden setzten.
Jack kauerte, hinter Felsen versteckt, am Rand des Plateaus. Einen Plan hatte er gefasst. Es fehlte nur noch eine passende Gelegenheit.
Plötzlich kam sie.
Eine Essensglocke ertönte auf den Eingangsstufen der Kantine. Acht bewaffnete Männer schlenderten in Richtung Baracke.
Bis jetzt hatte Jack zwanzig Männer gezählt, die das Gelände bewachten. Seine Chancen standen gleich null.
Doch er hatte keine Wahl.
Zeit zum Losschlagen.
Steaks brutzelten auf dem Grill, und der süßliche Geruch von verbranntem Fett und Zigaretten erfüllte die Baracke. Die acht Wachleute saßen an Tischen in der beengten, aber warmen Kantine, schwatzten, rauchten, aßen Steaks mit Pintobohnen und spülten mit Limonade aus Dosen nach. Der Regen trommelte auf das Blechdach.
Der Koch, ein Deserteur der Canadian Army, drehte mit einem Tablett, auf dem weitere Steaks lagen, die Runde, gabelte welche auf Teller, wenn Nachfrage bestand, und machte sich zur Zielscheibe launiger Witze über sein Essen.
Ein einzelner Schuss aus einer 10-mm-Pistole ertönte, und in der nächsten Sekunde explodierte der Propangastank draußen hinter der dünnen Barackenwand. Die Wachleute, die nicht sofort durch die gewaltige Explosion starben, wurden von Stahlsplittern schwer verletzt oder verbrannten bei lebendigem Leib.
Drei weitere Schüsse legten den Generator lahm, der die Lampen mit Strom versorgte. Im Camp wurde es dunkel. Nur die brennende Kantine sorgte noch für Licht.
Aufgeschreckt durch die Gasexplosion, kam ein Wachmann in Unterhosen aus einer benachbarten Baracke gestürmt. Er wurde im Laufen mit einem einzigen Schuss aus Jacks 10-mm-Glock niedergestreckt.
Der Chef der Wachmannschaft stand im dunklen Eingang der Höhle und versuchte, sich ein Bild von der Lage zu machen. Wer waren die Angreifer? Wie viele waren es? Aus welcher Richtung kamen sie?
Er forderte über Funk Lageberichte an, aber niemand antwortete.
»Merde«, fluchte er.
Die lodernden Flammen griffen von der Kantine auf die benachbarten Baracken über. Die Feuersbrunst tauchte das gesamte Lager in ein orangefarbenes Flackern, und die heißen Wellblechdächer zischten im Regen.
Zwei weitere Pistolenschüsse durchbrachen das Prasseln des Regens. Sauerstoffflaschen explodierten in dem Moment, als drei Männer an ihnen vorbeirannten, wie Artilleriegranaten und zerfetzten ihre Leiber.
Plötzlich rief einer der Wachleute etwas auf Deutsch und gab aus seinem Sturmgewehr, einem Steyr AUG 5.56 x 45-mm-Bullpup, drei Feuerstöße zu jeweils drei Schuss ab. Worauf, konnte sein Chef nicht sehen.
Zwei Mündungsblitze aus einer Pistole 30 Meter hinter dem Wachmann waren die Antwort. Der groß gewachsene Deutsche fiel rücklings in den Schmutz.
Der Chef musste unwillkürlich lachen.
Er wusste genau, wer da draußen war.
Dreißig Sekunden später schrie ein anderer Wachmann mit Poncho und Boonie-Hut, der eine Schrotflinte Benelli M1014 mit Pistolengriff trug, vor Schmerz auf, als eine Klinge seine Wirbelsäule durchtrennte und zwar dort, wo sie mit der Schädelbasis verbunden war.
Der Tote fiel hinter einen der großen Sortiertische.
Jack zog ihm den Poncho aus und streifte ihn über, dann setzte er sich seinen Hut auf, ergriff die halbautomatische Schrotflinte und rannte zurück zu dem Bobcat, um dort Deckung zu suchen. Drei Wachleute waren hinter einer der Baracken, die nicht in Brand geraten waren, in Deckung gegangen, um sich in einem weiten Bogen von hinten anzuschleichen.
Darauf vertrauend, dass er mit dem Poncho, dem Hut und der Benelli als Wachmann durchging, rannte Jack quer über das Gelände, schlüpfte hinter die Baracke und rief den anderen zu: »He, ihr Arschlöcher!«
Die drei Männer fuhren gleichzeitig herum. Zwei von ihnen kannte Jack aus der Bar. Bevor sie ihre Waffen heben konnten, pustete er sie in weniger als zwei Sekunden mit acht Ladungen Null-Null-Schrot von den Beinen. Als ihre zerfetzten Leiber in den Schmutz sanken, kringelte immer noch Rauch aus dem Lauf der Benelli.
»JACK RYAN ? KÖNNEN SIE MICH HÖREN ?«
Jack warf die Schrotflinte weg, da er keine Munition mehr dafür hatte, und zückte die Glock. Wenn er richtig gezählt hatte, waren noch drei Wachleute übrig. Er schlich bis zur Ecke der Baracke.
»JACK RYAN . LETZTE CHANCE FÜR DIESE FRAU . KOMMEN SIE JETZT RAUS , SONST ERSCHIESSE ICH SIE .«
Die Stimme kam ihm bekannt vor. Ein Europäer.
Jack spähte um die Ecke. Der Regen beeinträchtigte die Sicht.
