ZWEI

In den letzten zehn Jahren habe ich auf Mutter Rücksicht genommen. Habe unangenehme Gespräche über die Vergangenheit auf ein Minimum beschränkt. Habe Sachen verschenkt, die Francis gehörten und Erinnerungen wachrufen, Mutter aufwühlen könnten. Seine Konzertshirts, seine Sneakers. Seine Blue-Jays-Kappe mit dem verblassten Schweißfleck am Rand.

Das habe ich nicht getan, um ihr die Möglichkeit zu nehmen, sich an ihren Sohn zu erinnern, sondern um uns beiden die Zeit und den Raum zu geben, mit dem Verlust zu leben. Als Francis uns verlassen hat, war Mutter zunächst nicht in der Lage, auch nur einen Finger zu rühren, geschweige denn zur Arbeit zu gehen. Aber in den letzten Jahren ist sie zunehmend selbstständig geworden. Sie hilft mir beim Kochen und im Haushalt. Sie hat eine Teilzeitstelle als Reinigungskraft im Gemeindezentrum, ein Job, der zwar nur einen kleinen Teil unserer Kosten deckt, für den sie aber auch keine langen Fahrten auf sich nehmen muss. Sie ist der lebende Beweis dafür, dass Menschen über einen großen Verlust hinwegkommen. Nur selten ist sie die reglose, auf den Fernseher starrende Frau, die Aisha heute Abend gesehen hat. Und manchmal geht es auch mit ihr durch.

Vor ein paar Wochen hat sie sich zurechtgemacht und ist aus dem Haus gegangen, passend angezogen für die kalte Jahreszeit, mit den richtigen Schuhen und einer warmen Mütze. Sie war nicht allzu lange fort, vielleicht zwei oder drei Stunden, trotzdem machte ich mir schon Sorgen. Doch als sie zurückkam, war mir alles klar. Sie kämpfte mit Einkaufstüten voller Trockenerbsen, Kräuter, Gewürzpulver, einem Beutel Reis und Blattgemüse, das oben herausstippte. Nicht dieses tafelfertige Zeug zum Aufwärmen, das ich ihr schon viel zu oft vorgesetzt habe, sondern Zutaten, wie man sie in den zahlreichen sri-lankischen, philippinischen und westindischen Läden ein paar Straßen weiter westlich kaufen kann, Lebensmittel, für deren Zubereitung man tatsächlich Zeit braucht. Und da erinnerte ich mich an das Datum. Um Mitternacht war Francis’ Geburtstag.

»Ich koche uns was«, sagte sie.

Ich half ihr beim Auspacken der Tüten. Taro und Stachelannone und Bodi, Namen, die mir aus meiner Kindheit vage vertraut waren, so wie ich auch gelernt hatte, dass »Birnen« eigentlich keine Birnen sind, sondern Avocados, und dass »Feigen« grüne Bananen sind und »Brotfrüchte« weder Brot noch Obst. Mutter hatte schon lange nicht mehr gekocht, aber kaum fing sie an, versank sie in einem alten, geduldigen Rhythmus, weichte Linsen ein, schnippelte Gemüse, röstete Gewürze, das alles mit einer Geschmeidigkeit, die ich längst verloren glaubte. Trotzdem gab es Momente, in denen sie wie abwesend war. Ein Starren ins Irgendwo, während ein Topf Reis überkochte oder der Knoblauch in der Pfanne qualmte und bitter wurde. Sie löste Blätter von einem Kohlkopf, entfernte immer weitere, bis nichts mehr da war, nur ihre panischen Augen und ihre leeren, zitternden Hände.

»Oh«, sagte sie leise.

»Schon gut, Mutter.«

»Du liebe Zeit!«

Am Ende blieben ein paar Zutaten unberührt, aber was sie zubereitet hatte, schmeckte sehr gut. Bohnenreis und kleine Fleischwürfel mit Knochen. Ein Eintopf aus leuchtend roten Linsen. Ein Gericht aus blassem Gemüse, langsam eingekocht zu einer tieforangen Pracht. Sie deckte den Tisch mit den guten Servietten und dem guten Besteck, und ich sagte nichts, als sie einen dritten Teller hinstellte, ein drittes Glas Wasser mit einem Schuss Zitronensaft. Wir aßen, sahen später die Abendnachrichten und gingen danach in unsere Zimmer für eine, wie ich hoffte, erholsame Nacht.

Geweckt wurde ich von Geräuschen aus dem dunklen Wohnzimmer. Ich trat auf den Flur. Nicht dass ich mit einem Einbrecher rechnete, aber Angst hatte ich trotzdem. Als ich in die Küche kam, saß Mutter auf dem Boden und flüsterte ins Telefon. Sie buchstabierte einen Namen. »F-R-A-N-C-I-S«, sagte sie. »Bitte helfen Sie mir, mich mit ihm zu verbinden.« Sie bemerkte mich und nahm den Hörer vom Ohr, eine genervte Telefonistenstimme fragte nach einem Nachnamen. Mutter legte leise auf und erhob sich.

»Ich weiß«, sagte sie. »Ich weiß ja, dass er nicht mehr da ist.«

Ich glaubte ihr. Mir war klar, dass meine Mutter nur für einen Moment, am Rande des Schlafs, gedacht hatte, es gäbe eine Ländervorwahl, die sie wählen könnte, eine zu zahlende Gebühr.


Die Nachbarn im Park haben solche Anfälle auch schon miterlebt. Wenn Mutter auf einmal abzudriften scheint, in die Vergangenheit starrt oder in ihr versinkt. Manche erinnern sich noch an die Ereignisse, die mit der Schießerei in jenem heißen Sommer begannen. Aber immer wieder ziehen neue Leute in den Park, oft geflohen unter Gefahr für Leib und Leben aus der Karibik, aus Südasien, aus Afrika und dem Nahen Osten, aus Orten wie Jaffna und Mogadischu. Diese neuen Nachbarn bekommen immer eine Geschichte zu hören, die mit Mutter und mir zu tun hat, und mit jeder neuen und ausgeschmückten Version wird sie umso beängstigender. Es ist die irgendwie rätselhafte Geschichte eines überaus »problematischen« jungen Mannes und eines jüngeren Bruders, der »das Vorgefallene« auf seinen Schultern trägt, die Geschichte einer Mutter, die nun Anzeichen eines schleichenden »Wahns« zeigt.

