EINS

Sie ist zurückgekommen. Der Bus fährt los, und da steht sie, vor einem schmuddeligen Schneehaufen auf der anderen Seite der Avenue. Kein Nachbarsmädchen mehr, sondern eine junge Frau in hochhackigen Stiefeln und im Mantel, der Gürtel gestrafft gegen die Kälte und die Dunkelheit. Sie hat einen Rucksack, keinen Koffer, und erst so wird sie zu Aisha. Mit ihrer Art, wie sie sich das Ding ungeduldig über die Schulter wirft, bevor sie auf den Asphalt tritt und die salzfleckigen Fahrbahnen zwischen uns überquert.

»Du bist nicht gerade passend angezogen für das Wetter«, sagt sie.

»Schon okay. Musste ja nicht lange warten. Du siehst gut aus, Aisha.«

Sie runzelt die Stirn, lässt sich aber von mir umarmen, erst nach einer Weile lösen wir uns voneinander und laufen in östlicher Richtung los, das Kinn eingezogen vor dem Wind, der zwischen den hohen Wohnblöcken ringsum wie durch einen Tunnel pfeift. Im Licht eines entgegenkommenden Autos leuchtet Aishas Gesicht hell auf. Ja, sie sieht wirklich gut aus. Dieselbe dunkle Haut mit einem Stich ins Rote, dasselbe Haar, das sie früher als »Promenadenmischung« so gehasst hat. Aber das ist zehn Jahre her, seitdem haben wir uns nicht mehr gesehen. In der Stille, die sich schwer zwischen uns legt, fühlt es sich an, als würde noch die kleinste Unehrlichkeit diese erneute Verbindung zunichtemachen. Plötzlich schießt ein Lastwagen an uns vorbei und bespritzt unsere Schuhe und unsere Hosenbeine mit Schneematsch. Aisha flucht, doch als unsere Blicke sich treffen, zeigt sie ein kleines Lächeln.

»Ein echter Willkommensgruß«, sagt sie.

»Du siehst ein bisschen müde aus. Ich habe das Bett schon für dich zurechtgemacht.«

»Danke, Michael. Danke für das Angebot, bei euch zu übernachten. Tut mir leid, dass ich nicht früher angerufen habe. Mir steht der Kopf woanders in diesen Tagen. Und du kennst mich, ich habe noch nie gern um einen Gefallen gebeten.«

Sie war im Ausland gewesen, als sie die Nachricht erhielt, ihr Vater werde nun palliativmedizinisch betreut, und während sie mit mir telefonierte, beschrieb sie, wie in ihrem Kopf auf einmal Panik war, aber auch eine dumpfe Wut. In seinen sporadischen Briefen hatte er davon gesprochen, dass er sich müde fühle, nur den Krebs erwähnte er mit keinem Wort. Sie hatte eine Reihe von Anschlussflügen nach Toronto genommen und dann einen Greyhound zum Pflegeheim in Milton, der Kleinstadt, in die er vor Kurzem gezogen war. Die Woche bis zu seinem Tod war sie bei ihm geblieben, und sie hatten Zeit zum Reden, aber es war sowieso zu spät. »Was gab es da noch zu sagen?«, fragte sie mit harter Stimme am Telefon, gefolgt von einer Stille in der Leitung, die ich unmöglich ausfüllen konnte. Ihr Anruf kam aus dem Nichts. »Bitte komm«, sagte ich, und selbst als ich es wiederholte, war der Zweifel in meiner Stimme nicht zu überhören. »Komm nach Hause, in den Park.«

Der Park ist alles hier, alles um uns herum. Diese Zusammenballung von niedrigen Häusern und Reihenhäusern und schiefen Wohnsilos aus Beton, die heute Abend im verschwenderischen Licht einer Stadt vor einem mattlila Himmel aufragen. Wir nähern uns dem westlichen Ende der Lawrence Avenue Bridge, einem Ungetüm aus Stahlbeton, fast zweihundert Meter lang. Zig Meter unter der Brücke verläuft das Rouge Valley, schneidet sich einen Weg durch diesen Vorort, ohne etwas auf menschengemachte Raster zu geben. Aber das Tal ist für uns heute Abend nicht zu sehen, und kurz vor der Brücke kommen wir zum Waldorf, einer Reihenhaussiedlung aus bröckeligem rosa Backstein, die nordöstliche Ecke ist seit ewigen Zeiten mit flatternden blauen Planen verhängt. Das Haus, in dem Aisha vor zehn Jahren mit ihrem Vater gewohnt hat, liegt auf der besseren Seite des Blocks, auf der Südseite, dem Verkehr abgewandt. Dagegen geht die Seite, auf der ich mein ganzes Leben verbracht habe, zur stark befahrenen Straße hin, schutzlos dem Lärm der über den Asphalt zischenden Reifen ausgesetzt. Ich warne Aisha vor dem losen Beton an den Stufen, und als ich den Messingschlüssel ins Schloss stecken will, bin ich auf einmal die Unbeholfenheit in Person. Ich stoße die Tür auf, und unsere Blicke fallen in ein Wohnzimmer, das im flackernden Licht eines Fernsehers bläulich schimmert. Der Ton ist aus. Ein Sofa steht mit der Rückseite zu uns, darauf sitzt eine Frau mit ergrautem Haar, sie dreht sich nicht zu uns um.

Ich gebe Aisha zu verstehen, dass wir leise sein sollen, ziehe demonstrativ die Schuhe aus und gehe rasch mit ihr durchs Wohnzimmer. Die Frau auf dem Sofa blickt weiter auf den stummen Fernseher, die Pantomime einer Talkshow, ein prominenter Gast wirft lachend den Kopf zurück. Ich führe Aisha über einen kurzen Flur zum zweiten Schlafzimmer. Eine kleine Lampe wirft ihren Lichtkegel auf einen Schreibtisch, an der Seite ein Etagenbett mit Matratze und Bettzeug nur auf dem unteren Teil. Das obere Bett ist schon lange ausgeräumt, selbst die Matratze wurde entfernt, geblieben ist das Skelett der Holzlatten. Ich schließe die Tür hinter uns, und in dem plötzlich geschrumpften Zimmer setze ich zu einer Erklärung an. Wir schlafen natürlich nicht zusammen hier. Ich nehme das Sofa im Wohnzimmer, das ist recht bequem, doch, wirklich. Ich deute auf das Handtuch und die akkurat gefalteten zusätzlichen Decken auf der Matratze unten. Als ich sehe, wie Aisha vor sich hin starrt, halte ich inne. Sie hat nicht mal ihren Rucksack abgestellt.

»Spricht deine Mutter nicht mehr?«, fragt sie.

