Sie schreibt, erzählt sie uns, die bezahlte Variante. Nachdem sie vor zehn Jahren aus dem Park verschwunden ist, hat sie ein Studium der Naturwissenschaften aufgenommen und im zweiten Jahr als Hauptfach Informatik gewählt. Sie hat sich auf Programmiersprachen, Algorithmen und Datenstrukturen gestürzt, mit einer Zielstrebigkeit, die ihre Umgebung irritierte. »Machst du denn nie mal Pause?«, fragte eine Kommilitonin, und der ganze Raum lachte. »Wirklich nie eine Pause?«, fragte ihr Laborleiter eines Abends, als sie beide allein waren. Sie konzentrierte sich auf nichts anderes, mied jede Form von Gesellschaft, schloss mit dem zweitbesten Durchschnitt ihres Jahrgangs ab, bekam aber nicht, wie die meisten anderen, auf Anhieb einen Vollzeitjob. War sie bei Vorstellungsgesprächen unbewusst zu kühl? War das der Grund? Irgendwann fing sie bei einem großen und erfolgreichen IT-Start-up als Programmiererin an. Zwei Jahre hat sie in einem Raum mit jungen Männern gehockt, sich gegen den Gestank der Monitore gestemmt, den Schweiß, die dummen Sprüche, bis sie beschloss, ihren eigenen Weg zu gehen. Sie ist jetzt eine »hired gun«, erklärt sie, eine freiberufliche Programmiererin für kurzfristige Projekte, meist im Zusammenhang mit Geoinformationssystemen und nie länger als ein paar Wochen. In den letzten drei Monaten hat sie in Manila und in Austin gearbeitet. Davor hat sie geholfen, eine Lösung für ein Kabelnetzwerk in der Hauptstadt von Uganda zu entwerfen und zu implementieren.
»Kampala«, sagt Mutter.
Aisha lächelt und hebt ihre Teetasse in Mutters Richtung, ehe sie daran nippt. Das Wohnzimmer ist ins Morgenlicht getaucht, an diesem dritten Tag von Aishas Besuch zeigt sich endlich der Frühling. Durchs Fenster sehen wir, wie eine ältere Frau kleine Blumentöpfe und Übertöpfe vor die Tür stellt, ein Mann hängt Wäsche auf die Leine am Balkon. Auf dem Bürgersteig, neben dem schmelzenden grauen Schnee, spielen ein paar Kinder Basketball. Aisha beißt in ihr süßes Brot mit Butter, isst, dann spricht sie weiter, in gesenktem Ton.
»Vor einem Jahr hatte ich einen Job in Venezuela, danach habe ich auf eigene Faust einen Flug nach Trinidad genommen. Ich habe das Dorf besucht, wo mein Vater geboren ist. Wo auch du geboren bist, Ruth. Ich habe die Zuckerrohrfelder gesehen, die jetzt verwildert sind. Und die weiße Kirche der Spirituellen Baptisten. Du erinnerst dich an all das, Ruth, nicht wahr? Seit mein Vater gestorben ist, muss ich oft an die Insel denken.«
Draußen die schmatzenden Laute des Basketballs beim Aufklatschen. Mutter nickt.
»Erzähl mir von Kampala«, sagt sie.
Den restlichen Vormittag sitzt Aisha mit Mutter im Wohnzimmer und erzählt leise von den vielen Orten, an denen sie gewesen ist, kommt auf ihre persönlichen Verluste aber nicht wieder zu sprechen. Beide scheinen kein Interesse daran zu haben, mich einzubeziehen, manchmal wirkt es regelrecht geheimnistuerisch. Als ich am frühen Nachmittag zur Tür reinkomme, sitzen sie auf dem Sofa und flüstern. Einmal lachen beide schallend los, es ist das erste Mal seit Langem, dass ich Mutter lachen höre.