Einige Nachbarn gehen uns schlicht aus dem Weg. Ein knapper Gruß, wenn wir uns begegnen, und eilige Schritte, sollten wir zufällig dieselbe Richtung nehmen. Sie stecken die Köpfe zusammen und flüstern. Aber es gibt auch immer wieder freundliche Gesten. Noch heute steht manchmal ein Tablett mit Essen vor der Tür. Ein Pilaw mit Okra, ein Schmorhuhn, unverkennbar karibisch. Manchmal sind die Gerichte auf den ersten Blick weniger vertraut: eine Schüssel mit Pakora oder ein Gericht mit Würzreis, mariniert und in Blätter eingewickelt. Meist werden sie anonym abgestellt, in diesen Wegwerf-Aluschalen, die keinen Zweifel daran lassen, dass eine Rückgabe nicht erforderlich ist. Mitunter kommt das Essen aber auch in Keramikschüsseln, die wieder abgeholt werden, und wenn das der Fall ist, fragt manchmal jemand nach dem Befinden meiner Mutter. So war es auch, als ich erst letzte Woche Mrs Henry die Tür öffnete.

Mrs Henry, muss man dazusagen, ist eine der vielen patenten Mütter in unserem Wohnviertel, eine eiserne Kraft und gestrenge Wiederaufrichterin tief gefallener Menschen, zumal von Eltern, die mit missratenen Zöglingen geschlagen sind. Sie ist Gemeindeälteste in einer nahe gelegenen Pfingstgemeinde, das bindet sie jedem gleich auf die Nase. Vormittags arbeitet sie meist in einer Fischkonservenfabrik, lässt es sich aber nicht nehmen, auf dem Weg dorthin Hut zu tragen und ein knöchellanges Kleid. Sie hat drei Jobs, was nicht unerwähnt bleiben darf, und einen Sohn, der im Chor singt, alles nichts Besonderes, wie sie anfügt. So ist sie nun mal aufgewachsen auf den Westindischen Inseln, einem Ort, den sie heraufbeschwört gegen das Laster und die frivole Sittenlosigkeit, die Scarborough und seine Jugend im Griff haben. Sie ist die perfekte Verkörperung von Recht und Anstand, mit dunklem Gesicht und dem ehrlichen Duft von Limacol-Erfrischungslotion, Pfefferminzpastillen und Kokospomade.

»Guten Abend, Mrs Henry«, sagte ich.

Zu einer Frau wie Mrs Henry sagt man immer »Guten Abend«. Man versucht es nicht mit einem »Hallo« oder, noch schlimmer, mit einem »Hi«, und kein Kind von hier, egal wie dumm oder dickschädelig, würde jemals so etwas wie ein »Sup?« riskieren. Trotzdem zeigte Mrs Henry auf meinen angemessenen Gruß kaum eine Reaktion. Sie fragte nach ihrer Schüssel, und ich gab sie ihr, schon gespült. Ob ich auch erst gewartet und den Backfisch nicht sofort in den Kühlschrank gestellt hätte, wollte sie wissen, »damit er nicht schwitzt«, und ich sagte Ja, aber das war gelogen. Ich bedankte mich aufrichtig, und dann besann ich mich auf meine guten Manieren und schlug ihr vor, auf einen Tee hereinzukommen. Sie schenkte mir einen dieser Blicke, die ich schon oft in den Gesichtern von Nachbarn gesehen habe. Einen betretenen, schnuppernden Blick, wie er einhergeht mit dem Gefühl, dass da etwas in der Luft liegt, was noch nicht ausgestanden ist. Es folgte ein weiterer Blick, etwas sanfter, vielleicht Mitleid.

»Ein andermal«, sagte sie.

Ich werfe meinen Nachbarn nicht vor, dass sie Mutter und mich meiden. Sie haben ihre eigenen Geschichten, ihre eigenen Hoffnungen auf ein echtes Ankommen. Sie sind gezeichnet von ihrer Sprache, ihrer Religion, ihrer Haut, und ihre Jobs sind oft befristet und prekär. Und wenn sie Mutter im Alltag manchmal mit dieser Freundlichkeit und Großzügigkeit begegnen, die sich aus dem tiefen Gefühl der Verletzlichkeit speist, dann weil ihnen der Preis dafür bestens bekannt ist, der Preis für die Stigmatisierung und wie manche Geschichten einem Menschen stinkend anhaften. Einige Nachbarn, habe ich gehört, haben sich die Angewohnheit zugelegt, in ihren Bewerbungen auf eine Stelle eine falsche Adresse anzugeben, da sie fürchten, eine offensichtliche Verbindung zum Park erschwere ihr ohnehin schon kompliziertes Leben nur noch mehr.

Aber das finde ich in Ordnung. Ich will keine anderen Menschen um mich herum. Will keine Besuche oder ausgefragt werden. Und ganz sicher will ich nicht, dass Mutter weitere Dramen erlebt. Zehn Jahre haben nicht gereicht, um sich ganz zu erholen. Dabei haben wir jetzt tatsächlich einen Gast zu Hause.


Zumindest heute Abend bin ich um eine unnötige Auseinandersetzung herumgekommen. Dass Aisha jetzt bei uns ist, hat sich als weniger belastend herausgestellt, als ich erst dachte. Nachdem sie Francis’ Namen ausgesprochen hat, habe ich nur genickt und sie allein gelassen, damit sie sich in meinem Zimmer für die Nacht einrichten konnte. Ich bin ins Wohnzimmer gegangen und habe mich zu Mutter vor den Fernseher gesetzt, ihre Augen eingestellt auf einen Punkt irgendwo jenseits der Mattscheibe, bis eine Werbesendung für Sonnenbrillen begann und sie aufstand und in ihr Zimmer ging, danach konnte ich mich auf dem Sofa ausstrecken. Seither halten mich die vorbeirauschenden Autos wach.

Irgendwann sinke ich in den Schlaf, und in einem Anfall von Panik und heftigem Schwindel höre ich wieder die Schüsse. Die Vorhänge im Wohnzimmer pulsieren im Rhythmus der bunten Lichter der Einsatzwagen. Es dauert ein paar Sekunden, bis mir klar wird, dass es die Lichter eines Schneepflugs und eines Streufahrzeugs auf der Avenue sind.