»Doch. Sie ist nur manchmal still, vor allem abends.«

»Tut mir leid«, sagt sie und schüttelt den Kopf. »Ich hätte nicht kommen sollen. Platze einfach bei euch rein.«

Schneematsch pladdert gegen das Fenster. Wieder ein Lastwagen, der zu nah am Bordstein entlanggefahren ist. Aber durch den plötzlichen Lärm erwacht etwas in mir, ein Gefühl der Beschämung vielleicht, weil ich dachte, ich könnte unser Gespräch heute Abend so beenden. Mit belanglosen Worten über Schlafmöglichkeiten und Handtücher. Mit ein paar freundlichen Worten über Aishas Vater, aber keinem einzigen über diesen anderen Verlust, der wie ein Schatten auf dem Zimmer liegt, so tief wie die zehn Jahre des Schweigens zwischen uns.

»Ich denke immer noch an Francis«, sagt sie.


Francis war mein älterer Bruder. Die toughsten Kids konnten sich damit brüsten, seinen Namen zu kennen, und wenn Eltern ihn aussprachen, dann als Warnung. Zuallererst aber war er diese Schulter, nackt und warm, die sich an mich drückte, dieser Körper, der nie weiter entfernt war als meine Haut.

Unsere Mutter stammte aus Trinidad. Oder von den Westindischen Inseln, wie Eltern ihrer Generation sagten. Francis und ich, beide in Kanada geboren und aufgewachsen, hatten Trinidad einmal besucht, daher erkannten wir in manchen Wörtern, Klängen und Speisen ihre Heimat wieder. Eine Heimat, die erklärte, warum es bei uns Getränke wie Mauby und Hibiskuslimonade gab oder das unbegreiflicherweise so genannte Peardrax, von dem Francis mir einmal weisgemacht hatte, es sei ein Kloputzmittel. Irgendwie dachten wir, die Westindischen Inseln wären auch der Grund für andere, nicht weniger seltsame Dinge bei uns zu Hause, die Schneekugel mit den Niagarafällen etwa oder, eine ständig lauernde Bedrohung, die 45er Single mit Anne Murrays Snowbird. Trinidad war der Ort, wo Verwandte wohnten, denen wir nur kurz begegnet waren und die jetzt auf alten Schwarz-Weiß-Fotos fortlebten, geisterhafte Bilder, die unsere Art zu lächeln erklären sollten, unsere Augen, unsere Haare, unser Knochengerüst.

Aber da war noch ein anderes altes Foto, Francis hatte es entdeckt, als wir noch klein waren, diskret aufbewahrt in Mutters Schlafzimmerschrank. Es war das Foto eines Mannes mit einem so gepflegten Schnurrbart, dass er wie aufgemalt aussah. Der Mann trug ein leichtes helles Jackett, der offene Hemdkragen ein Stück nach oben gebogen. Altmodische Wörter wie mondän und nonchalant kamen mir in den Sinn, zumindest tun sie das heute. Der Mann war unser Vater, er stammte ebenfalls von den Westindischen Inseln und lebte jetzt irgendwo in der Stadt, allerdings hatte er uns schon verlassen, als Francis drei war und ich gerade mal zwei. Das Foto war nicht besonders scharf, und ich weiß noch, wie Francis und ich es uns genau ansahen und in dem verschwommenen Gesicht des Mannes nach etwas Wiedererkennbarem suchten. Seine Haut war viel dunkler als die Haut unserer Mutter, aber man hatte uns gesagt, er sei nicht Schwarz wie sie, sondern etwas, was man »indisch« nannte – nur schien sich diese Herkunft verloren zu haben, in der dürftigen Bildqualität oder in der spachteldicken Schicht Pomade, die so künstlich aussah wie die aufsteckbare schwarze Frisur des Lego-Männchens.

In Wahrheit hatte keiner von uns, weder ich noch Francis, noch unsere Mutter, großes Interesse an der grauen Vergangenheit von Fotos. Im Hier und Jetzt hatten wir mehr als genug zu erkunden, und vor allem war da die ständige Herausforderung, nicht zu verpassen, was unsere Mutter eine »Chance« nannte. Sie arbeitete als Putzfrau in Bürogebäuden, Einkaufszentren und Krankenhäusern. Außerdem war sie eine dieser Schwarzen Mütter, die weder andere um Hilfe bitten noch Hilfe annehmen wollten. Die es nicht zuließen, dass irgendetwas ihrem Wunsch nach Unabhängigkeit oder ihrer Vorstellung, einmal anzukommen, auch nur den kleinsten Schlag versetzte. Sobald sich also an einem fernen Ort der Stadt ein Job auftat, der Chancen für die Zukunft versprach, oder irgendwo ein Überstundenzuschlag winkte, nahm sie die Arbeit an, auch wenn das hieß, ihre beiden kleinen Jungen allein zu Hause zu lassen.

Nicht dass sie das gern getan hätte. Wenn sie abends erfuhr, dass sie noch eine Nachtschicht bekommen konnte, verwandte sie ihre kostbare Schlafenszeit darauf, für uns zu kochen und sich Gedanken über die Mahlzeiten und unsere Aktivitäten am nächsten Tag zu machen. Hatten wir Hausaufgaben auf, legte sie uns die Hefte auf den Esstisch neben die Teller mit rasch Hingezaubertem, Gemüse oder Reis mit Schmorhuhn. Ihre Gerichte hatten etwas Zärtliches, waren voller Liebe, abgerundet mit der fruchtigen Schärfe von Scotch Bonnet. Doch sobald sie in ihren Kittel und ihre Schuhe schlüpfte, war sie erschöpft, mit den Nerven am Ende, fast erdrückt von Schuldgefühlen, was sich dann Bahn brach in Schimpftiraden und den wildesten Drohungen. Ihre Stimme, geschult am britischen Englisch, grub sie aus der tiefsten Hölle der Geschichte.

