Wie ein Gespenst ist er auf einmal da. Sitzt im Wohnzimmer auf dem Sofa und lässt sich von meiner Mutter einen Tee bringen, als wäre es das Normalste der Welt. Er ist genauso dünn wie früher und trägt dunkle, gürtellose Baggy-Jeans, eine karierte Unterhose schaut hervor, die Kapuze über den Kopf gezogen. An der Schläfe prangt der zwiebelbraune Fleck, dieser vergessene Kontinent. Aber er hat sich verändert. Sein Gesicht zeigt nicht nur die Spuren von zehn schwierigen Jahren. Es ist der Verlust, die Schuld. Unübersehbar. Verräterisch.
»Was macht der denn hier?«, frage ich Aisha im Flüsterton.
Wir sind in der Küche, Aisha und ich, und holen noch ein paar Cracker, Zucker, Sahne. Aisha macht zum ersten Mal einen etwas verlegenen Eindruck. »Ich hätte echt nicht gedacht, dass er kommt«, sagt sie. »Ich habe ihm über einen Freund eine Nachricht geschickt. Nicht mal eine richtige Einladung. Ich habe nur vorgeschlagen, uns mal alle zu treffen.« Sie schneidet Äpfel und Käse in dünne Scheiben und legt sie auf die Cracker, darauf einen Stängel Petersilie. Kanapees! Sie macht einem Jungen wie Jelly Kanapees!
»Er ist einfach aufgetaucht, heute Morgen, als du weg warst«, erklärt sie weiter. »Deine Mutter hat ihn reingelassen. Sie haben sich unterhalten.«
Ich schaue mich zu Jelly und Mutter auf dem Sofa um. Eine Unterhaltung sieht anders aus. Nachdem er Mutter von der Sahne angeboten hat, gießt er sich selber ein. Schüttet den Zucker direkt aus dem Schälchen in die Tasse. Ich ertappe ihn dabei, wie er sich ein paar Cracker in die Tasche seines Hoodies steckt. Mutter nippt an ihrem Tee, ein Schlückchen nur, und scheint Jelly eine Frage zu stellen, er nickt, unter der Kapuze hat er noch seine Kopfhörer auf. Ich sehe, dass in der Ecke eine Schaumstoffmatratze liegt. Darauf ein Rucksack.
»Das ist keine gute Idee, Aisha«, flüstere ich. »Ich hatte es dir gesagt. Ich will nicht, dass Mutter belästigt oder noch mehr durcheinandergebracht wird. In ihrer Verfassung.«
»Ist doch nur für kurze Zeit. Er fällt schon niemandem zur Last. Das mit der Matratze hat deine Mutter selbst vorgeschlagen, und hier ist Platz genug. Für ihn ist das okay. Er sagt, er hat schon an ganz anderen Orten gepennt. Er hat nichts, wo er sonst hingehen könnte.«
»Wo war er denn bisher? Was macht er überhaupt?«
»Dasselbe wie wir alle, Michael. Er schlägt sich durch.«
Das alles gefällt mir gar nicht. Ich sehe, wie er die Kopfhörer abnimmt und sie Mutter behutsam über die Ohren stülpt. Er hat immer noch einen Walkman, ein echter Old-School-Freak, und als er auf Play drückt, hört sie zu, ihre Augen werden groß und größer, bei der Lautstärke dringt es bis in die Küche. Mutter schüttelt die Kopfhörer ab, kräuselt das Gesicht, lächelt. Seine Zähne lächeln zurück.