Auf einmal bin ich wach und blinzle in das Tageslicht, das durchs Wohnzimmerfenster hereindringt. Mutter ist in der Küche, im Bademantel, und macht sich Frühstück, irgendwie hat sie es geschafft, mich dabei nicht zu wecken. Aber noch etwas ist rätselhaft. Ich schaue mich im Haus um, Aisha ist nicht da, nur ihr Rucksack steht noch in meinem Zimmer. Wie hat sie an mir vorbei- und zur Tür hinausschlüpfen können, ohne dass ich es gemerkt habe?

Als ich wieder ins Wohnzimmer komme, hat Mutter ihre eigenen Fragen.

»Dieses Mädchen«, setzt sie an, »in deinem Bett …«

»Nur eine Freundin, Mutter. Aisha. Sie hat mal hier im Park gewohnt, weißt du nicht mehr? In der Nummer zwei, zusammen mit ihrem Vater. Sie war richtig gut in der Schule.«

»Sie hatte ein Stipendium«, sagt Mutter und nickt. »Was macht sie jetzt?«

»Ich bin mir nicht ganz sicher.«

»Nicht ganz sicher?«

»Nein. Ich weiß es nicht.«

»Sie trägt sehr enge Jeans.«

»So eng auch wieder nicht, Mutter. Ihr Vater … Ihr Vater ist vor Kurzem gestorben. Also habe ich ihr gesagt, sie kann eine Weile bei uns bleiben.«

»In deinem Bett«, brummelt sie.

»Sie ist wegen der Leute im Park hier! Sie will sich umsehen, erinnern.«

Mir ist klar, dass ich lauter geworden bin, aber ich kämpfe mit meinen eigenen Zweifeln und frage mich, ob es klug war, sie ausgerechnet jetzt einzuladen. Außerdem ist mir immer noch unbegreiflich, wie ich habe verschlafen können und wieso Aisha sich hinausgeschlichen hat, noch dazu habe ich anderes zu tun. Und als Mutter wieder anfängt und nach dieser Frau in ihrem Haus fragt, sage ich es mit Worten, die ich ihr gegenüber normalerweise vermeide.

»Sie ist hier, um zu trauern.«

Mutter steht stumm da, zieht den Bademantel am Kragen fest zu. Für einen Moment schäme ich mich fast, dass ich so deutlich geworden bin. Aber als sie antwortet, ist ihre Stimme sanft, aufrichtig.

»Das arme Ding.«


Ich kann nicht warten, bis Aisha zurückkommt, ich bin sowieso schon zu spät dran. Ich packe hastig die Reste vom Reis mit Erbsen ein und laufe die zehn Blocks zu dem großen Lebensmitteldiscounter, der jetzt dort steht, wo früher ein Einkaufszentrum war. Ich arbeite seit fünf Jahren in diesem Easy Buy, aber wenn ich eine Schicht versäume oder auch nur zu spät komme, riskiere ich meinen Job. Das Geschäft läuft gut, in den Gängen drängen sich die Kunden und stopfen ihre Einkaufswagen voll. Trotzdem wird es immer schwerer, eine Schicht zu bekommen, weil viel mehr Leute Arbeit suchen, als es offene Stellen gibt.

Manny, der stellvertretende Leiter, ist im Park aufgewachsen, nicht weit von mir, allerdings wohnt er jetzt in Port Junction, »eine gute Gegend«, wie er angeberisch erklärt. Dabei hat er im Park immer noch seine Kontakte, Freunde vielleicht oder Familie, denn irgendwie schafft er es, meine täglichen Wege zu verfolgen. Er weiß, dass ich ohne ersichtliches Ziel dort »herumschleiche« und dass man mich manchmal, wenn ich keine Schicht habe, in der öffentlichen Bibliothek antrifft, »faulenzend«. Aufgrund dieser scheinbaren Vertrautheit meint er, mir im Personalraum Vorträge halten zu müssen. Im Beisein der Kollegen belehrt er mich über die Gefahren, die ein Umgang mit den falschen Leuten bedeute. Predigt mir, dass man sich aus eigener Kraft hocharbeiten und Geld sparen müsse und keine Almosen erwarten dürfe. Alles eine Frage der Einstellung. Es gehe um die richtige Mentalität. Am schlimmsten ist, wenn Manny unsere Spinde überraschend durchsuchen lässt, nach Drogen und auf kleinere Diebstähle, auch wenn nie etwas gefunden wird und diese Aktionen vielleicht nicht mal rechtlich zulässig sind, aber wie es aussieht, haben wir keine Wahl und müssen sie hinnehmen. »Wer nichts verbrochen hat, hat nichts zu befürchten, richtig?«, erklärt er. Einmal hat er ein Bibliotheksexemplar von Giovannis Zimmer in meinem Spind gefunden, hat gegrinst, als er das Foto des blonden Mannes auf dem Cover sah, und dann laut über die Paletten mit Kokosnüssen und Oreo-Keksen gescherzt, die im Lager aufs Ausgepacktwerden warteten. »Du weißt ja«, meinte er zu einem der neueren Beschäftigten und patschte ihm auf die Brust, »außen schwarz und innen weiß.«

Keiner meiner Kollegen, alle in Teilzeit und viele mit Familie, würde es jemals wagen, zu widersprechen oder sich seinen Unmut anmerken zu lassen. Und ich selbst muss auch aufpassen. Ich mache meinen Job, aber Manny weiß genau, dass ich in der Klemme stecke, denn wegen Mutter bin ich darauf angewiesen, eine Arbeit möglichst in der Nähe zu finden. Außerdem stellt Manny, trotz seiner Warnung vor Korruption und kleinen Gefälligkeiten, nur allzu gern unter der Hand Leute ein, die so verzweifelt sind, dass sie für die Hälfte des üblichen Lohns arbeiten, die andere Hälfte teilt er sich stillschweigend mit dem Chef.

Es ist also nicht verwunderlich, dass ich heute mit jemandem zusammengespannt werde, der hier neu ist. Er hat schon graue Haare, aber Muskeln und Adern wie straffe Seile. Als ich ihn begrüße, nickt er und sagt kein Wort. Dann legen wir los und laden Tiefkühlprodukte und Trockenware und alle möglichen Kisten und Konserven von Dutzenden von Paletten herunter und listen sie auf. Zuckerhaltige Frühstücksflocken, Fruchtsaftgetränke, Kekse, Chips. Die Arbeit ist monoton und nimmt kein Ende, nach drei Stunden machen meine Arme nicht mehr mit. Der Kollege sieht mindestens doppelt so alt aus wie ich, aber er ist kräftig und zieht mich mit. In der Pause versuche ich, ihn anzusprechen, er nickt nur kurz.