»Nicht an die Tür gehen oder die Heizung aufdrehen. Nicht den Ofen anmachen oder die Herdplatte, auf keinen Fall. Hast du verstanden, Francis? Wenn ich wiederkomme und einer von euch hat sich verletzt, kriegst du eins auf den Hintern, dass dir Hören und Sehen vergeht. Nach acht Uhr striktes Fernsehverbot, falls ich bis dahin nicht zurück bin. Kein A-Team und keine Mrs T oder irgendein Gangsterquatsch in meinen vier Wänden. Da lachst du, ja? Findest du das lustig? Meinst du, ein kleiner Dickschädel wie du braucht nicht auf mich zu hören? Na, dreht ihr beide nur am Herdknopf. Macht nur ein einziges Mal die Tür auf. Ich hänge euch an den Daumennägeln an die Decke, ziehe euch bei lebendigem Leib die Haut ab, da könnt ihr schreien. Ihr kriegt solche Dresche, dass eure Kindeskinder noch die Narben tragen!«

Francis und ich nickten und schüttelten unsere Köpfe, alles gleichzeitig, so nachdrücklich versprachen wir es. Und nachdem sich Mutter vor dem Spiegel bei der Tür ihre Arbeitskluft und ihr Haar zurechtgezupft hatte, ging sie, ohne einen Blick zurück, schloss die Tür von außen und überprüfte mehrmals, ob sie auch zu war, worauf wir unter dem Lärm des Verkehrs hören konnten, wie ihre Schritte über den Bürgersteig davonklapperten. In den folgenden Stunden versuchten Francis und ich, brav zu sein. Wir aßen unser Abendessen, räumten das Geschirr weg, und erst danach holten wir uns oben aus den Küchenschränken, wonach sich unsere Münder so sehnten. Maissirup, gierig aus dem gelben Bienenkorbglas geschlürft. Das grüne Wackelpuddingpulver, langsam von einem Löffel geleckt, ein Prickeln auf der Zunge. Dann machten wir die Hausaufgaben, die Mutter uns hingelegt hatte, aber danach lernten wir genauso Wichtiges fürs Leben und über die Welt aus Herzbube mit zwei Damen und Ein Duke kommt selten allein. Als wir etwas älter waren, schauten wir an den späten Freitagabenden, wenn Mutter nicht da war, italienische Komödien mit den verlockenden Warnhinweisen für Eltern. Francis und ich quälten uns geduldig durch die verwickelten Handlungen in einer fremden Sprache, und das allein für die Aussicht auf ein paar Sekunden Brüste.

»Jetzt sind sie zu sehen!«, rief Francis einmal aus dem Wohnzimmer. »Alle beide! Du musst kommen! Sofort!«

»Warte, warte!«, rief ich aus dem Bad, und ich stolperte los, fiel hin, kroch über den Boden, die Hose noch um die Knöchel, bis ich bei ihm war und hinsah. Aber von wegen. Nur diese spätabendliche Werbesendung für den Ronco-Dörrautomaten.

Francis’ Gelächter. Blödes Trockenfleisch.

Immerhin war er so anständig und respektvoll, immer mindestens eine Stunde zu warten, ehe er mit irgendwas loslegte. Als Mutter uns das erste Mal allein ließ, erlebten wir einen magischen Moment. Die Sonne ging schon langsam unter, und mein Bruder zog einen Stuhl aus der Küche herbei, um an den Schließriegel an der Haustür zu kommen. Er schnippte ihn zur Seite, stieß die Tür auf, und da lag sie vor uns. Die Freiheit der Lawrence Avenue. Außenbeleuchtungen und rostfleckige Wohnhäuser.

»Nicht vergessen«, sagte Francis. »Wir sind nie an die Tür gegangen.«


Die Welt um uns herum hieß Scarborough. Zu anderen Zeiten wurde die Gegend mal »Scarbirien« genannt, ein Brachland am Rand einer sich ausbreitenden Stadt. Doch jetzt, in den frühen Achtzigerjahren, in denen wir aufwuchsen, hörten wir in der brodelnden Sprache eines sich verändernden Landes andere Namen: Scarlem, Scarbistan. Wir wohnten in Scar-bro, einem Vorort, der aus dem Boden und ins Gelbe, Braune, Schwarze geschossen war. Unsere Nachbarn waren Mrs Chandrasekar und Mr Chow, Pilar Fernandez und Clive »Sonny« Barrington. Sie sprachen andere Sprachen, aßen anderes Essen, aber sie alle kamen aus der ein oder anderen Kolonie, und so hatten sie einen gemeinsamen Wortschatz, um wilde Kinder wie uns zu beschreiben. Wir waren »Straßenbengel«, waren »Rowdys«, die nur Unfug im Kopf hatten und »herumstrolchten«. Wir waren, was ein Nachbar, mehr Dichter als Wachmann, als »ölverschmierte Kreaturen mit der Gerissenheit von Mungos« beschrieb, die Müllcontainer und Müllräume plünderten oder auf Bäume und Feuertreppen kletterten, um Erwachsenen nachzuspionieren. Im Winter bewarfen wir die Autos auf der Lawrence Avenue mit Schneebällen, und wenn die Fahrer versuchten, uns zu verfolgen, tauchten wir hinter die Häuser ab. Einmal rauschte ein Kombi knapp an meinem Kopf vorbei, in seinem Sog wurde ich mitgerissen, aber Francis packte mich an der Schulter und zog mich in Sicherheit.

Tagsüber waren die Bildungsangebote formellerer Natur. Unsere Schule war nach Sir Alexander Campbell benannt, einem der Väter der Konföderation, doch wir Schüler hatten unsere eigenen Konföderationen, unsere eigenen Schulhofterritorien und Allianzen, unsere eigenen Handelsabkommen und Hymnen. Wir hörten Planet Rock, liefen mit Adidas-Taschen herum und trugen stonewashed Jeans und Malermützen. Wann immer in der Aula eine Versammlung stattfand, waren wir nicht zu überhören, unsere vereinten Stimmen fluteten den Raum, egal welcher Feier wir höflich sitzend beizuwohnen hatten.

Hey Francis, Homeboy, my man.

Francis, Alter! Gangstar!

Unter dem chemischen Surren weißer Neonröhren saßen Francis und ich lange Strafen in den Klassenräumen ab, zum Teil auch aus Angst vor unserer Mutter, die uns unter Androhung von etwas Schlimmerem als dem Tod davor warnte, unsere Chance zu vertun, »unsere einzige«. Aber Francis lernte tatsächlich gern. Er las Bücher, und er war ein guter Beobachter.

Wenn die Schule aus war, besuchten wir andere Bildungsstätten. Ein Dutzend Blocks westlich der Hochhäuser und Wohnanlagen des Parks, an der Kreuzung Markham und Lawrence, war ein ganzer Komplex von Einkaufszentren. Dort gab es Lebensmittelgeschäfte, die unter Schildern in fremden Sprachen und Schriften Gewürze und Kräuter verkauften, Obst und Gemüse mit vage bekannten Namen wie Ackee und Eddo. Und Restaurants mit einem durchschnittlichen Verfallsdatum von einem Jahr, die auf handgemalten Schildern Eis mit »Heimatgeschmack« versprachen, Mango und Khoya und Badam Kulfi. Auf einem zweiten Schild, hervorgehoben mit rotem Marker, hieß es, auf Wunsch serviere man auch Gerichte der mysteriösen »kanadischen Küche«.