Jelly muss meinen Argwohn gespürt haben, denn kurz nach dem Tee geht er, ohne ein Wort. Durchs Fenster sehe ich, wie er an Mrs Henry vorbeikommt, sie bleibt stehen, starrt ihn an, schüttelt den Kopf und murmelt der unsichtbaren Schar der Seelen, die sie auf ewig begleiten, etwas Missbilligendes zu. Falls Jelly den Tadel gehört hat, ist er so klug, nicht zu reagieren, er geht weiter die Avenue hinunter. Er hat seinen Rucksack mitgenommen, und ich frage mich, ob er jetzt für immer verschwindet. Hätten wir versuchen sollen, miteinander zu reden? Zehn Jahre und kein einziges Wort zwischen uns. Hätte ich ihn wenigstens verabschieden sollen? Die Erleichterung ist größer als meine Schuldgefühle. Aber nach ein paar Stunden kommt er zurück, mit prallem Rucksack und zwei Plastiktüten voller Lebensmittel. Und wieder eine Überraschung.
Jelly kann kochen.
Er bewegt sich geschmeidig zwischen den preisgünstigen Sachen, die er gekauft hat, Tüten mit Gemüse, aber auch Trockenerbsen, Reis, kleine Döschen mit Gewürzen, die er aus dem Rucksack hervorholt. Er hackt wie ein Küchenchef, die scharfe Stahlklinge rattert übers Holz. Bald ist die Küche ein einziges Durcheinander, auf der Arbeitsplatte nicht ein freies Fleckchen, alle Herdplatten an. Mutter hilft jetzt auch mit, sie liest am Küchentisch die Erbsen aus und lässt sie in eine Keramikschüssel fallen, ein Klingklang wie von kleinen Kieselsteinen. Selbst Aisha beteiligt sich, sie bringt Töpfe und Pfannen, wäscht Gemüse in einem großen Sieb am Spülbecken. Ich nehme Blickkontakt mit Jelly auf.
»Ist das Bodi?«, frage ich.
»Nicht gekriegt«, sagt er. »Nur grüne Bohnen.«
»In ein paar Minuten können wir essen«, sagt Aisha. »Stimmt’s, Jelly?«
Er nickt und kippt ein Schneidebrett voll gehackter Zwiebeln, Knoblauch und Chilis in das heiße Öl auf dem Boden eines gusseisernen Topfs. Sofort zischt und knistert es, und die Küche ist bald erfüllt von einem Duft, der zugleich aromatisch ist und butterig und streng. Ich hatte schon immer eine Schwäche für gebratene Chilischoten, vor allem Scotch Bonnets, und mir steigen die Tränen in die Augen. In meinem Hals ist ein Kribbeln, ich versuche es runterzuschlucken, halte die Luft an, aber das Ergebnis ist ein lauter, rotziger Hustenanfall. Aisha und Mutter lachen, Jelly macht ein aufrichtig besorgtes Gesicht.
»Die Haustür vielleicht ein Stück auf?«, sagt er.
»Schon gut«, sage ich und ringe nach Luft. »Muss sowieso gleich los.«
Mich erwartet eine weitere kostbare, weil lange Schicht im Easy Buy, und ich halte mich ran, damit ich pünktlich hinkomme. Alle möglichen Jobs sind zu erledigen, Paletten wollen entladen werden, Lebensmittel verpackt, Verschüttetes in den Gängen aufgewischt. Mr Mississauga arbeitet auch wieder mit, und Manny sagt, wir sollen, bevor wir am Abend gehen, noch die fünf Paletten hinter der Tiefkühlabteilung entladen. Wir reißen uns den Arsch auf und schaffen es, aber dann kippt uns kurz vor Schichtende eine voll gestapelte Palette Cola um, und ein paar Dutzend Packs krachen herunter und schiffen ihre klebrige Soße auf den Boden. Die ganze unbezahlte halbe Stunde, die wir die Sauerei aufwischen, schaut Mississauga zu mir und zieht die Luft durch die Zähne. Als ich mich in der Personalumkleide umziehe und schon gehen will, stellt Manny mich zur Rede. Aber nicht wegen der Cola.
»Du hast einen Gast zu Hause, habe ich gehört«, sagt er.