Wir halten bis zur letzten Stunde durch, unsere Gliedmaßen sind längst steif. Als ich in der Umkleide neben ihm stehe und meine Jacke aus dem Spind nehme, probiere ich es noch einmal mit den wenigen, hoffentlich nicht anzüglichen Sätzen, die ich auf Tamil und Tagalog aufgeschnappt habe.

»Hablas español?«, versuche ich als Nächstes.

»Hör zu, du Wichser. Ich bin aus Mississauga.«


Ich mache mich im Dunkeln auf den Heimweg, ducke mich vor dem Wind und der Kälte, in meiner Wirbelsäule tausend Nadeln. Ein Auto bespritzt mich mit Schneematsch, ich bin klatschnass, schlimmer als gestern Abend mit Aisha, und mit einem bitteren Gefühl schweifen meine Gedanken zu der Frau, die ich zu mir nach Hause eingeladen habe. Dort ist es schon kompliziert genug, und wir haben in mehr als einer Hinsicht zu kämpfen, Mutter und ich, wir müssen uns nicht mit einer weiteren Trauer belasten, schon gar nicht mit der Trauer eines Menschen, der nicht gefangen ist in seinem Zuhause und in einem Scheißjob. Dem alle Möglichkeiten offenstehen. Der es geschafft hat rauszukommen.

Durch den Wind dringt immer lauter das rostige Quietschen von Metall, und ich schaue auf. Im Hof eines nahen Hochhauses ist eine asphaltierte Fläche mit einer Reihe von Schaukeln, seit meiner Kindheit stehen sie dort. Auf einer sitzt ein Kind und schaukelt energisch, bei jedem Schwung geht der Körper mit, die Kette hängt kurz durch, ehe es wieder hinuntergeht. Aber dann sehe ich, dass das kein Kind ist, sondern eine Erwachsene in einem aufgeknöpften knöchellangen Regenmantel, darunter ein schwerer dunkler Rock, das alles flattert um sie herum. Ich gehe näher heran und sehe ihr Gesicht.

»Aisha?«, rufe ich.

Sie antwortet nicht, vielleicht hat sie mich nicht gehört. Ich sehe den Glanz auf ihrer Stirn. Sehe, wie die Stangen, die die Schaukel im Boden verankern, in dem aufgeweichten Grund gefährlich schwanken.


An dem Abend der Schießerei hatte ich sie erkannt, sie war unter den Nachbarn, die in der Hitze still zusahen, wie die Polizisten mit Francis und mir an der Tür standen und mit Mutter sprachen. Sie trug ihr Haar seitlich zusammengebunden zu einem bauschigen, irgendwie schrägen Pferdeschwanz. Ihr Vater, neben ihr, hatte eine Hand auf ihre Schulter gelegt. Ich winkte ihr verstohlen zu, aber sie erwiderte den Gruß nicht. Sie sah herüber, als sähe sie mich zum ersten Mal, und ich musste noch einmal die Hand heben, ehe sie reagierte. Ein heimliches Winken, die Hand nah am Körper.

Die Polizisten erklärten Mutter, was passiert war und warum sie uns festgehalten hatten. Es hatte eine Auseinandersetzung gegeben, ein geplatzter Deal vielleicht, und die Sache war aus dem Ruder gelaufen. Waffen wurden gezogen, zwei junge Männer getroffen, konnten aber noch flüchten. Es gab ein Todesopfer, die Person polizeibekannt, aber auch weitere Verletzte, wie die Beamten uns mitteilten. Kugeln waren durch Glastüren und Fenster geflogen. Einem Unbeteiligten wurde in den Arm geschossen. Eine verirrte Kugel hatte die dünne Wand einer Wohnung durchschlagen und ein schlafendes siebenjähriges Mädchen getroffen.

»Ein Mädchen«, sagte Mutter wie zu sich selbst. »Ein schlafendes Kind.«

Seit Francis gesehen hatte, wie Anton erschossen wurde, war er nur noch ein Zombie, die Augen ausweichend, glasig. Mutters Worte schienen ihn wachzurütteln, und für eine Sekunde trafen sich unsere Blicke, aber dann schaute er wieder zu Boden. Mutter sah ihn jetzt fest an.

Die Polizisten versicherten ihr, dass gegen uns nicht ermittelt werde. Es gebe bereits Hinweise auf Verdächtige, ihre Namen und wo sie sich aufhielten, aber da wir in der Nähe der Schießerei gewesen seien, werde man uns zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht noch einmal befragen, außerdem habe Francis ja in Verbindung mit einigen der Verdächtigen gestanden. Mutter nickte und wiederholte zweimal, ihre Jungs würden uneingeschränkt mit der Polizei kooperieren. Die Beamten sagten ihr auch, sie solle sich melden, wenn sie das Gefühl habe, sie könne sachdienliche Hinweise geben. Alles werde anonym gehandhabt, betonten sie. Unsere Identität bleibe geschützt.

»Wir werden kooperieren«, sagte Mutter. »Das versprechen wir. Danke, meine Herren.«

Und während die Polizisten sich entfernten, dankte sie ihnen noch weiter. Dann hielt sie die Tür auf, damit Francis und ich hineingingen. Sie schloss die Tür leise hinter uns, und es dauerte, bis sie die Klinke losließ. Offenbar musste sie all ihre Energie aufbieten, ehe sie sich uns zuwandte.

»Und jetzt … erzählst du mir … alles«, sagte sie.

Dabei schaute sie zu Francis, aber er wich ihrem Blick aus. Sie wiederholte es, und dann fragte sie Francis, ob er gehört habe, was sie sage. Er biss sich auf die Fingernägel, ins Nagelbett hinein. Besah sich die schartige Spitze am kleinen Finger. Drückte einen kleinen roten Blutstropfen heraus.

»Francis!«

Er machte einen Schritt zurück, dann immer schneller, ohne irgendwohin zu sehen, stieß eine Tischlampe um. Mutter und ich folgten ihm zu unserem Zimmer und standen in der Tür, während er sich seine kaputte rot-weiße Adidas-Tasche schnappte, von hier nach da sprang und alles hineinstopfte, was ihm in die Hände kam.