Dann gab es noch das Heritage Value, betrieben von diesem Arsch, der sein nutzloses ausländisches Diplom eingerahmt in den Laden hängte, andere Einwanderer auf den Tod nicht ausstehen konnte und seine Frau und seine beiden Töchter zu endlosen Stunden an der Kasse verdonnerte. Dort standen sie dann und mussten Lotterielose verkaufen und günstige Telefontarife für Anrufe nach Kingston und Saigon und Colombo und Port of Spain. Der Mann hasste Francis und mich, er sah das »kein Geld« in unseren Gesichtern. Wenn er im Laden war, hatten wir kaum eine Chance, uns hineinzustehlen. Aber wenn er nicht im Laden war, wenn seine Frau oder seine Töchter Dienst hatten, schlüpften wir durch die Tür und konnten ein paar einzelne Double Bubble und vielleicht eine Packung Fun Dip mit dreierlei Geschmack kaufen. Jedes Mal warfen wir einen Blick in die Gefrierfächer mit den Klondike-Eisriegeln und dem Eskimo-Eis am Stiel, dick mit Kristallen überzogen und für uns unerschwinglich, und manchmal schafften wir es sogar, für einen Moment bei den Comics zu stehen. Da taten wir dann so, als überlegten wir, eins zu kaufen, aber in Wirklichkeit lasen wir die Hefte so schnell wie möglich, all diese Geschichten von maskierten und missverstandenen Helden mit ihrer geheimen Herkunft und ihrem ewigen Krieg gegen die dunkelsten Mächte.


Francis hatte oft Albträume. Er lag in dem Bett über mir, ich hörte seinen Atem, sein leises Keuchen, ob von einer Allergie oder einer Erkältung. Doch kaum sank er in den Schlaf, suchte der Schrecken ihn heim. Und mit einem Schrei wachte er auf, einem Schrei aus seinem tiefsten Inneren, die Kehle zerrissen, der Bauch entleert, und es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass auch ich geschrien hatte. Wenn Mutter zu Hause war, kam sie uns trösten. Sie legte sich zu uns, alle drei in einem Bett, und mit der Wärme ihres Körpers verdrängte sie die Angst. So lagen wir da, still und wach, und sahen zu, wie der Wind Gespenster in die Vorhänge wehte und die Lichter der Autos auf der Avenue über die Wände und die Decke krochen.

Wir sagten nie etwas. Wir lauschten.

Wovor haben zwei Jungen im Alter von elf und zwölf Jahren Angst? Manchmal hörten wir beim Spielen Sirenengeheul in der Luft, Wagen mit blinkenden Lichtern bremsten quietschend auf der Straße, und schon lag ein Kid aus der Nachbarschaft, den Kopf beschämt von uns abgewandt, in Handschellen auf dem Bürgersteig. Man erzählte sich Geschichten von überfallenen und zusammengeschlagenen Jungen, zerstörten Gesichtern, die Kiefer verdrahtet. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen«, behauptete einer, »Das war ich«, ein anderer, und wir waren uns nie sicher, ob man auch nur einem von ihnen glauben konnte. Zeitungen und Fernsehen brachten immer wieder Berichte über Gangs, Morde in üblen Gegenden, Schwerverbrecher, die sich in der Nähe herumtrieben. Einmal schaute ich morgens mit Francis in eine Zeitungsbox, um die Schlagzeile mit der letzten Schreckensnachricht zu lesen, und in der Scheibe gespiegelt sah ich unsere eigenen Gesichter.


Mit sieben Jahren konnte Francis schon lesen, und selbst als Teenager las er noch regelmäßig Bücher. Aber auch die vielen Zeichen und Gesten um uns herum verstand er zu lesen. Er las in den Gesichtern der Jugendlichen aus dem Viertel, die vor dem 7-Eleven herumhingen, und wusste genau, wann er ihnen zunicken oder eine witzige Bemerkung machen sollte oder wann es besser wäre, einfach weiterzugehen und erst gar nicht ins Blickfeld zweier blau geschlagener Augen zu geraten. Vor allem aber konnte Francis unsere Mutter lesen. Er sah ihren Stolz, aber auch, welche Wege und Opfer sie auf sich nahm. Er wusste, dass sie für ihre Arbeit als Putzhilfe und manchmal auch als Kindermädchen nicht nur anstrengende Arbeitszeiten hatte, sondern auch lange Fahrtwege mit komplizierten Busverbindungen zu weit entfernten Bürogebäuden und Einkaufszentren und Wohnungen, und dass sie zu den unmöglichsten Uhrzeiten an Haltestellen und Bahnhöfen ewig warten musste, mal im Regen oder in der Schwüle des Nachmittags, mal in winterlicher Kälte und Dunkelheit. Ihm war bewusst, dass es auf der Rückfahrt von der Arbeit immer einen Moment gibt, in dem der Körper einer Mutter zu kapitulieren droht. Eine bestimmte Stelle an der Busschleife bei der Kennedy Station, wenn die Erschöpfung zuschnappt und die Gliedmaßen sich wie bloße Fleischstücke anfühlen, und dann muss diese Mutter ihre letzten Kräfte aufbieten, um die zwei noch ausstehenden Fahrten mit dem Bus zu bewältigen.

Kam Mutter irgendwann fix und fertig nach Hause, legte Francis, damals kaum im Teenageralter, gleich los. Wie beiläufig bot er ihr ein kühles, feuchtes Tuch für den Kopf an, je nachdem auch eine Schüssel mit Wasser und Epsomsalz für die Füße. Im Winter holte er ihr eine Decke, im Sommer einen Ventilator und ein Glas Wasser. Er achtete darauf, es mit seiner Fürsorge nicht zu übertreiben, was ihren Stolz nur verletzt hätte, und hielt sich strikt an die Hausregeln, die sie aufgestellt hatte, um uns über schlechte Zeiten hinwegzuhelfen. Doch als Mutter an einem heißen Sommertag einmal auf dem Sofa zusammenbrach, das angebotene Essen mit einem Kopfschütteln ablehnte und nicht mal einen Schluck Wasser trinken oder auch nur die Augen aufschlagen wollte, setzte der zwölfjährige Francis alles auf eine Karte.

Er lief in die Küche und holte aus dem Gefrierfach eine Dose Orangensaftkonzentrat. Immer wieder hatte Mutter uns eingebläut, das Zeug nicht ohne ihre Erlaubnis anzufassen. Und wenn wir es mal durften, sollten wir das Konzentrat mit der fünffachen Menge Wasser verdünnen, nicht mit der dreifachen, wie es in der bescheuerten Anleitung hieß. Aber an diesem Tag nahm Francis nur eine Dose Wasser, stampfte es mit einem Holzlöffel in den gefrorenen Konzentratklumpen und schüttete die leuchtende Eispampe in ein Glas. Behutsam drückte er es Mutter in die Hand, ihre Augen waren noch geschlossen. Als sie probierte, machte ich mich auf ein Riesendonnerwetter gefasst, aber ihr Mund bewegte sich wie beim Kosten einer Nachspeise.