»Ich habe mich gefragt«, sagt Aisha später am Abend, als Mutter schon schläft, »ob ich nicht mal ein Treffen arrangieren sollte. Einfach so, um zusammenzukommen, mit Musik und Essen, vielleicht ein paar Worte über die Menschen, die nicht mehr unter uns sind, vor allem Francis.«
Sie liest in meinem Gesicht, spricht aber weiter. »Muss nichts Aufwendiges sein. Nichts irgendwie Formelles, überhaupt nicht. Ganz schlicht, ein einfaches Abendessen. Wir könnten ein paar von denen einladen, die Francis gekannt haben.«
»Die meisten sind weggezogen«, sage ich. »Andere … Das ist zehn Jahre her. Die Leute wollen, dass es weitergeht im Leben.«
»Aber Fragen kostet nichts. Sie können ja Nein sagen. Außerdem würden vielleicht auch andere gern kommen. Jüngere. Kids, die heute ihre eigenen Probleme haben.«
»Das glaube ich nicht, Aisha. Meine Mutter braucht keinen Haufen fremder Leute im Haus.«
»Das wären keine fremden Leute. Sondern welche, die ich kenne. Kids aus Stadtteilen wie unserem. Ein paar ausländische Studierende von einem Campus in der Stadt. Einfach Menschen, die versuchen, die Dinge zu verstehen.«
»Das können sie auch woanders. Tut mir leid, Aisha, aber das kann ich nicht zulassen. Das wird nicht funktionieren.«
»Deiner Mutter würde es guttun. Und dir auch.«
»Sag mir nicht, was gut für uns wäre, Aisha.«
»Du weißt, wie schlecht es ihr geht, Michael, oder? Wie sie den Faden verliert, Aussetzer hat. Als du gestern bei der Arbeit warst, haben wir von den ehemaligen Nachbarn gesprochen, und auf einmal hat sie sich entschuldigt und angefangen, nach irgendwas zu suchen, konnte mir aber nicht sagen, wonach. Am Ende ist sie draußen rumgelaufen, immer noch auf der Suche. Sie wollte über die Avenue rüber, hat sich nicht mal umgeschaut. Ich musste ihr laut hinterherrufen, sie soll zurückkommen und warten.«
»Sie wird älter …«
»Das hat nichts mit dem Alter zu tun, das weißt du genau. Deine Mutter ist so, weil sie noch trauert. Oder weil sie unfähig ist zu trauern. Zehn Jahre, und sie kann es immer noch nicht akzeptieren. Sie steckt fest.«
Ich weiß, dass Aisha von »anhaltender Trauerstörung« spricht. Ich habe den Begriff von Ärzten gehört, habe in Büchern aus der Bibliothek darüber gelesen. Es gibt Menschen, die nach einem Verlust an ihrer Trauer ersticken. Die im Leben nicht mehr vorankommen, weil sie in der Vergangenheit keinen Sinn erkennen. Sie verlieren die Orientierung, hängen in Erinnerungsschleifen, bestürmt von Wachträumen, Halluzinationen. Das muss mir niemand erklären, aber Aishas Gesicht erinnert mich daran, dass auch sie trauert. Ich atme aus. Ein unverbindliches Nicken.
»Ich werde darüber nachdenken«, verspreche ich. »In letzter Zeit schafft sie es ganz gut. Ich möchte ihr nicht alles noch schwerer machen.«
Am nächsten Tag ist es dann passiert. Aisha und ich haben einen kleinen Morgenspaziergang gemacht, und als wir zurückkommen, ist das Haus leer. Ich beruhige Aisha, aber zehn Minuten später klopft es schüchtern an der Tür, ich mache auf, ein Nachbarsjunge steht vor mir, Sivi.
»Deine Mutter«, sagt er, »sie ist im Valley. Sie hat keine Schuhe an.«
Ich schlüpfe schnell wieder in meine Jacke und in die Schuhe, vermeide es, Aisha in die Augen zu sehen. Wir gehen die Avenue hinunter bis zum Anfang der Brücke. Wir steigen über die Leitplanke und suchen die Stelle ab, bis wir den Kaninchenpfad gefunden haben, verborgen zwischen jungen Bäumen, vertrocknetem Gestrüpp, Papier- und Plastikmüll. Wir schlagen uns durch die Büsche und die niedrigen Äste, rutschen die glitschige Blätterpampe hinunter. Bald lassen die Geräusche des Verkehrs nach, wir tauchen aus der Stadt ab und gehen über einen stillen gepflasterten Weg, zwischen den Skeletten der Bäume her, die Äste sind kahl und dunkel und nass.
»Ich weiß, wo sie ist«, sage ich zu Aisha.
Ein Stückchen abseits des Wegs, nur ein paar Schritte durchs Unterholz, ist eine Lichtung am Bach. Wegen der Schneeschmelze ist das Wasser höher und schneller als sonst. Und da steht Mutter, etwa drei Meter vom Ufer entfernt. Nichts zwingt uns, sofort zu ihr zu gehen, kein Grund zur Eile, ich bleibe mit Aisha auf Abstand. Das Sonnenlicht ist schütter, aber hell. Das Wasser im Bach ist bräunlich und oliv und fließt mit einem freundlichen Gluckern über die glatten grauen Steine. Mähnen von Moos wehen unter Wasser. Am Ufer blühen schon ein paar Blümchen, pastellblau, miniklein. Mutter geht auf sie zu, hebt wegen der Disteln ihren Rock an und steht schließlich direkt am Ufer. Sie bückt sich und greift nach den Blütenblättern, nimmt sie zärtlich in die Hand.
Die Brückenpfeiler sind an dieser Stelle überzogen mit Graffiti, Tags und Bildern, Gesichtern von Menschen, wie sie im Park leben, und weiter oben, in dem keilförmigen Schutz unter dem Straßenniveau, liegt eine fleckige Matratze, daneben Spuren von einem Feuer und zerdrückte Konserven- und Bierdosen. Aisha sagt keinen Ton. Ich schaue zu ihr, sehe Lichtsprenkel auf ihren Armen, hingetupft von der Sonne durch die sich wiegenden Bäume. Lichtmünzen auf ihrem Gesicht.
»Manchmal steigert sie sich hinein«, sage ich leise. »Das ist nicht immer so.«
Mutter hat jetzt gemerkt, dass wir da sind. Sie dreht sich um und zupft den Kragen ihres Wintermantels zurecht. Am Saum ihres Rocks sind feuchte Flecken, sie versucht ihre bloßen Füße vor unseren Blicken zu verbergen, die Zehen sind voll schwarzem Schlamm. In der Hand hält sie einen kleinen blauen Blumenstrauß, ein helles Blau, eine unsagbar schöne Farbe. Einzigartig.