»Was machst du da?«, fragte Mutter.

Er antwortete nicht, packte Sachen wie Unterwäsche und Socken obendrauf, wählte aber auch eher Befremdliches wie den ärmellosen Pullover mit Rentiermuster, den anzuziehen er sich schon vor zehn Jahren geweigert hatte. Als er aus einer der Schubladen einen Hoodie zog und ihn gerade in die Tasche stecken wollte, griff Mutter nach dem Ärmel.

»Wohin gehst du?«

»Nirgendwohin«, sagte er.

»Ich habe dich etwas gefragt. Wohin?«

»Nirgendwohin. Lass mich bitte los.«

»Du sagst mir jetzt, wohin du gehst!«

»Lass mich. Bitte.«

Mutter versuchte, den Hoodie an sich zu reißen, und es kam zu einem kurzen Gerangel, und da Francis nicht losließ und ebenfalls zerrte, mit aller Kraft und seinem ganzen Gewicht, stolperte sie und schlug vornüber mit dem Kopf an das Etagenbett. Für einen Moment war nur Stille und Schweigen, während Mutter ihren ältesten Sohn anschaute, die Hand auf der Stirn, die Augen weit aufgerissen, blinzelnd.

Zum ersten Mal seit an diesem Abend die Schüsse gefallen waren, lag auf Francis’ feuchtem Gesicht ein Ausdruck von Schmerz. Mutter sah auf ihre Hand, Blut war nicht daran. Francis entschuldigte sich. Tut mir leid. Und floh mit seinem Hoodie und seiner Tasche aus dem Zimmer. Das Geräusch der Haustür, die sich öffnete, aber nicht wieder schloss. Das Klirren der Sicherheitskette.


Mutter und ich blieben auf und warteten die ganze Nacht, dass Francis zurückkam. Um drei Uhr ging sie in ihr Zimmer und legte sich aufs Bett, in ihrem fleckigen Arbeitskittel, die Schuhe noch an, auf der Stirn eine Beule, ein hässliches kleines lila Ei, aber sie erlaubte mir nicht, etwas gegen die Schwellung zu unternehmen. Ich stellte ihr ein Glas Wasser auf den Tisch neben dem Bett, dazu ein paar Cracker und Bananenscheiben, aber sie rührte sie nicht an. Ich holte den Ventilator aus dem Wohnzimmer. Sie sagte kein Wort, blieb reglos liegen, schien nicht einmal zu blinzeln.

»Ruh dich aus«, sagte ich. »Lass Francis meine Sorge sein.«

Als sie seinen Namen hörte, drückte sie die Augen zu, und ich tat wie versprochen und flog in Gedanken zu Francis, dachte, so fest ich konnte, über seine neuen Freunde nach, dachte vor allem an einen dünnen Jungen namens Jelly, von dem ich wusste, dass er im selben Haus wie Anton wohnte und zu Francis’ bestem Freund geworden war. Die Polizei hatte Jelly mal festgehalten, aber diese Erfahrung hatten viele von uns gemacht. Ich fragte mich, wo Francis wohl hingegangen war, wo er nach einem sicheren Ort gesucht hatte.

Ein Junge namens Jelly. Ein Barbershop namens Desirea’s.

Der Himmel tönte sich tieforange, die Hitze würde genauso drückend wie am Tag zuvor. Mutter ging ins Bad und erschien danach in frischer Arbeitskluft in der Küche. Sie setzte sich an den Tisch, aß ihren Porridge. Als sie aufstehen wollte, sackte sie gleich wieder auf den Stuhl. Ich wollte schon zu ihr hinspringen. Sie blinzelte, sah mich vorwurfsvoll an. Schließlich erhob sie sich.

»Mir geht’s gut«, sagte sie.

»Ich bringe dich zur Bushaltestelle.«

Bei unserem Wohnblock reihten sich weiterhin Polizeiwagen und Ü-Wagen aneinander. Ein paar Nachbarn drängten sich in dem schrägen Schatten des Wartehäuschens. Frauen in Putzkitteln, Männer in dicken Jeans und Sicherheitsstiefeln, bei allen färbte sich die Kleidung im Nacken und unter den Achseln vom Schweiß schon dunkel. Vielleicht waren es dieselben Leute, die zugesehen hatten, wie Francis und ich am Abend von der Polizei nach Hause gebracht wurden, aber ich hätte es nicht sagen können. Niemand wollte uns in die Augen sehen.

Ein voller Bus kam und fuhr vorbei, kein einziger Fahrgast passte mehr hinein. Die Temperatur stieg mit jeder Minute, und obwohl alle weiter ruhig blieben, konnten ihre Füße die Ungeduld nicht verbergen, Blicke wanderten in unsere Richtung.

»Diese Jugend«, sagte eine Frau. »Brutal. Kriminell

Sie sprach »kri-mi-nell« genauso aus wie Mutter. Keiner der anderen Wartenden schaute auch nur auf. Es war zu heiß, um irgendwie zu reagieren oder einzugehen auf dieses Gerede, das sich an niemand Bestimmtes richtete.

»Ihre Eltern«, sagte sie. »Vor allem ihre Eltern

Mutters Gesicht schien kurz davor, auseinanderzubrechen. Schwer zu beschreiben. Wie eine Glaskugel, die in Zeitlupenaufnahme zu Boden fällt. In diesem Bruchteil einer Sekunde, wenn das Glas aufschlägt und noch rund ist, aber schon mit Rissen überall, und man genau weiß, dass es nicht länger eine Kugel ist.

Es dauerte zehn Minuten, bis der nächste Bus kam, und nachdem Mutter die Stufen genommen hatte, blieb sie erst einmal stehen und hielt sich an den Stangen fest. Der Bus fuhr los, hinter sich die aufgekochten Dämpfe von Diesel und heißem Asphalt. Ringsum das Flirren der Straße und der Welt, eine tief sitzende Übelkeit, alles drehte sich. Ich schaffte es gerade noch, nicht umzukippen, und glitt an der verglasten Seite des Wartehäuschens auf den Bürgersteig.