»Diesmal habe ich den Saft süß gemacht«, erklärte Francis.

»Süß«, sagte Mom und zeigte ein mattes Lächeln.

Sie griff nach seinem Gesicht. Nahm das Kinn in die Hand und strich über den sich andeutenden Schatten eines Schnurrbarts. Dann kniff sie ihm mit Daumen und Zeigefinger leicht ins Ohrläppchen, als wäre es ein Regentropfen auf einem Blatt, langte nach seinem Haar und zupfte sanft etwas heraus. Eine Klette aus dem Rouge Valley.


Das Rouge Valley. Es war wie eine Wunde in der Erde. Eine grüne Narbe, die sich durch unser Stadtviertel zog, an manchen Stellen unglaublich tief, ein Gletschertal, das es schon gab, lange bevor sich irgendetwas Scarborough nannte. Nicht weit von unserem Haus hatte man eine Brücke über das Tal gebaut und es in eine Parklandschaft verwandelt, ein asphaltierter Weg führte am Bach entlang. Als wir noch klein waren, ging Mutter, wenn sie mal Zeit hatte, mit uns zum Picknicken dorthin. Aber schon bald zogen Francis und ich lieber auf eigene Faust los, wir verschmähten den befestigten Weg zum Bach hinunter und entschieden uns für den Pfad, den wir selbst durchs Gebüsch und den steilen Hang hinab bis auf den Grund dieses sattgrünen Tals geschlagen hatten.

Als wir noch klein waren, bauten wir uns im Dickicht Forts und Verstecke, nicht nur aus Ästen, sondern auch aus Pappe und Teilen von kaputten Möbeln, die Leute dort abgeladen hatten. Wir ließen Zweige im Bach um die Wette treiben, spähten nach den gesprenkelten Fischchen, die in kleinen Schwärmen im dahinströmenden Wasser schwammen, und machten uns auf die Suche nach anderen Wesen, die es geschafft hatten, unbemerkt im Park zu überleben, fanden im Schlamm Spuren einer Bisamratte, eines Waschbären oder auch einer Schildkröte. Einmal, es war Sommer, machten wir mit einem Stock Jagd auf einen Flusskrebs, er war blau-rot gefleckt, und Francis erklärte schaudernd, wie dieser Krebs, wenn er wuchs, seinen eigenen Körper aufknackte. Im Herbst schichteten wir einmal alles, was es in der Landschaft aufzusammeln gab, wie Decken über uns, buntes Laub und Kiefernnadeln, Zweige und Disteln als Stacheldraht, auch Plastiktüten und Aluschalen, die von den Fast-Food-Buden weiter oben herabsegelten, die Haare getarnt mit Binsen und zerdrückten Trinkhalmen. Unsere Gesichter waren ohnehin schon erdfarben.

Das Rouge war nicht »die Natur«, nicht dieses unberührte Land aus den Tierfilmen oder worüber man in Geschichtsbüchern lesen konnte. Das Rouge war keiner dieser Orte, von denen man hätte behaupten können, man habe ihn entdeckt oder er gehöre einem jetzt allein. Aber es war der Ort, den wir kannten und zu dem wir, auch als wir älter waren, immer zurückkehrten.


In dem Herbst, als Francis vierzehn wurde, gingen wir eines späten Abends zum letzten Mal ins Rouge. Schon lange, vielleicht mehr als ein Jahr, waren wir nicht mehr zusammen dort gewesen. Wir liefen bis zum Anfang der Brücke und mussten erst eine Weile die Leitplanke absuchen, bis wir zwischen den Büschen, dem Laub und dem herübergewehten Müll unseren Pfad fanden. Ein paarmal hupten uns vorbeifahrende Autos wütend an. »Da vorne«, sagte Francis schließlich, und wir machten uns an der steilsten Stelle an den Abstieg, rutschten mit Karacho den Hang hinunter und konnten das Tempo nur verlangsamen, indem wir uns an den Büschen und den niedrigen Ästen festhielten. Irgendwann wurde der Boden eben, und wir standen auf einer kleinen Lichtung. Francis hatte einen grünen Rucksack aus Segeltuch mitgenommen, und als wir dann am Bach saßen, überraschte er mich mit einem Sixpack Molson Canadian. Er hebelte eine Dose aus den Plastikringen, knackte sie mit einem leisen Zischen auf und hielt sie mir hin. Ich nippte vorsichtig daran, versuchte keine Miene zu verziehen, so bitter schmeckte es. Wir schwiegen eine Weile, während wir unser Bier tranken, die Bäume wurden zu schwarzen Schatten am nächtlichen Himmel.

Francis hatte mich immer beschützt, meine ganze Kindheit. Ich war natürlich kleiner als er, aber irgendwie machte ich auch sonst nicht viel her. Da war mein nervöses Lächeln. Mein Haar, das sich im Gegensatz zu seinem grundsätzlich unentschlossen zeigte, für immer gefangen im Niemandsland zwischen Afro und dem Vokuhila der Eishockeyspieler. Als es auf die Pubertät zuging, waren es zunehmend meine musikalischen und sonstigen Interessen, die Anlass zur Sorge gaben. Mein Getrommel auf dem Luftschlagzeug zur Rockband Rush zum Beispiel oder meine akribische Zeichnung von Gondolfin mit seinem wallenden Haar, diesem mehrklassigen Halbelf im vierzehnten Level, der plötzlich als schwul galt. Francis und ich hatten unser Leben lang zusammen im selben Zimmer geschlafen, aber in letzter Zeit hatte er mich ein paarmal in allzu intimen Situationen ertappt, eine entmutigende Erfahrung. Zum Beispiel als Francis mit neuen Freunden nach Hause kam und ich gerade vor dem Fernseher den Tanz zu Lionel Richies All Night Long nachahmte. Sehr viel gravierender war, als er in unser Zimmer kam und sah, wie ich vor der Damenunterwäsche im Eaton-Katalog mit Mazola-Maisöl masturbierte.