Zwei Tage nachdem Francis gegangen war, wachte ich spät auf, meine Sachen waren durchgeschwitzt. Ich kam schwindlig auf die Beine, blinzelte an gegen das Licht. In der Küche warf ich einen Blick in die Schränke. Eine Zeit lang hatte Francis zumindest Milch und Saft mitgebracht, manchmal Obst und hin und wieder Hähnchen oder Fisch. Aber jetzt, wo er weg war, war alles leer. Das letzte Stück Butter lag vergessen in der hereinscheinenden Sonne und überzog den Teller mit einem leuchtenden Gelb für die Ameisen. Ich sah im Kühlschrank nach: eine Vierteltüte Milch, schon sauer, gegen die Hitze kam das Gerät nicht an. Das einzige richtige Essen war eine Tupperdose mit Reis und Erbsen, offenbar so alt, dass es nicht mehr genießbar war. Eine leere Saftkanne, eine Flasche Pfeffersoße. Ein Glas Gewürzgurken. Ich fischte eine Gurke mit den Fingern heraus und biss hinein.
Die frühe Nachmittagssonne hatte sich um die Häuser geschwungen und flutete jetzt ins Wohnzimmer. Ich zog vorsichtig die Vorhänge zu und trank ein Glas Wasser mit ein paar Löffeln Zucker, damit es nach etwas schmeckte. Es lief mir aus allen Poren, als wäre ich ein Nudelsieb. Ich dachte, ich könnte mir irgendwelche Spielshows ansehen, aber dafür war es viel zu heiß, also ließ ich kaltes Wasser in das Waschbecken im Bad laufen und steckte meinen Kopf hinein. Dann wollte ich die Vorhänge zurechtziehen, und als ich hinaussah, fielen mir an ein paar Wohnungen gegenüber die Fenster auf, vielleicht war das ja die Lösung. Ich holte Alufolie aus der Küche und klebte sie in Streifen an die Fenster, die Knitterfalten glättete ich mit der flachen Hand. Auf der Folie Schlieren von meinem Schweiß.
Ich schaute mir gerade Trickfilme an, als Mutter von der Arbeit kam. Sie sah völlig fertig aus. Sie warf einen Blick in den Kühlschrank, hielt das Gurkenglas gegen das ungewohnt gedämpfte Licht und betrachtete die in der Flüssigkeit wirbelnden Gewürze, eine Augenbraue hochgezogen, als würde sie Berechnungen anstellen.
»Nur das?«, fragte sie.
»Nur was?«
»Ist das alles, was du heute zu essen gedenkst?«
»Ich habe gar keinen Hunger.«
Ihr Blick fiel in das abgedunkelte Zimmer. Und dann sah sie es, sah, was ich mit den Fenstern gemacht hatte.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Alufolie.«
»Das sehe ich selbst. Was hat die da zu suchen?«
»Ich habe sie drangemacht, damit sie die Sonne reflektiert.«
Zu den Cartoons im Fernsehen ertönte klassische Musik. Mutter starrte mich an.
»Sehe ich so aus?«, fragte sie, ihre Stimme klang nervös, unsicher. Wieder wedelte sie mit den Händen in Richtung der Fenster. »Nach einer Frau, die Alufolie an ihre Fenster klebt? Nach einer Frau, die vor aller Welt Reklame macht für ›Alufolie‹?«
»Die Idee ist nicht schlecht. Andere Leute tun das auch.«
»Bin ich andere Leute?« Ihre Stimme pumpte sich auf. »Das heißt, du stehst da, siehst deine Mutter, deine eigene Mutter, und denkst, sieh an! Meine Mutter! Genau wie die anderen!«
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Am besten gar nichts. Als ich zu ihr hinsah, hatte sie sich nicht gerührt. Sie hielt immer noch das Gurkenglas in der Hand. Wieder Musik aus dem Fernseher, das verrückte Kaninchen flüchtet, die Beine verschwommene Propeller.
An der Wand hinter mir zerbarst etwas, Scherben flogen durchs Zimmer. Dann Stille. An meiner Oberlippe war es feucht, und ich leckte vorsichtig mit der Zunge darüber, ich befürchtete, es wäre Blut. Der Wurf hatte Mutter Kraft gekostet, und sie richtete sich wieder auf, schaute an die Wand, auf das glänzende Muster, die Scherben am Boden.
»Hast du dich verletzt?«, fragte sie.
»Alles okay.«
»Und das da, in deinem Gesicht?«
»Nur Gurkenwasser.«
Die Kühlschranktür war noch offen, und sie sackte gegen den Griff, das Kinn seltsam zum Hals hin verdreht. So blieb sie einen Moment stehen, dann atmete sie aus und blinzelte, als wäre sie gerade aufgewacht. Sie schaute tief in den Kühlschrank, kratzte mit dem Fingernagel über einen Fleck am Gemüsefach. Schüttelte den Kopf, auf ihrem Gesicht der Schimmer des Lämpchens.