Bisher schien meine Beziehung zu Aisha auf einer unausgesprochenen und höchst fragilen Verbindung zu beruhen. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, bei ihr an die Tür zu klopfen, und mir war bewusst, dass ich an diesem sengenden Morgen nach der Schießerei den denkbar schlechtesten Zeitpunkt gewählt hatte. Trotzdem ging ich hinüber zu ihrem Haus und klopfte zweimal an die Tür. Das gelbe Licht im Spion zuckte, jemand spähte zu mir heraus, und dann wurde die Verriegelung gelöst, die Sicherheitskette ausgeklinkt und die Tür von ausgerechnet der Person geöffnet, von der ich gehofft hatte, ihr nicht zu begegnen.

Aishas Vater war nicht der einzige alleinerziehende Vater im Park, aber als solcher eine markante Erscheinung. Samuel war klein und schlank und ruhig und sehr dunkel. Er kam aus demselben ländlichen Bezirk in Trinidad wie unsere Mutter. Angeblich war er dort Lehrer gewesen. Hier aber arbeitete er als Wachmann, seine Uniform war immer mindestens drei Nummern zu groß, die weiten Hosen schlugen im Wind. Vor Einkaufszentren und Schnellrestaurants verscheuchte er »herumlungernde« Kinder von den Sitzgelegenheiten und den Eingängen, und es hatte auch schon mal einen Zusammenstoß mit Francis und mir gegeben, aber daran dachte ich keine Sekunde, als er an diesem schwülheißen Morgen vor mir stand und mich irritiert ansah, nachdem er mitbekommen hatte, wie die Polizei mich am Abend zuvor nach Hause brachte.

»Ja?«, fragte er knapp. »Was kann ich für dich tun?«

Aishas Stimme rettete mich, »Schon gut, Dad«, und mit schlappenden Sandalen tauchte sie hinter ihrem Vater auf. Ihr Haar war nass, sie trug Shorts und ein Tanktop, Schultern und Rücken frei. Wirklich albern, aber ich verspürte einen Anflug von Lust, als ich sah, wie subtil das Spiel zwischen Tochter und Vater vonstattenging, ein leiser, aber intensiver Wortwechsel und dann ein scharfer, warnender Blick von Aisha, der den Mann zum Nachgeben zu bewegen schien. Samuel legte ihr die Hand auf die Schulter, ein letzter Versuch vielleicht, sie noch umzustimmen, aber Aisha schüttelte sie ab und schob sich durch die Tür, an mir vorbei, hin zum Bürgersteig.

»Bibliothek«, sagte sie.

Wir liefen das Dutzend Blocks bis zu dem Gebäude mit der grünen Glasfassade. Als wir hineintraten, spürte ich die Klimaanlage wie einen Schlag, spürte, wie die feuchte Hülle meines Hemds an mir haftete. Wann immer wir zusammen in die Bibliothek gingen, bemühten wir uns um einen Platz bei den grün getönten Fenstern, und obwohl die Räume an diesem Tag gut besucht waren, fanden wir einen Tisch und setzten uns, unter unseren Beinen das klebrige Plastik der Stühle. Um uns herum waren ganz normale Leute aus dem Park. Mütter mit zappeligen kleinen Kindern, ein junger Mann, der stirnrunzelnd auf etwas schaute, was wie ein Lehrbuch aussah, ältere Männer in ihrer unpassenden Kombination aus Jackett und Baseballkappe, manche lasen fremdsprachige Zeitungen. Einer hielt eine Zeitung mit einem Aufmacher über die Schießerei am Vortag in den Händen. Aisha schnappte sich ein Taschenbuch aus einem Drehständer und ließ ihren Blick nicht von den Seiten, blätterte wahllos darin herum.

»Hast du mitgekriegt?«, fragte ich im Flüsterton. »Die Bullen haben die Verdächtigen geschnappt. Es waren fünf. Die meisten nicht mal aus dem Park. Aber egal, ich denke, damit ist für uns die Sache vorbei.«

Sie blätterte weiter, in ihr brodelte es. Vor lauter Eile hatte sie nach einem dieser Teenie-Ratgeber gegriffen, von denen ich wusste, dass sie sie hasste.

»Aisha …?«

»Das war Goose«, sagte sie.

Ihre Stimme klang schrill, und sie hielt einen Moment inne, ehe sie mir erzählte, was sie gehört hatte. Goose war in ihrem Kinderzimmer gewesen, als die Schießerei losging, und hatte geschlafen. Sie war von einer Kugel getroffen worden und hatte sich zum Wandschrank geschleppt. Dann hatte sie das Bewusstsein verloren und konnte nicht mehr antworten, als ihre Mutter nach ihr rief und wie verrückt durchs Haus rannte. Ein Sanitäter, der mit ihr nach der Kleinen suchte, bemerkte schließlich die Spur der roten Flecken auf dem Teppich vor dem Schrank.

»Angeblich ist ihr Zustand stabil«, sagte Aisha. »Es heißt, sie hat Glück gehabt.«

Ich kannte Goose kaum. Woher der Spitzname kam, wusste ich nicht, ich wusste nur, dass sie ein Fahrrad mit lila Flatterbändern am Lenker hatte. Ich erinnere mich noch, wie Francis ihr einmal half, die Fahrradkette wieder aufzuziehen, weil Goose ihre Hände nicht »schwutzig« machen wollte.

»Aisha«, sagte ich, »du hast ja gesehen, wie die Polizisten mich und Francis nach Hause gebracht haben. Ich weiß immer noch nicht alles. Aber Francis und ich … Du kennst uns doch, oder?«

Zum ersten Mal an diesem Morgen sah sie mir direkt in die Augen, nickte, machte sich wieder an die Lektüre. Und zum ersten Mal seit Stunden fühlte ich mich ein wenig erleichtert.


Aisha und ich waren praktisch unser Leben lang Nachbarn gewesen, trotzdem hatten wir als Kinder und auch noch in den ersten Jahren auf der Highschool nie richtig miteinander gesprochen. Wir waren fast gleich alt, aber sie hatte einige Klassenstufen übersprungen und nahm an einem Begabtenprogramm teil, das ich mir voller Trottel vorstellte, alle sabbermäulig mit Zahnspange und dem Aufzeigefinger in der Luft. Als Kind kurvte sie, dünn wie eine Mücke, ständig mit dem Fahrrad durch die Gegend, das Haar an den Seiten zusammengebunden, aber asymmetrisch. Als Teenager trug sie Strumpfhosen und weite Pullover, unter denen ein BH-Träger und die braunen Schultern hervorschauten. In ihrem letzten Halbjahr auf der Highschool, zwei Monate bevor wir so etwas wie Freundschaft schlossen, konnte ich bei einer Schulversammlung zusehen, wie sie einen Preis für besondere Leistungen in Mathe und Naturwissenschaften erhielt. Sie hatte ein Stipendium bekommen, um an einer Universität in Montreal ein Studium zu beginnen, und zum Ende des Sommers, sagte der Rektor, würde sie uns verlassen. Sie war eins dieser Mädchen, die alle Welt als »beispielhaft« oder »Ausnahmetalent« betrachtet, eins dieser Mädchen, die für meine Mutter »eine Zukunft« hatten. Sie stand auf der Bühne der Aula und posierte für das Foto, im Gesicht ein steifes Lächeln, und irgendwie erwischte sie mich dabei, wie ich sie aus der Menge heraus beobachtete.