»Du nimmst den Eaton?«, hatte er mich später gefragt, leise und ohne mir in die Augen zu sehen. »Dein Ernst?«

Ich rechnete also damit, dass er mir, als wir mit unserem Bier im Rouge Valley saßen, einen seiner Vorträge halten würde, wie ich mich zu verhalten und aufzutreten hätte, um »besser rüberzukommen«. Aber wir griffen bloß zu einer zweiten Dose Canadian und horchten auf die nächtlichen Laute der Insekten, den dahinplätschernden Bach und die gedämpften Geräusche der Fahrzeuge, die hoch über uns die Brücke passierten. Wenn Francis mal etwas sagte, ging es um die Jungs aus unserem Stadtteil. Er sprach von Scatter und Brownman, von Tiger und Anton, ich kannte sie alle. Wenn ich allein war, auf dem Schulhof oder auf dem Parkplatz vor dem Einkaufszentrum, machten sie einen auf dicke Hose und schubsten mich herum, richtig weh taten sie mir aber nie, sie demütigten mich nur und erinnerten mich an meinen Platz in der Welt. Francis war irgendwann dazwischengegangen, und seither ließen sie mich in Ruhe. Francis sagte, ausgerechnet diese Jungs würden immer erzählen, wie oft man sie schon gedisst hätte. Und dass sie Feinde hätten, die auf sie lauerten. Dass sie glaubten, sie müssten sich bewaffnen.

»Idioten«, sagte ich.

Francis nickte, aber das war nicht nur ein zustimmendes Nicken, das war auch die Kopfbewegung, die man macht, wenn der andere das Entscheidende nicht kapiert hat und man darüber hinweggehen will, weil alles schon zu alt und zu spät ist, um es noch irgendwie zu erklären.


Heute weiß ich, dass man so etwas mit vierzehn spürt. Man nimmt nicht nur die Bedrohung wahr, die von jungen Männern mit Waffen ausgeht, von »Gangs« und »Gewaltverbrechern«, sondern auch diese andere Bedrohung, die schleichend daherkommt und ebenfalls sehr alt ist. Eine Mutter, die einem eine Predigt hält über das Ankommen und die große Chance, und dabei stinkt ihr Atem nach dem Zahn, den sie mangels Zeit und Geld leider gerade nicht behandeln lassen kann. Und je erwachsener Francis wurde, desto unzufriedener wurde er mit der Welt und dem ihm zugedachten Platz.

Mit achtzehn verbrachte Francis die meiste Zeit längst ohne mich und zusammen mit Jungs, die ich kaum kannte. Sie waren älter und aus verschiedenen Gegenden von Scarborough, nicht nur aus dem Park. Sie stylten sich mit weiten Hosen und Sportjacken, der Reißverschluss offen, dazu knallige Mützen und die richtigen Schuhe, trugen kurz getrimmten Fade Cut mit einrasierten Mustern und redeten und gestikulierten auf eine Weise, die auf Verbindungen über Scarborough hinaus verweisen sollte, zur Szene in New York, in L. A. und Kingston. Auch schienen sie ihre eigene Sprache zu haben, und ich sah mir genau an, wie sie Francis begrüßten, sich dabei abklatschten und einen Insider machten. Aber sobald ich versuchte, mich einzuschleimen, »sup« zu sagen oder vielleicht allzu eifrig Zustimmung zu signalisieren (»Yo, echt dope, der Homeboy!«), wurde es peinlich still, sie sahen zu mir, dann zu Francis und wieder zu mir, als wäre ihnen unsere Verwandtschaft unbegreiflich. Als fragten sie sich, was da genetisch schiefgelaufen war.

»Hey«, sagte Francis dann zu mir. »Kannst du uns mal ein bisschen Raum lassen?«

Zu Hause kümmerte er sich weiterhin um Mutter, wenn sie von der Arbeit kam, und jedes Mal strich sie ihm übers Gesicht. Aber die Nähe, die es zwischen ihnen gegeben hatte, wirkte immer bemühter, und von Tag zu Tag schien die Gereiztheit und Anspannung zuzunehmen. Wenn sie ihn jetzt berührte, war das oft recht grob und nur, um ihm angesichts seiner Frisur, seiner Kleidung und seiner Körperhaltung vorzuwerfen, dass es ihm an »Anstand« und schlicht »Zivilisiertheit« mangele. Der heftigste Streit aber drehte sich immer um die Schule. Genau wie ich war Francis vor Jahren aus dem Förderprogramm herausgenommen und in ein Basisprogramm gesteckt worden. Ihn selbst ließ das kalt, sein frisch erblühtes Desinteresse an der Schule war die Antwort auf das offensichtliche Desinteresse der Schule an ihm. Doch in seinem letzten Jahr auf der Highschool sagte er einmal zu einer Lehrerin, sie solle sich verpissen, und unter Androhung, die Polizei zu rufen, verwies man ihn des Geländes. »Deine einzige Chance!«, sagte Mutter immer wieder.

Von da an ging Francis nicht mehr zur Schule. Er hatte eine Reihe von Aushilfsjobs und füllte heimlich den Kühlschrank mit Lebensmitteln auf. Er arbeitete hart, um zu beweisen, dass er sein Leben im Griff hatte, und wenn er nach Hause kam, sah er fast so erschöpft aus wie unsere Mutter, worüber sie sich nur noch mehr aufregte. Bis es in jenem Sommer, als die Hitze langsam heranschlich, zwischen ihnen zum Knall kam. Eine Nachbarin hatte Mutter beiseitegenommen und ihr gesagt, dass Francis seine gesamte freie Zeit im Desirea’s verbringe, einem Barbershop, wo sich Jungs tummelten, die offenbar vorbestraft seien.

»Sag mir, dass das nicht stimmt!«, schrie Mutter. »Sag mir ins Gesicht, dass du dort nicht hingehst! Sag mir, dass das keine vorbestraften Jungs sind!«

Francis hatte längst gelernt, mit Mutter nicht offen zu streiten. Er tat so, als würde er zuhören, sah ihr aber nie direkt in die Augen, so wirkte er weder plump distanziert noch auf Konfrontation aus. Doch diesmal funktionierte Francis’ Technik nicht. Mutter, die tropfnass in ihrem Kittel vor ihm stand, warnte ihn, sie weiter zu ignorieren. Einfach so zu tun, als ob nichts wäre, damit käme er nicht durch.

»Du bist mein Sohn!«, brüllte sie. »Und mein Sohn wird nicht kriminell

Vielleicht war es die Art, wie Mutter das Wort aussprach und kurz vom britischen Englisch in den Singsang aus Trinidad wechselte. Kri-mi-nell. Vielleicht war es aber auch etwas anderes, ein dumpfes Gefühl von Ungerechtigkeit, von Unvermeidlichkeit. Francis lachte nur. Für einen Moment starrte Mutter ihn an. Dachte nicht an den scharfen Haustürschlüssel aus Messing in ihrer Hand, als sie ihm ins Gesicht schlug.