»Riechst du das?«, fragte sie. »Den Dill?«
Am Abend erzählte mir Aisha in der Bibliothek, dass man Goose aus der Intensivstation entlassen hatte. Ihr ging es schon viel besser. Sie hatte eine seltene Blutgruppe, was sich herumgesprochen hatte, und aus der ganzen Stadt hatten sich Spender gemeldet. Aisha verstummte. Vor ihr lag ein Buch, das aussah wie ein Lehrbuch der Algebra. Aber so wie sie auf die Gleichungen starrte, schien es ihr nicht darum zu gehen, sie zu lernen, sondern zu bezwingen. Ich beschloss, den Asphaltbrocken, den sie auf die Scheibe des Polizeiwagens geschmissen hatte, lieber nicht zu erwähnen. Stattdessen saß ich still da und sah die Zeitungsartikel über die Schießerei durch.
Es gab neueste Meldungen, Kommentare, Leserbriefe. Was Goose hatte erleiden müssen, machte viele Menschen wütend. Die einen forderten, dem Verbrechen den Kampf anzusagen, andere gingen sehr viel weiter. Ein Kolumnist schrieb in altbackener, gestanzter Sprache über »Einwanderer« und »ethnische Viertel« und davon, »die Leute dorthin zurückzuschicken, wo sie herkommen«, dabei wussten die meisten im Park, dass die Verdächtigen alle im Umland aufgewachsen waren. Sofort ins Auge sprang mir jedoch ein Foto von Anton mit dem Hinweis, dass der Erschossene polizeibekannt gewesen sei. Es war eins dieser Highschool-Fotos, die für viele von uns immer in die Hose zu gehen schienen. Der Fotograf hatte nicht den richtigen Hintergrund gewählt oder die Kamera nicht auf die Lichtverhältnisse eingestellt, und so zerflossen die Konturen von Antons Gesicht und seinem Haar in dem Marineblau dahinter. Stählerne Augen, der Mund wie aufgeschraubt.
Was wusste ich von Anton, diesem Jungen, um den nur wenige trauern würden? Er hatte im Park gewohnt, in einer Anlage mit niedrigeren Häusern, die buchstäblich im Matsch versanken. Dort teilte er sich eine Zweizimmerwohnung mit seinen Eltern, zwei Brüdern und drei Schwestern, es war ein ewiges Gerangel um Platz auf einer Fläche, die kaum an ein normales Wohnzimmer heranreichte. Die meiste Zeit schien er auf sich selbst gestellt unter freiem Himmel zu leben. Er hatte nie die richtigen Sachen gegen Kälte und Regen, und genauso wenig blieb verborgen, dass er zur Essenszeit nie nach Hause ging oder dass er noch nie beim Zahnarzt war. Von früh bis spät konnte man ihn auf der Bank im Hof hinter unserem Haus antreffen, wo er mir, wenn ich vorbeikam, laut feixend Gewalt androhte.
Es gab für mich wirklich keinen Grund, Anton zu mögen. Allerdings hatte ich einmal gesehen, wie seine Welt ihn brutal in die Zange nahm. Eine Horde Männer von außerhalb machte Jagd auf ihn und erwischte ihn auf einem Gelände nicht weit vom Park, wo es so düster war, dass sie sich austoben konnten. Sie schlugen auf ihn ein, bis er aus Nase und Mund blutete, traten ihm immer wieder mit ihren Stiefeln gegen die Beine und in den Bauch. Das Ende bekam ich aus der Ferne mit, wahrscheinlich als Einziger, denn es war kaum etwas zu hören, Anton rief nicht einmal um Hilfe. Die Angreifer krönten ihr Werk, indem sie ihm die Klamotten vom Leib rissen und ihn halb nackt liegen ließen.
Ich ging vorsichtig auf ihn zu, und als ich herankam, hörte ich, wie er weinte. Er hatte die Hände über den Augen, in der Kehle ein pfeifendes Röcheln, das Gesicht verzerrt, die Tränen kaum zu unterscheiden von dem Matsch, in dem er lag. Als Anton mich sah, wandte er das Gesicht ab, aber dann tat er so, als würde er lachen, seine Schluchzer jetzt ein Kichern, das Lachen wirkte fast echt. Ich machte mir Sorgen, ärgerte mich aber auch, und schließlich fragte ich, was zum Teufel daran so lustig sei. Anton schüttelte den Kopf, versuchte unter dem immer wieder aufwallenden Lachen zu Atem zu kommen und seine Stimme wiederzufinden. Er konnte es nicht sagen, wollte es nicht erklären. Ein Scherz, sagte er, ein blöder Witz, viel zu dreckig für so eine kleine Bitch wie mich.
»Hast du Francis schon gesehen?«, fragte Aisha und holte mich zurück in die Bibliothek.
»Noch nicht«, sagte ich.
»Und wie geht’s deiner Mutter?«
»Na ja. Ganz gut.«
Sie nickte und las weiter in ihrem Buch. Ich hatte nicht vorgehabt, ihr von Mutters Ausraster zu erzählen, aber als ein paar Minuten später die Deckenbeleuchtung an- und ausging, Hinweis auf die baldige Schließung, überlegte ich es mir anders, und beim Rausgehen erwähnte ich so beiläufig wie möglich die Sache mit dem fliegenden Gurkenglas.
»Das musst du Francis erzählen«, sagte Aisha.