Einen Monat später, es war Juli, sah ich sie an einem Tisch hinter dem grün getönten Glas der öffentlichen Bibliothek. Sie trug Shorts und las in einem dicken Buch, die Stirn leicht gekräuselt. Staubpartikel hingen träge in der Luft, das hereinströmende Sonnenlicht legte sich bläulich auf ihre Wimpern. Ein sonderbares Bild war das, ihre Gestalt und das Licht auf dem Glas, dazu mein eigenes Spiegelbild über dem Anblick der lesenden Aisha. Ein vielarmiges Monster. Aber dann geschah etwas Beunruhigendes: Sie sah mich und lächelte.

Francis hatte mir nie erzählt, was es wirklich auf sich hatte mit Mädchen, mit der körperlichen Lust, mit diesem rätselhaften Sex. Im Gegenteil, meist schien er genauso verwirrt wie ich. Als wir beide noch klein waren, hatten wir einmal heimlich in die Erdgeschosswohnung eines Nachbarhauses gespäht und ein Paar gesehen, das nackt übereinanderlag, im Hintergrund lief die Fernseh-Spielshow Definition. Wir beobachteten, wie sie verzweifelt miteinander rangen, das Gesicht der Frau war nicht zu sehen, das des Mannes aufgedunsen und hochrot, so sehr strengte er sich an. Am Ende bekamen wir mit, was vielleicht eines der Rätsel ist, die ein Kind am meisten umtreiben: Das Gesicht des Mannes verzerrte sich nicht vor Lust, sondern vor Schmerz.

»Ein Orgasmus«, flüsterte Francis, als wir uns wieder verdrückt hatten und weit weg von diesem Schauspiel waren. Allein das Wort, sein grauenvoller Glanz.

Ein paar Jahre später sprach uns ein Mann an, der ein ganzes Stück östlich von uns wohnte, in Port Junction, der »guten Gegend«. Er meinte, er würde uns einen Porno vorführen, einen richtigen Film, in Schwarz-Weiß und projiziert auf eine Kellerwand in seinem Bungalow. Für einen Dollar saßen wir dann auf einem Sofa in diesem abgedunkelten, feuchten Raum zusammen mit dem Mann und acht anderen Jungs, alle älter als wir, saßen inmitten der stinkenden Wolke ihrer kollektiven Angst und Erregung, die nackten Beine aneinander, und offenbar war ich der Einzige, der bemerkte, wie unser Gastgeber sich diskret einen runterholte und nur hin und wieder auf die Bilder schaute. Der Film hatte entweder keinen Ton, oder der Mann hatte ihn abgestellt, und die Stille verlieh den brutalen Handlungen der grau-weißen Körper an der Wand diese seltsame, so bedeutungsschwere wie gebieterische Aura eines alten Stummfilms.

Francis hatte mich nie »aufgeklärt«. Er gab mir keine Tipps, warnte mich nicht. Ich bekam von ihm keine dieser Informationen, die viele junge Männer, die wir kannten, unbedingt weitergeben mussten, Informationen über die verschiedenen »Typen« von Mädchen und was sie jeweils »tun« würden. Was umso verwirrender und manchmal auch enttäuschend war, weil Francis, anders als die meisten Jungs, die einfach nur Scheiße redeten, tatsächlich Beachtung fand und die Blicke auf sich zog. Wenn er auf der Straße an einer Gruppe von Mädchen vorbeiging, steckten sie die Köpfe zusammen, tuschelten und lachten anerkennend. Selbst die schweigsame Tochter an der Theke des Mini-Markts schenkte ihm ein schelmisches Lächeln, wenn sie ihm das Wechselgeld gab, und sobald er sich umdrehte, wanderten ihre Augen zu seinem Po. Aber kaum drängte ich ihn, mir etwas von den stürmischen Begegnungen zu erzählen, in deren Genuss er angeblich gekommen war (»Francis, du Hund«, riefen ihm ein paar Jungs aus dem Park zu), schüttelte er bloß den Kopf. Und als ich ihn einmal mit den drei Kondomen konfrontierte, die ich in seiner Schublade unter den Socken gefunden hatte, brüllte er mich an, ich solle die Finger von seinen Sachen lassen, und da er wusste, dass eine Erklärung angebracht wäre, murmelte er etwas von »blöden Schlampen«, mit einer so aufgesetzten Stimme, dass es für uns beide nur demütigend war.

Echte eigene Erfahrungen hatte ich noch nicht gemacht. Deshalb fühlte ich mich an diesem Tag im Juli, einen Monat vor der Schießerei, auch so schutzlos ausgeliefert, als Aisha mir durch die Scheiben der Bibliothek in die Augen blickte. Ich zog an den kühlen Metallgriffen der Glastüren und ging, Hände in den Taschen, Kopf gesenkt, Kappenschirm über den Augen, auf das Sicherungsgate zu. Ich musste all meinen Mut zusammennehmen, denn ich hörte schon den Alarm losgehen, dann würden alle sehen, wie ich einfach so hineinzuspazieren versuchte. Aber kein Alarm ertönte, niemand kicherte in dem Raum, den ich nun betrat, und ich schaffte es, in einem der Gänge zwischen den Regalen zu verschwinden.

Ich brauchte Munition, so viel war klar. Aus einem Regal mit der Aufschrift »Klassiker« nahm ich mir eine Taschenbuchausgabe der Thebanischen Trilogie, auf dem Cover war eine weiße Maske mit hohlen Augen, aus denen rot das Blut lief, der Mund aufgerissen, ein Ausdruck schrecklichen Leids. Derart gerüstet ging ich zu Aishas Tisch.