Und Stille. Francis hob langsam die Hand, fasste sich an die Wange. Seine Augen blinzelten, vor Überraschung, vor Schmerz, über die Haut zog sich ein schmaler roter Streifen. Bis sein Blick ein anderer wurde und er lächelte. Als wäre das so etwas wie ein Sieg.


Einen Monat danach rückte die Hitze an, eine brütende Hitze, von einer physischen Wucht, dass niemand ihr entkam. Die Natur gebärdete sich wie diese Schlägertypen, von denen man immer nur hört. Früh am Morgen war es ein bedrohlicher roter Dunst, nachmittags ein klebriges Elend, das wie Sirup in der Luft hing und jeden Willen erstickte, selbst das Atmen fiel schwer. Auch die Nacht brachte keine Erleichterung, und so wie die Hitze den Tag über in den Häusern köchelte, machte sie das Drinnenbleiben unerträglich. Als Mutter einmal abends von der Arbeit kam, ging sie, das Haar über der Stirn schweißverklebt, direkt in ihr Zimmer, ohne nach dem Glas Wasser zu greifen, das Francis ihr hingestellt hatte. Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, bat Francis mich, mit ihm nach draußen zu gehen.

Wir gingen ein paar Schritte zu einem verlassenen Parkplatz, in Sichtweite der Wohnsilos, die nahe unserem Haus aufragten, das Scott, das MacDonald und all die anderen. Ein paar Kinder waren dort mit ihren Fahrrädern. Einer der Jungen hob schüchtern die Hand in Richtung Francis, so wie Jüngere manchmal Ältere grüßen, die sich einen gewissen Ruf verschafft haben, aber Francis ignorierte ihn, und der Junge alberte weiter mit seinen Freunden herum.

»Ich gehe weg«, sagte Francis.

»Was? Wohin? Wann?«

»Bald. In ein paar Wochen vielleicht. Ich muss noch ein paar Sachen regeln.«

»Und Mutter?«, fragte ich.

»Ich sage es ihr bald«, sagte Francis. »Sie wird es verstehen.«

»Aber sie braucht dich.«

»Du hilfst ihr doch auch. Sie wird schon klarkommen. Ein Maul weniger zu stopfen.«

»Aber sie verlässt sich auf dich.«

»Komm schon, Michael«, sagte er. »Ich würde sie nie im Stich lassen. Ich schicke ihr Geld. Und sie ist stark. Was Mutter schon durchgestanden hat, das ahnen wir gar nicht.«

Er atmete aus, schüttelte den Kopf, und dann schaute er zu den hohen Häusern, die Fenster abgedunkelt, damit bei der Hitzewelle möglichst kein Licht hereinfiel. Ich weiß noch, wie der Anblick mich nicht mehr losließ. Als wäre wie von Zauberhand ein ganzes Wohnviertel verschwunden. Als gäbe es eine Macht, die so etwas könnte.


Ein paar Tage zuvor hatten wir gehört, dass es im Park Ärger gegeben hatte. Ein Streit zwischen jungen Männern, der in eine Schlägerei ausgeartet war. Nicht so ein großmäuliges Getue, mal ein bisschen aufmischen, mit lauten Drohungen, einer aufblitzenden Waffe vielleicht, ob echt oder nicht, sondern eine richtige Schlägerei. Einer von ihnen war von einer ganzen Gruppe zusammengeschlagen worden, die Rippen gebrochen, die Finger zertrampelt, die Haare mit Feuerzeugbenzin übergossen und in Brand gesteckt, ein lichtes Blau in der Dunkelheit. »Ein Heiligenschein«, meinte Anton, sein Gesicht ein breites Grinsen.

Francis und ich wussten natürlich, dass man nicht jeder dummen Geschichte glauben durfte, die irgendwer über unseren Stadtteil erzählte, auch nicht jemand wie Anton, der in letzter Zeit als Kleindealer unterwegs war und das ein oder andere mitbekam. Aber als mein Bruder und ich an diesem Abend zu unserem Block zurückkehrten, waren wir gleich hellwach, denn an dem Kreisel bei unserer Anlage standen ein paar Kerle zusammen, die wir nicht kannten. Sie schrien sich an. »Ich bring dich um, du Spacko.« »Dann komm doch, trau dich.« Jemand rief von einem Balkon herunter: »Wir haben schon die Polizei verständigt, die sind gleich da«, aber das Geschrei wurde nur noch lauter, bedrohlicher.

Fass mich nicht an, du Wichser!

Schlappschwanz. Schwuchtel.

Hey, Nigga, mal riechen? Mal riechen, du Bitch?

Wir gingen schneller, sahen zu, dass wir dort wegkamen. Aber kaum bogen wir um die Ecke, hörten wir es. Ein kurzes Knallen, wie eine Fehlzündung beim Auto, ein fast alltägliches Geräusch. Dann wieder ein Knall, und gleich darauf ein richtiges Geknatter, unverwechselbar und gar nicht mehr alltäglich. Um uns herum ein paar weitere Schüsse, ein plötzliches Splittern von Ziegelstein, nur ein paar Meter neben uns, aus dem Boden sprang ein Asphaltfrosch. Wir hätten laufen sollen, aber wir taten es nicht. Auch nicht, als wir erneut Schüsse hörten. Und dann Schritte, jemand kam um die Ecke auf uns zugerannt. Kaum sahen wir ihn, hörten wir wieder einen Schuss und ein Geräusch wie von einem Kürbis, den jemand an Halloween vom Balkon fallen lässt, und der da gerannt kam, stürzte hin.

Es war Anton. So wie er auf dem Boden lag, konnte ich sein Gesicht nicht sehen, aber ich erkannte ihn an seinem marineblauen Trainingsanzug. Er gab leise tierische Laute von sich, aus seinem Kopf quoll etwas wie ein nasser rosa Luftballon. Ich entfernte mich langsam, während Francis näher heranging. Er beugte sich über Anton, griff nach seinem Gesicht, und sofort zog er die Hand zurück, als hätte er sich verbrannt.

»Francis«, flüsterte ich.

Wieder ein Schuss, aber mein Bruder rührte sich nicht. Er schaute auf seine Hand, versuchte etwas an seiner Hose abzuwischen. Ich rief ihm zu, lauter jetzt. Dann noch ein Schuss, noch mehr Geschrei.

»Francis!«

Erst als wir das Heulen einer Sirene hörten, drehte er sich zu mir um. Sein Gesicht schockbleich in dem schütteren Licht der Außenbeleuchtung.

Lauf, sagte er. Kein Ton, nur der Umriss des Wortes auf seinem Mund.