»Wahrscheinlich ist er bei seinen Freunden im Desirea’s.«
»Und? Warum gehst du nicht hin?«
»Ich bin noch nie dort gewesen. Er hat mich nie mitgenommen.«
»Er ist dein Bruder. Oder brauchst du eine Extra-Einladung?«
Ich ging allein die Avenue hinunter bis zur Kreuzung Lawrence und Markham. Tagsüber war es in der Gegend immer trubelig, aber jetzt, kurz nach Sonnenuntergang, waren selbst die kleineren Läden geschlossen, die Schaufenster dunkel und leer. Der Parkplatz an der Straße lag im hellen Schein der Laternen, trotzdem wirkte er gespenstisch.
Ein Polizeiwagen fuhr vorbei. Blaulicht an, aber ohne Sirene.
Der Barbershop befand sich im hinteren Teil des Einkaufszentrums, im weniger attraktiven Flügel. Hier war alles nicht so gut beleuchtet. Die Schaufenster der billigeren Läden hatten Sprünge oder waren verrammelt. Ich kam an einem rostigen orangen Müllcontainer vorbei, eine schmierige Suppe floss heraus und lief in einen Gully. Ölige Wasserpfützen, Müllgestank.
Ein Laden schien offen zu sein. Wummernde Musik drang heraus, fast schon Krach. Es gab kein Schild, das auf irgendwelche angebotenen Dienstleistungen oder Waren hinwies, am Eingang hing auch keiner dieser spiraligen Barbierpfosten. Die Fenster waren tapeziert mit Plakaten für Konzerte und Tanzveranstaltungen und Partys, ein einziger Wust, als ginge es darum, die Leute zu verwirren und nicht zu informieren.
»Mach die Tür zu, Idiot!«, rief eine Stimme. »Die Klimaanlage.«
Wer über die Schwelle des Desirea’s trat, stand in einem dichten Dunst von Gerüchen: Körperwärme, Parfüms und Haarpflegeprodukte, vereint zu einer geballten Ladung, kompakt in der Nase, wächsern auf der Zunge. Dazu ein Mix aus Klängen und Rhythmen, immer wieder angehalten und neu gestartet, ein so tiefer und schwerer Bass, dass man ihn im Kiefer spürte.
»Hey, Dru«, hörte ich eine Stimme. »Sag diesem Fatz, wir sind bis Mitternacht ausgebucht.«
Ein Dutzend junger Männer saß auf rissigen Plastiksofas oder ramponierten Stühlen. Sie trugen weite Jeans und bedruckte Shirts; Baseballkappen mit flachen Schirmen, zur Seite gedreht; das Haar hochgestylt oder glatt nach hinten; Durags oder Fades mit einrasierten magischen Mustern. Ich erkannte Dru, den dicken Besitzer des Ladens. Er stand bei einem Frisörstuhl und schnitt einem Kunden die Haare. Der ließ seine gefaltete Zeitung sinken und schaute zu mir herüber. Wieder dieses Foto von Anton. Dru wedelte mit der Haarschneidemaschine in meine Richtung und brüllte über die Musik hinweg.
»Hast du nicht gehört, kleiner Mann? Heute Abend nur mit Termin.«
»Der Junge braucht einen Schnitt, Dru. Sieh dir die Schrottfrisur an!«
»Warte, hol mal jemand Francis. Das ist doch sein Bruder, oder?«
In dem Moment erklang eine andere Musik, und mein Blick fiel auf die Plattenteller in der Ecke. Dahinter stand, umgeben von gelben Milchkisten mit Platten und voll konzentriert auf die sich drehende Scheibe, Francis’ Freund Jelly, wie abgetaucht in eine eigene Welt, so hatte ich ihn noch nie gesehen. Während er die Plattenteller nicht aus den Augen ließ, zog er aus einer der Kisten eine Platte, setzte die Nadel auf, knipste Schalter an, hielt sich, die Schulter hochgezogen, einen Kopfhörer ans Ohr. Die Backbeats änderten sich, und der Raum war eine einzige hohe, schmerzerfüllte Stimme, eine Frauenstimme vielleicht oder eine Männerstimme, verlangsamt unter der Reibung seiner Hand, kaum noch als menschliche Stimme zu erkennen. Eine Wehklage über dem fast ohrenbetäubenden Rhythmus.
Francis erschien und führte mich in einen Raum im hinteren Teil des Ladens. Ein Bettlaken hing vor dem kleinen Fenster, und außer Putzmitteln, Fahrradteilen, einem kaputten Frisörstuhl und weiteren Milchkisten mit Schallplatten sah ich ein paar zum Trocknen aufgehängte Anziehsachen von ihm und eine Pritsche, offenbar sein Bett. Mit grimmiger Miene schaute er mich an. Ich war unangemeldet aufgetaucht, aber als ich ihm von der Alufolie erzählte, dem Gurkenglas und Mutters Ausraster, wurden seine Gesichtszüge sanfter. Er sagte, er würde mir ein bisschen Geld geben, zum Einkaufen, und fragte, ob ich an dem Tag schon etwas gegessen hätte. Ich schüttelte den Kopf.