»Hey«, sagte ich. »Kann ich … darf ich mich setzen?«

Ein paar Kinder aus dem Park, die in der Nähe saßen, wandten einander die Köpfe zu und giggelten. Aisha schob ihren Stapel Bücher und Zeitschriften beiseite, um mir Platz zu machen. Ich sah, dass dieses »vorbildliche« Mädchen ganz und gar nichts pädagogisch Wertvolles las, sondern die Zeitschrift People. Ich schaute Aisha nicht an, sondern schlug sofort meinen »Klassiker« auf und starrte beflissen auf die Seite, die Wörter schwammen unlesbar dahin. Nach ein paar langen Minuten nickte ich, als hätte ich irgendeine ewige Wahrheit in mich aufgesogen. Ich konnte spüren, wie Aisha zu mir schaute, die Situation wurde immer lächerlicher, aber ich hob die Augen nicht von der Buchseite, ließ nicht ab von meinem Schauspiel. Bis Aisha leise sagte:

»Hey, du.«


So begann unsere Beziehung, und das Wetter trug das Seine dazu bei. Da die Hitze von Tag zu Tag heftiger wurde, flüchteten wir uns bei jeder Gelegenheit in die klimatisierte Kühle der Bibliothek. Ich wählte zunächst weiter Bücher aus, von denen ich dachte, sie würden Aisha vielleicht beeindrucken, meist Penguin Classics, einmal allerdings auch ein Anatomiebuch (mit diesen gehäuteten Körpern, dem Schaubild eines Herzens, rot, blau, hässlich). Aber Aisha interessierte sich in diesem Sommer nur für trashige Unterhaltung und Musikzeitschriften. Sie tippte mich an und las mir irgendein Gossip über LL Cool J vor, wieherte so laut, dass sie sich die gestrengen Blicke der kleinen Lesegemeinde in der Bibliothek einhandelte, und zeigte mir dann einen weiteren Promi-Klatsch, ihr Stuhl näher zu mir hingerückt, ihre nackte Wade an meinem Bein.

Sie war vielleicht ein kleines bisschen wie ich, dachte ich, noch so ein Dunkelmix, das Haar und die Augen zum Teil von einer philippinischen Mutter, die aus irgendeinem Grund das Land hatte verlassen müssen. Aber eigentlich war Aisha nur sie selbst. Diese Windpockennarbe auf der Nase. Oder dieses Pünktchen mit einem Schweif am Rand ihrer Pupille, eine Kaulquappe vor einem tiefschwarzen Strudel.


»Ich muss los«, sagte Aisha nach einem Blick auf die Bibliotheksuhr.

»Ich gehe mit«, sagte ich.

Es war kurz vor elf, und der schmale Schatten, den die Gebäude warfen, war zu einem Fastnichts geschrumpft. Im Hof eines Nachbarhauses hatte jemand ein Planschbecken in Form einer Schildkröte aufgestellt. Ein kleines Mädchen tauchte vorsichtig mit dem Fuß hinein, wahrscheinlich war das Wasser längst Suppe. Bevor wir uns auf den Rückweg machten, kaufte Aisha in einem kleinen Laden eine Dose Sprite, und als wir zum Waldorf kamen, setzten wir uns bei dem alten Parkplatz auf den Bordstein und teilten sie uns. Ein Junge dribbelte mit einem Basketball auf dem klebrigen Asphalt. An der Seite parkte ein Polizeiwagen, es saß niemand darin. Einen Block weiter sahen wir noch einen Polizeiwagen. Und dann zog auf der Avenue ein dritter langsam an uns vorbei, an der nächsten Ecke kam er zum Stehen.

»Drei?«, sagte Aisha. »Allen Ernstes?«

Ich zuckte mit den Achseln, und sie nahm einen weiteren Schluck aus der Dose. In der Nähe von uns, auf dem beschatteten Beton des Bordsteins, saß eine Mutter mit ihrem Baby und schaukelte es sanft, beide hatten die Augen geschlossen. Wahrscheinlich hatten sie die ganze Nacht nicht geschlafen. Aisha tippte mich an und hielt mir die Dose hin, am Rand sah ich den perlenden Tropfen, der ihren Mund berührt hatte. Ich nippte und gab ihr den Rest zurück. Sie trank die Dose aus und stand auf, um nach Hause zu gehen, zum Abschied umarmte sie mich. Ich spürte den Film auf ihrer Haut, als sie mir die Arme um die Schultern legte, spürte ihren Bauch, und zum ersten Mal drückten sich ihre Hüften an mich. Für einen Moment blieb die Zeit stehen, einen Moment, in dem sich eine Welt der Möglichkeiten auftat, aber dann heulte eine Sirene, und genauso plötzlich war alles vorbei.

Ein Polizeiwagen hielt bei einer Gruppe junger Männer, die auf dem Bürgersteig die Straße entlangliefen. Die Sirene wurde bald abgeschaltet, aber bei uns allen löste sie etwas aus. Das Baby fing an zu weinen. Die Augen der Mutter klappten auf, und als sie mich erkannte, glotzte sie, als wäre ich ein Straßenköter und, wer weiß, vielleicht tollwütig. Der brüchige Frieden war hinüber, die Nerven lagen wieder einmal blank, aber war das wirklich eine Erklärung für das, was Aisha dann tat? Sie schaute zu Boden und entdeckte ein aufgebrochenes Stück Asphalt, das sie mit dem Absatz ihres Turnschuhs weiter lockerte. Sie hob den Brocken auf, holte mit einem Schritt zurück weit aus und schleuderte ihn. Er schlug in eines der Fenster des unbesetzten Polizeiwagens, knirschend wie ein hartes Bonbon zwischen den Zähnen, und überzog die Scheibe mit einem bläulichen Spinnwebmuster.

In meinem Bauch eiskalte Panik, in meinem Kopf, in meiner Brust ein Pochen. Die Polizisten einen Block weiter schienen nichts gehört oder bemerkt zu haben und befragten die Jugendlichen weiter. Ich schaute zu Aisha, zu diesem Mädchen, von dem ich dachte, ich hätte es ein wenig gekannt. Sie wischte sich eine lockige Strähne aus dem feuchten Gesicht, ihre Augen fest auf mich gerichtet, na los, sag schon was.

Nur wie? Von allem, was nach der Schießerei passiert war, war das mit Abstand das Verrückteste.