Im flackernden Feuerschein konnte er einen Mann ausmachen, der einer Frau, die vor ihm in einer Pfütze kniete, eine Pistole an den Kopf hielt. Neben dem Mann mit der Pistole knieten ein Dutzend Minenarbeiter im Dreck, die ein zweiter Bewaffneter mit einem Gewehr bedrohte. Und hinter ihnen, in dem Schuppen, kauerten dicht gedrängt die restlichen Arbeiter, die der dritte Wachmann in Schach hielt.
»Jack! Ich sehe Sie. Sie haben drei Sekunden, oder die Frau stirbt. Eins … zwei …«
Verdammt.
Wenn er vortrat, legten sie ihn um. Keine Frage.
Aber wenn er es nicht tat, würde die Frau sterben und alle anderen, die auf den Knien lagen, ebenfalls.
Wieder überkam ihn unbändige Wut. Er saß in der Falle. Aber er hatte keine Wahl.
»Warten Sie! Ich komme raus.«
Jack hob die Hände hoch, mitsamt der Glock. Er ging auf den Mann mit der Pistole zu.
Eine LED -Taschenlampe flammte auf und blendete ihn, als ihr Strahl über ihn hinwegstrich.
»Lassen Sie die Pistole fallen, Jack. Und gehen Sie weiter.«
Jack warf sie zur Seite. Er kam immer näher. Der Regen klatschte ohrenbetäubend laut auf seinen Boonie-Hut.
Jack traute seinen Augen nicht.
»Jack Ryan. So wie Sie sich verhalten, könnte man meinen, wir wären uns schon mal begegnet.« Der Mann kratzte sich mit dem Lauf seiner Pistole im bartlosen Gesicht.
Jack war sich sicher.
Nur dass die Tätowierung an der falschen Stelle saß. Der geflügelte Arm mit dem Schwert prangte auf seinem Handrücken statt auf seinem Unterarm.
Doch es war das Gesicht des Scheißkerls, der Liliana umgebracht hatte.
Oder doch nicht?
Nicht ganz. Nur eine große Ähnlichkeit. Ein Zwillingsbruder oder ein enger Verwandter?
»Nein, wir sind uns nie begegnet. Woher kennen Sie mich?«
Der Mann – der ebenfalls Cluzet hieß wie sein jüngerer Bruder – antwortete: »Ihr Freund Sands hat Sie verpfiffen.«
Cluzet sah Jacks Reaktion. »Seien Sie dem alten Säufer nicht böse. Er hat Ihnen das Leben gerettet. Meine Männer sollten Sie eigentlich töten, aber Sands sagte, Sie seien ein amerikanischer Tourist und hätten neugierige und einflussreiche Freunde. Ein Jammer, dass Sie nicht weggefahren sind.«
»Ich werde mich bei ihm bedanken, wenn ich ihn sehe.«
Cluzet grinste. »Das bezweifele ich.«
»Diese Tätowierung. Wo habe ich die schon mal gesehen?«
Cluzet drehte die geladene Pistole in seiner Hand und hielt die Tätowierung besser ins Licht. »Französische Fremdenlegion. Zweites Fallschirmjägerregiment.«
»Ist das ein Rubbel-Tattoo aus einer Cornflakes-Packung? Oder hat Ihnen Ihr Liebster das Ding spendiert?«
Cluzet brüllte vor Lachen. »Ein echter Komiker und was für ein Killer! Sie haben heute Abend ein paar richtig harte Jungs kaltgemacht, Jack. Das war kein Kinderspiel. Ich bin beeindruckt.«
Er trat auf Jack zu. Regen tropfte ihm von Nase und Kinn. »Sie sind einer von der knallharten Sorte, stimmt’s, Jack?«
Er kam noch näher. Bis sie fast Nase an Nase voreinander standen.
»Glauben Sie, Sie können auch mich töten?«
Jack holte zum Schlag aus, aber er war total ausgelaugt. Der Adrenalinschub der letzten Viertelstunde war komplett verebbt und hatte ihm die letzten Kräfte geraubt.
Cluzet wich der laschen Geraden locker aus und konterte mit einem wuchtigen Schlag in die Rippen, der Jack nach vorn einknicken ließ.
Jack sackte in die Knie.
Cluzet drückte ihm die Mündung seiner Pistole an den Kopf.
»Tut mir leid«, flüsterte Jack.
Leid um das Mädchen weiter unten am Berg, um Liliana und um all die anderen, bei denen er im Lauf der Jahre versagt hatte.
Besonders um seinen Vater.
Cluzet lachte und betätigte den Abzug.
Der Knall neben seinem Kopf bohrte sich wie ein glühender Nagel in sein Trommelfell. Seine pochenden Kopfschmerzen wurden davon noch schlimmer, und ein schrilles Kreischen schnitt in sein Hirn wie ein schlechtes Funksignal.
Das 9-mm-Geschoss schlug neben Jack ein, ohne Schaden anzurichten. Er hatte nicht mit der Wimper gezuckt, allerdings nur, weil er so verdammt müde war.
»Fesselt ihn«, befahl Cluzet den beiden Männern, die sich in diesem Moment näherten. Jack schaute auf und begriff, dass er sich verzählt hatte. Nicht drei, sondern fünf Männer waren übrig geblieben.
»Was ist mit ihnen?«, fragte Jack und deutete mit dem Kopf auf die Arbeiter, die noch im Dreck knieten.
»Die haben heute Nacht noch zu arbeiten.«
Cluzet beugte sich zu Jacks anderem Ohr herunter. »Aber morgen früh werden alle sterben. Wir nehmen eine neue Mine in Betrieb. Die hier hat ihre Schuldigkeit getan und die Leute auch.«
Er grinste Jack ins Gesicht, um ihn zu reizen. Doch Jack hatte nur Augen für Corys hölzernes Amulett, das um den Hals des Mannes hing.