»Okay«, sagte er. »Bin gleich wieder da.«
Er ging zu Jelly, und während sie sich unterhielten, stand ich in der Tür und konnte mir Francis’ Freund zum ersten Mal richtig ansehen. Er war dünn, sehr dunkel, mit einem zwiebelbraunen Fleck an der Schläfe, der Umriss wie von einem vergessenen Kontinent. Sie steckten die Köpfe zusammen und flüsterten. Jelly gab meinem Bruder einen Schlüsselbund, dann zogen sie die Handflächen aneinander vorbei und verhakten die Finger und umarmten sich und blieben so stehen, und als sie sich lösten, waren dort, wo ihre Körper sich berührt hatten, Schweißflecken. Jelly merkte, dass ich sie beobachtete, und grüßte mich mit einer Kinnbewegung.
»Komm schon«, sagte Francis. »Gehen wir.«
Wir verließen den Laden und gingen zu einem alten Honda Cabrio mit offenem Verdeck. Die Radkappen fehlten, auf mindestens einem Drittel der Karosserie war der Lack ab. Francis stieg ein und startete, das alles sehr behutsam, jeder Handgriff wohlüberlegt. Ich zögerte erst, doch dann zog ich die Beifahrertür auf und setzte mich hinein. Ich wollte mich schon anschnallen, aber als ich Francis’ Stirnrunzeln sah, ließ ich es bleiben. Francis drehte noch einmal den Zündschlüssel, obwohl der Motor schon lief, worauf das unheimlichste Geräusch ertönte, das ich in meinem Leben gehört habe, wie das Kreischen eines Flugsauriers. Er sagte, ich solle nicht so glotzen, sonst würde überhaupt nichts klappen, und dann konzentrierte er sich wieder und legte den ersten Gang ein und trat aufs Gaspedal. Ein scharfer Brandgeruch stieg mir in die Nase. Francis löste die Handbremse und versuchte es ein weiteres Mal.
»Wem gehört der?«
»Mir und Jelly«, sagte er.
»Ihr habt den Wagen gekauft?«
»Gekauft, klar. Was sonst?«
»Wann hast du Autofahren gelernt?«, fragte ich und schaute wieder zu ihm hinüber.
»Sei still! Du lenkst mich ab.«
»Hast du einen Führerschein?«
»Habe ich. Jetzt halt endlich die Klappe!«
Nach ewigem Vor und Zurück verließen wir den Parkplatz. Wir fuhren hinter dem Einkaufszentrum entlang, und nachdem wir über einen Bordstein gerumst waren, ging es die Avenue hinunter, der Arm meines Bruders hing angeberisch über dem Türrahmen. An einer Ampel legte er eine Vollbremsung hin und kam ins Schleudern, und als er einmal einem Bekannten auf dem Bürgersteig zuwinkte, scherte der Wagen gefährlich aus, ein entgegenkommendes Auto hupte wie wild.
»Licht an?«, fragte ich leise.
»Finde ich noch.«
Wir hielten bei einem Lebensmittelladen und kauften ein paar Dosen Bohnen und Thunfisch, außerdem Reis, Kondensmilch und einen Beutel Äpfel. Wir legten alles in den Kofferraum, aber statt nach Hause fuhr Francis weiter nach Westen, bog irgendwann von der Lawrence ab und auf den Parkplatz des Steak Queen. Mittlerweile regnete es leicht, weshalb Francis schneller einparken musste, als er konnte. Immer wieder rein und raus aus der Parklücke, bis er den Motor schließlich abstellte, der Wagen stand nach wie vor ziemlich schief, an der Stoßstange des Nachbarautos waren kleine Kratzer, hoffentlich merkte es niemand.
Im Restaurant bestellte Francis für uns ein richtiges Festessen. Zwei Steaks im Brötchen plus zwei Burger, dazu Pommes und Zwiebelringe, zwei Milchshakes de luxe, üppig gekrönt mit Schlagsahne und Kirschen und einem Extraschuss Sirup. Er bestand auch auf großen Portionen Salat mit italienischem Dressing, »wegen der Vitamine«. Angesichts der Bestellung und unseres Aussehens schien der Mann an der Kasse Bedenken zu haben, aber dann legte Francis das Geld hin, alles in kleinen Scheinen und Münzen, es reichte sogar für ein Trinkgeld.
Wir setzten uns und warteten auf das zubereitete Essen. Ein alter Mann saß allein an einem Tisch, vor sich nur einen Pappbecher. Ein paar Tische weiter teilten sich drei ältere Mädchen einen Eisbecher, ich kannte sie aus dem Park. Sie hatten modellierte Fingernägel und leuchtende Strähnchen im Haar, und wenn sich ihre Blicke auf einen richteten, konnte man fast Angst kriegen, so attraktiv waren sie. Sie schauten zu Francis, und der nickte höflich, trommelte aber nervös auf den Tisch.
Wir sagten nichts, hauten lustvoll rein, bis nur noch ein paar Pommes übrig waren. Wir dippten sie in Ketchup und lutschten an den Enden. Ich beobachtete den Mann, der hinter der Theke den Grill bediente. Er saß jetzt auf einem Hocker, die Arme vor sich verschränkt, die Augen geschlossen. Es war schwer, nicht Mitleid mit ihm zu haben, wie er dort saß und sich ein Zipfelchen Schlaf gönnte und ansonsten alt wurde in dem beißenden Rauch, während man ihm die Bestellungen zurief.
