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J ack trank so viel Wasser aus dem Vorratstank, dass man damit ein Aquarium hätte füllen können, dann ging er zu der unbeschädigten Baracke, in der das Büro untergebracht war. Er fand ein vollständig aufgeladenes Satellitentelefon. Ein Telefonat mit Gerry brachte alles ins Rollen, selbst der Präsident wurde informiert.

In der folgenden Stunde kümmerten sich Jack und Sands um die Minenarbeiter, holten sie aus dem Regen und pferchten sie in den verbliebenen Schlafbaracken der Wachleute zusammen. Sands warf die Heizungen an, und Jack verteilte warme Decken und trockene Kleidung.

Sands brachte in Erfahrung, dass all diese Menschen aus Kliniken in Lima, La Paz und ein paar anderen Großstädten stammten – Drogenabhängige, Alkoholiker und Prostituierte, die man mit dem Versprechen auf eine bessere Zukunft und lohnende Arbeit hierhergelockt hatte. Doch auf der Hermana angekommen, mussten sie hungern, wurden geschlagen, die Frauen unter ihnen immer wieder vergewaltigt. Wer nicht arbeiten wollte, musste sterben. Da sie Außenseiter der Gesellschaft waren, machte sich keine Behörde die Mühe, nach ihnen zu suchen.

Der Regen hörte kurz vor Tagesanbruch auf, als die ersten beiden Hubschrauber vom Typ MH -60R Seahawk (»Romeo«) dröhnend in Sichtweite kamen. Sie waren vom Flugdeck der Belleau Wood (CG -74) gestartet, eines Lenkwaffenkreuzers der Ticonderoga-Klasse, der im Rahmen einer Lateinamerika-Mission der Vierten Flotte im Marinehafen von Lima lag.

Ausrüstung und Bewaffnung der Helikopter waren normalerweise auf die Bekämpfung von U-Booten ausgelegt. Da die Helikopter bei diesem Einsatz über ihre kritische Höhe hinausflogen, durften nur Freiwillige daran teilnehmen. Auf Befehl des Kapitäns waren die Kampfmittel entfernt und die beiden auf U-Boot-Abwehr spezialisierten Besatzungsmitglieder zu Hause gelassen worden. Stattdessen hatte sich in jeden Hubschrauber ein halbes Dutzend Spanisch sprechender Marines und Navy-Sanitäter mit Medizinbedarf, Decken und Lebensmittelrationen gequetscht.

»Ich habe Befehl vom Generalstabschef des Marine Corps persönlich, Sie in meinen Heli zu verfrachten, Sir«, schrie der Marine Lieutenant auf dem windgepeitschten Plateau gegen die im Leerlauf wummernden Turbinen an.

Jack zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, Lieutenant. Mein Vater war im Corps, ich nicht. Sie können dem General sagen, dass ich diesen Berg erst verlasse, wenn man diese Leute in Sicherheit gebracht hat.«

»Er hat mich schon vorgewarnt, dass Sie so was in der Art sagen würden.« Der Lieutenant lächelte. Sein Lance Corporal tippte an die Stinger-Rakete auf seiner Schulter. »Wir bleiben hier, bis die peruanische Luftwaffe eintrifft. Aber wenn einer der Hubschrauber auftaucht, von denen Sie erzählt haben, wird ihm Corporal Hernandez eine hochexplosive Grußkarte schicken.«

»Ich werde Sie beim Wort nehmen«, sagte Jack. »Aber jetzt muss ich mir erst mal eine Tasse Kaffee besorgen.«

Eine Stunde später blinzelten die ersten silbernen Sonnenstrahlen durch die tief hängenden Wolken.

Der schönste Sonnenaufgang, den ich je gesehen habe, dachte Jack. Hauptsächlich deshalb, weil er nicht erwartet hatte, ihn noch zu erleben.

Jack stand an der Stelle, wo Corys Vater vor so vielen Jahren gestanden hatte. Er öffnete das kleine Holzamulett und sprach ein stilles Gebet, während der leichte Wind die halbe Unze von Corys Asche über die Granitfelsen unter ihm verteilte, dann kniete er nieder und vergrub das zerknitterte Foto in der feuchten Erde.

Hinter ihm dröhnten zwei GE -Wellenturbinen, als der Helikopter vom Typ SH -3 Sea King der peruanischen Luftwaffe abhob und die letzten Minenarbeiter vom Berg brachte.

Sands und der Lieutenant der Marines nahten.

»Sind Sie jetzt zufrieden, Mr. Ryan?«, fragte der Lieutenant hoffnungsvoll. »Mein Kopf steckt schon halb in der Schlinge.«

»Ich bin startklar, wenn Sie es sind. He, eine Frage noch. Haben Sie zufällig ein Handy dabei?«

»Ja, Sir. Warum?« Er reichte es Jack.

»Ich muss unbedingt ein paar Fotos machen. Sie kriegen es gleich wieder. Fünf Minuten, höchstens.«

Der Lieutenant nickte und funkte im Weggehen zu einem der über ihnen kreisenden Seahawks hinauf, dass er sich darauf vorbereiten solle, HAMMER  – so Jacks Codename – an Bord zu nehmen.

»Das haben Sie gut gemacht«, sagte Sands.

»Nicht gut genug, aber es muss reichen.«

Sie standen am Rand des Plateaus. Cielo Santo war ein schmutziger Fleck weit unter ihnen.

»Wir fliegen da runter und holen Ihre Sachen, dann nehmen wir meine Maschine in Lima und kehren in die Staaten zurück.«

»Nein, aber trotzdem danke.« Sands deutete den Berg hinunter Richtung Cielo Santo. »Ich werde da unten die Stellung halten. Vielleicht kann ich dabei helfen, die Situation für diese armen Leute zu verbessern.«

Jack verstand. Sands hatte ihm in der vergangenen Stunde etwas mehr von sich erzählt.

Die persönliche Höllenfahrt des Ex-Rangers hatte vor Jahren begonnen, als ein von ihm angeheuerter irakischer Übersetzer und dessen Familie brutal gefoltert und ermordet wurden, bevor Sands sie aus dem Land herausbringen konnte. Er hatte diesen Menschen versprochen, sie zu schützen, und machte sich zum Vorwurf, sie im Stich gelassen zu haben. An ihrer Ermordung war er zerbrochen. Er kümmerte sich um nichts mehr, am wenigsten um sich selbst, trieb sich in der Weltgeschichte herum und strandete schließlich in Cielo Santo.

Er hatte gewusst, dass auf der Hermana Alta irgendeine Schweinerei im Gang war, doch er schwor Jack, dass ihm keine Einzelheiten bekannt gewesen seien. »Hauptsächlich deshalb, weil es mir scheißegal war«, hatte er mit vor Scham heiserer Stimme zugegeben.

Jacks Anblick hatte ihn daran erinnert, wie er selbst einmal gewesen war. Und Jacks Entschlossenheit, ein Versprechen einzulösen, das er einem toten Freund gegeben hatte, hatte tief in ihm drin wieder etwas zum Leben erweckt, das er tot geglaubt hatte.

»Ich schulde Ihnen was«, sagte Sands.

»Ich denke, es ist genau anders rum.« Jack nickte in Richtung Cielo Santo. »Das wird nicht leicht.«

»Das ist das Gute nie. Aber Sie können mir einen Gefallen tun.«

»Gerne.«

»Sagen Sie Midas, dass Brick noch ein paar Patronen im Lauf hat, ja?«