Wir waren noch nicht weit gekommen, als ein Polizeiwagen an uns vorbeiraste, dahinter noch einer, er wendete und kam mit quietschenden Reifen und Gummigestank direkt hinter uns zum Stehen. Geräusche von sich öffnenden Türen, laute, energische Befehle. Stiefel auf dem Bürgersteig, die auf uns zurannten, und wieder ein Gefühl von Panik, ein anderes jetzt, wie einem alten dunklen Traum entstiegen.

Es war nicht das erste Mal, dass die Polizei uns aufgriff. Das war schon fast Routine: Wir mussten nur brav mitspielen, dann kamen wir am Ende wieder frei, nicht unbedingt mit all unserer Würde, aber zumindest mit heiler Haut. Doch an diesem Abend spürten wir, dass etwas auf uns einstürmte, was wir so noch nicht kannten. Im blendenden Licht der Scheinwerfer flogen die Befehle an mir vorbei. Ich sah Francis mit den Händen hinterm Kopf, und mir wurde klar, dass ich das auch tun sollte, aber ich konnte nicht. Ein Polizist packte mich an der Schulter und riss mich zurück. Ich hörte, wie Francis »Hey« sagte, er hatte instinktiv nach mir gegriffen.

Für das, was dann passierte, war ich ein schlechter Zeuge, denn mein Gesicht war die ganze Zeit nach unten gedrückt, weg von Francis, aber neben mir hörte ich den Kampf, einen heftigen Schlag, den dumpfen Laut von etwas Wuchtigem auf etwas Weichem und wie aus Lunge und Mund der Atem schoss. Der Polizist legte mir Handschellen an und richtete mich auf, in sitzender Haltung jetzt. Ich spürte Francis’ Nähe und musste mich verrenken, um ihn zu sehen, er saß ebenfalls aufrecht, die Hände im Rücken fixiert. Über dem Wangenknochen hatte er eine blutige Schramme, offenbar nichts Schlimmeres. Ich wollte, dass er mir in die Augen sah, aber er reagierte nicht auf meine stumme Bitte.

»Francis«, flüsterte ich.

»Halt’s Maul«, sagte ein Polizist.

»Francis«, ein wenig lauter jetzt.

»Maul halten, habe ich gesagt.«

Wir hatten Glück. Ohne dass wir uns irgendwie erklärt hätten, kamen sie irgendwann zu dem Schluss, dass wir nicht direkt in die Sache verwickelt waren. Sie nahmen uns die Handschellen ab und sagten, wir sollten uns an den Straßenrand setzen. Im Laufe der nächsten Stunde konnten wir sehen, wie ein Einsatzfahrzeug nach dem anderen auf unseren Block zufuhr. Polizeiwagen, ein Feuerwehrwagen, drei Rettungswagen, zwei Ü-Wagen.

Ein weiterer Polizeiwagen hielt neben uns, ein älterer Polizist mit geschorenem Kopf stieg aus und sprach mit den anderen Beamten. Der ältere Polizist hörte sich an, was die beiden, die uns Handschellen angelegt hatten, zu berichten hatten, und dabei zog er einen Streifenkaugummi aus der Packung und dann noch einen und kaute. Er schien nicht das geringste Interesse an Francis und mir zu haben, und erst nachdem er eine Weile zugehört hatte, hockte er sich vor uns und hüllte uns in seinen Pfefferminzatem. Einer der anderen Polizisten hielt ihm Latexhandschuhe hin, aber er schüttelte den Kopf, und mit der bloßen Hand bewegte er Francis’ Kopf sanft in Richtung der Straßenlaterne, um sich die Schramme über dem Wangenknochen anzusehen. Mein Bruder zuckte und wandte das Gesicht ab. Der Polizist stand auf, kaute weiter.

»Okay«, sagte er, »wir bringen euch nach Hause.«


Unser Wohnviertel war fast nicht wiederzuerkennen. Mit einem Mal im Ausnahmezustand, ein Tatort in den klirrenden Konturen ungeahnter Helligkeit. Polizeiwagen mit Blaulicht standen die Straße rauf und runter, auf Freiflächen und im weichen Gras der Grünstreifen, hinter sich lange matschige Reifenspuren. Dazu zwei, drei, vier Rettungswagen, die Übertragungswagen mit ihren Satellitenschüsseln und ein Gewimmel von Reportern mit Mikrofonen unter gleißenden TV-Scheinwerfern. In diesem Licht hatten sich die Häuser, die ich mein Leben lang gekannt hatte, verändert. Der Verputz eines der niedrigeren Häuser sah aus wie die Fußsohle eines ungewaschenen Kindes; der Rost an den Balkongeländern und Feuertreppen eines Hochhauses trat hässlich hervor, wie ansteckend, ein Ausschlag voller Blasen. Selbst die Kleidungsstücke, die zum Trocknen auf Wäscheleinen hingen, machten einen verdächtigen Eindruck. Die Slacks und Saris und kopflosen Strampelanzüge eine einzige Verschwörung.

Die Nachbarn waren in Scharen herausgekommen und schauten zu, manche von ihren Balkonen aus, andere sammelten sich auf den hellen Bühnen der Höfe und den mit Bändern abgesperrten Straßen. Ein Mann versuchte, ein Kind in den Schlaf zu wiegen. Ein kleines Mädchen hielt die Hand seiner Mutter, ein paar jüngere Kinder, normalerweise nervige Energiebündel, betrachteten schweigend den Tatort. Ich war unter diesen Menschen aufgewachsen, kannte ihre Gesichter, ihre Namen. Da waren die Cumberbatchs, die Rampersads, die Nowaks. Ihre Mienen ausdruckslos. Vielleicht weil das Licht so grell war, vielleicht weil sie nichts von sich preisgeben wollten. Die meisten aber sahen aus, wie man aussieht, wenn man misstrauisch beäugt wird. Wenn man beobachtet wird und selbst versucht, etwas zu sehen.

Was mir jedoch am deutlichsten in Erinnerung geblieben ist, ist das Bild meiner Mutter. Als die Polizisten uns nach Hause brachten, stand sie, immer noch in ihrem blauen Putzkittel, unter dem Vordach und verfolgte, wie wir beide mit den Polizisten herankamen. Vor allem aber schaute sie auf ihren ältesten Sohn, der an diesem Abend der Gewalt aus irgendeinem Grund nicht imstande war, ihr in die Augen zu blicken.

»Ma’am?«, sagte der Polizist. »Sind Sie die Mutter?«

Sie nickte, hörte zu, schaute über die Beamten hinweg zu den gaffenden Nachbarn. In dem grellen Schein glänzte ihr verschwitztes Gesicht wie eine Maske, sie sah ein wenig aus wie eine Schauspielerin, die versehentlich auf die Bühne gestolpert kommt und noch nicht weiß, welche Rolle die ihre ist.