»Dein Freund Jelly«, setzte ich an, »ist der DJ oder so? Scheint ein cooler Typ zu sein, selbst mit diesem Spitznamen. Woher eigentlich?«
Francis schüttelte den Kopf. »Also«, sagte er, »du musst dran arbeiten.«
»Was meinst du mit ›dran arbeiten‹? Woran?«
»Na ja, an allem. Wie du im Desirea’s reingekommen bist, zum Beispiel. Wie du immer so unsicher guckst. Du musst cooler sein und darfst dir nicht alles gleich ansehen lassen. Du musst dich besser rüberbringen, mal über deinen Look nachdenken. Egal, wie arm du bist. Du kannst immer den Kragen hochschlagen, schon bist du ein bisschen gestylt. Kleinigkeiten. Du kannst immer etwas tun, um der Welt zu sagen, dass du kein Nobody bist. Du weißt nie, wann der Durchbruch kommt.«
Dann schwiegen wir. Ich ertappte Francis dabei, wie er mein Spiegelbild im Fenster betrachtete, aber sofort schaute er weg. Auf der Straße fuhr ein Auto mit voll aufgedrehten Boxen vorbei, das Fahrgestell gepimpt mit Lichtern, auf dem Asphalt ein violettes Gespenst.
»Ich bringe dich zu Dad«, sagte er leise, wie zu sich selbst, die Worte schienen in der Luft zu schweben.
Unser Vater war der Mann auf dem unscharfen Foto, viel mehr nicht. Mutter sprach nur ungern von ihm, und selbst als kleine Kinder hatten wir verstanden, dass es Dinge aus der Vergangenheit gab, bei denen man besser nicht nachbohrte. Allerdings erzählte sie Francis, wie unser Vater sich abrackern musste, als er in dieses Land kam. Tagsüber studieren und nachts Teller waschen, das war nicht einfach. Manche Leute wollten Menschen wie ihm keine Wohnung vermieten. Manche Leute wollten Männer wie ihn nicht einstellen, fair bezahlen oder befördern. Unzählige Demütigungen musste einer wie er über sich ergehen lassen. Das war der Preis, erklärte sie, irgendeinen Preis musste man zahlen. Sie war nicht immer so verständnisvoll. Als Francis einmal fragte, was unser Vater denn studiert habe, reagierte sie scharf und drückte sich auf eine Weise aus, wie wir es zu Hause sonst nie hörten. »Studiert? Was ein Mann im Leben braucht«, sagte sie. »Und dann hat dieser Scheißkerl hingeschmissen.«
Aber für Francis und mich war unser Vater auch eine besondere Chance, er bot uns einen größeren Raum für Spekulation und Fantasie, als es den meisten Kindern gegeben war. Unser Vater konnte alles sein. Und von klein auf hatte Francis seine eigene Theorie. Unser Vater, verkündete er mir eines Tages, sei »Komponist«.
Ich fragte mich, warum Komponist, warum nicht jemand, der sang oder ein Instrument spielte. Aber ich drang nicht auf eine Erklärung. Schon als Kinder hatten wir gelernt, nachsichtig mit den Hoffnungen und Träumen der anderen umzugehen.
»Wir kennen unseren Vater nicht«, sagte ich.
»Wir brauchen ihn nicht zu kennen. Er ist unser Vater.«
»Wir wissen überhaupt nichts über ihn. Nicht mal, wo er wohnt.«
»Ich habe es herausgefunden. Er wohnt hier in Scarborough.«
»Wie hast du das geschafft?«
»Ich habe Leute gefragt.«
»Wann das? Warum hast du mir nichts gesagt?«
»Ich sage es dir jetzt.«
»Wo in Scarborough?«
»Er wohnt im Oberlin, einem Mietshaus nördlich vom Highway.«
»Das ist zu weit weg«, sagte ich.
»Wir haben einen fahrbaren Untersatz, schon vergessen?«
»Wir können nicht einfach bei ihm aufkreuzen. Das ist zu lange her. Unser ganzes Leben …«
»Siehst du?«, sagte er. »Genau das meinte ich. Etwas nicht zu versuchen, nicht daran zu glauben. Ich sage ja nicht, dass er alle Probleme für uns lösen wird. So blöd bin ich nicht. Ich sage nur, dass wir mal miteinander reden sollten. Warum nicht probieren?«
Der Niesel hatte sich zum Regen gemausert. Das Licht der Laternen spiegelte sich auf dem nassen Schwarz der Straße, mit einem lauten Zischen rauschten die Autos dahin. Nach ein paar Blocks wurde der Regen kalt, und die Tropfen schlugen uns ins Gesicht. Ich fragte Francis, ob er nicht das Verdeck schließen könne, aber er wusste nicht, wie. Er fummelte an den Schaltern und schaffte es immerhin, die Scheibenwischer einzuschalten, fuhr dann aber über eine rote Ampel, ein anderes Auto musste schlitternd eine Vollbremsung machen und wäre beinahe in uns gekracht.
»Okay«, meinte er. »Das war knapp.«
»Das ist doch verrückt«, sagte ich. »Lass uns nach Hause fahren.«
»Entspann dich, ja? Du machst mich noch wahnsinnig.«
Der Regen übertönte alle anderen Geräusche, und manchmal war vor uns praktisch nichts zu sehen. Wir waren beide klatschnass, aber Francis fuhr stur weiter, schaute sich immer wieder um, geleitet von einem unsichtbaren Stadtplan.
Eine Erinnerung an unseren Vater flackert vor mir auf, eine Erinnerung an Musik und Tanz. Ich war noch sehr klein, und es war Winter, glaube ich, denn durchs Fenster fiel ein kaltes weißes Licht. Jemand zeigte mir einen Plattenspieler, die schwarze Scheibe drehte sich, und eine dunkle Hand setzte die Nadel überaus vorsichtig in eine etwas breitere Rille. Das war der Anfang des allerschönsten Lieds, eines heiteren Lieds, immer wieder fielen die Blechbläser ein. Unsere Eltern tanzten zu dieser Musik auf eine so witzige wie fröhliche Weise, sie hatten sich untergehakt und wirbelten herum, fast hätten sie Tische und Stühle mitgerissen, Francis reckte seine dünnen Ärmchen zu ihnen hinauf.
Ich erinnere mich, wie jemand ihn hochhob und ebenfalls herumwirbelte. Erinnere mich, dass auch ich herumgewirbelt wurde. Ein sich drehendes Zimmer mit einer abblätternden gelben Tapete. Und das flüchtige Bild vom Gesicht meines Bruders, dann noch mal und noch mal. Zwischen Freude und Bangen. Auf Zehenspitzen, die Ärmchen hochgereckt.
»Ich bin dran«, rief er immer wieder.
Später fragte ich mich, ob ich mich wirklich an diese Szene hätte erinnern können. Ich wäre damals kaum älter als ein Jahr gewesen. Wie war es möglich, dass ich die abblätternde Tapete vor mir sah, aber nicht das Gesicht von Dad? Und warum hatten sie getanzt, schließlich hatte unsere Mutter so etwas all die Jahre nie wieder gemacht?
Der Regen hatte aufgehört zu prasseln, und wir konnten jetzt klarer sehen. Wir fuhren im Schneckentempo durch Straßen, die für mich alle gleich aussahen.
»Da«, sagte Francis. »Das ist die Straße. Muss gleich da vorn sein.«
Er hielt vor einem der niedrigeren Gebäude, auf einem Schild stand »Oberlin« und »Keine Zimmer frei«. Alles machte einen unfertigen Eindruck, an den Fenstern hingen Laken, keine Vorhänge.
»Ich will nach Hause«, sagte ich.
»Komm schon.« Francis lachte. »Bist du nicht neugierig?«
Wir stiegen aus und liefen tropfnass auf das Haus zu, ein lächerliches Bild. Francis hielt mir die Tür auf, und ich stoppte gleich, wie erstarrt beim Anblick eines großen Typen im Eingangsbereich, vielleicht hatte der Regen ihn hineingescheucht. Francis setzte eine ernste, toughe Miene auf, schob mich rein und kam hinterher.
»Sup«, sagte er zu dem Mann, blitzende Goldzähne grüßten zurück.
Francis schaute mit zusammengekniffenen Augen auf das Klingelschild. Bei den Namen fehlten Buchstaben. Cha … Fur … dan … Ho … Die meisten waren nicht mal zur Hälfte vollständig, aber Francis suchte die verbliebenen Reste ab, sprach sie laut aus und tippte auf eine Zahl.
»Ja?«, sagte eine Frauenstimme über die Sprechanlage.
»Tut mir leid«, sagte Francis und versuchte es mit einer anderen.
»Ja?«, sagte eine weitere Frauenstimme. »Wer ist da?«
»Tut mir leid«, sagte er. »Falsche Nummer.«
»Haut ab, ihr blöden Blagen. Habt ihr gehört? Geht nach Hause.«
»Tut mir leid«, sagte er noch einmal.
Der Typ hinter uns lachte. »Finden die Bitches nicht nach Hause?«
Francis legte seinen Finger auf den nächsten defekten Namen, »lco«, und tippte wieder Zahlen in das Tastenfeld. Der Summer ertönte mehrere Male, ehe eine Stimme antwortete.
»Was.« Eine Feststellung, keine Frage. Die Stimme müde, träge. Und Schweigen. Ein Schweigen, das einem sagt, dass jemand zuhört.
»Hallo?«, sagte Francis in die Sprechanlage.
»Ich kaufe nichts«, sagte der Mann am anderen Ende. »Egal was.«
»Nein«, sagte mein Bruder. »Ich will gar nichts verkaufen. Ich bin’s nur.«
Stille, Schweigen. Selbst der große Kerl hinter uns blieb stumm.
»Ich bin’s«, sagte Francis. »Wir sind’s. Deine Söhne.«
Und wir alle, Francis, ich, der Typ im Eingangsbereich, wir alle warteten darauf, dass jemand etwas sagte. Dass jemand die Sache klärte.
»Dann seid ihr hier falsch«, sagte der Mann, und mit einem Klick war die Verbindung unterbrochen.
Wir fuhren zurück zum Desirea’s. Der Regen hatte aufgehört, die Luft war seltsam ruhig und angenehm. Francis griff ans Armaturenbrett, die Scheinwerfer leuchteten auf.
»Du bist so still«, sagte er.
»Ich denke nach.«
Ich schaute weiter geradeaus. Ich spürte seine Augen auf mir.
»Warum musst du immer so ein Schisser sein«, sagte er.