»Wir sind befreundet. Sie ist nur zu Besuch.«
»Nicht das Mädchen, du Schlaukopf. Den Kopfhörer-Homie meine ich.«
»Ach, der«, sage ich und höre die Verärgerung in meiner Stimme. »Er war ein Freund meines Bruders. Haben deine Leute im Park nichts Besseres zu tun, als mir hinterherzuspionieren?«
Und schon legt er wieder los. Warnt mich vor dem Gelumpe. Diese Typen würden alle möglichen Probleme anziehen. Mir ist nicht nach Vorträgen zumute, meine Ungeduld muss mir anzusehen sein, außerdem wird aus Mannys Botschaft jetzt eine klare Drohung. Er könne niemanden beschäftigen, der mit Kriminellen verkehre, mit verkommenen Subjekten. Ich nicke, verlasse die Umkleide und haste durch die leeren Gänge des Easy, dabei weiß ich genau, dass ich mit dieser demonstrativen Haltung meinen Job riskiere. Manny folgt mir und fragt mich, ob ich mir selbst überhaupt etwas bedeute. Als ich in die Kälte hinaustrete, bleibt er an der Schiebetür stehen.
»Hast du jemals über deine Zukunft nachgedacht?«, ruft er mir hinterher.
Ein paar Stunden oder auch länger laufe ich immer wieder um den Block, versuche nachzudenken, versuche die Gefühle in mir irgendwie zu benennen. Ich patsche durch den Schneematsch, gebe nichts auf die Kälte und die Nässe. Mindestens ein halbes Dutzend Mal gehe ich über die Lawrence Avenue Bridge, hin und zurück, Autos spritzen mich voll. Meine Füße sind taube Stümpfe.
Als ich mich auf den Rückweg mache, ist in meinem Kopf nur noch Nebel, trotzdem erkenne ich, nicht weit von unserem Haus, den geparkten Polizeiwagen. Ich öffne die Tür und sehe, dass das Wohnzimmer voller fremder Menschen ist, die Küche auch, die meisten sind noch jung, sie stehen schweigend da. Ich schaue mich nach Mutter um, kann sie aber nirgends finden. Sekunden später bemerke ich die beiden Gestalten in Uniform. Plötzlich ganz nah, unwirklich, wie im Traum.
»Bist du Michael?«, fragt eine der Uniformen.
Die Uniform ist eine Frau, kurzes blondes Haar, grüne Augen. Sie ist jung, vielleicht Mitte bis Ende zwanzig. Ihr Name ist Bev, und tatsächlich kenne ich sie. Sie ist ein bekanntes Gesicht im Park. Ich habe gesehen, wie sie auf einen betrunkenen Mann eingeredet hat, als eine Auseinandersetzung leicht in Gewalt hätte ausarten können. Habe gesehen, wie sie mit einigen Teenies geplaudert hat, sich richtig mit ihnen unterhalten, nicht um etwas aus ihnen herauszukriegen. Sie weiß, wie man die Dinge anpackt. Sie ist ein guter Cop, aber im Moment hilft mir das nichts. Meine Nerven, jeder einzelne, sind hellwach. Ich rieche Leder und das starke Deo ihres Kollegen, der einen Meter weiter steht. Höre das Knirschen, sobald sich ihre Haltung minimal verändert. Vielleicht kommt das von der Ausrüstung an ihrem Gürtel, dem schwarzen Schlagstock, der Pistole im Holster.
»Du bist Michael, richtig?«, sagt sie.
»Ja.«
»Hi.«
»Hi.«
»Nachbarn haben sich wegen dem Lärm beschwert.«
»Ach so, ja.«
»Wir sind der Sache nachgegangen. Deine Freunde haben versprochen, die Musik leiser zu stellen.«
»Okay.«
»Alles in Ordnung mit dir, Michael?«
»Ja, alles okay. Mir geht’s gut.«
Eine Lärmbeschwerde, weiter nichts. Aber dann zucke ich zusammen, eine blecherne Stimme ertönt aus Bevs Funkgerät, Ziffern werden gerufen, eine Adresse. Bev verabschiedet sich von mir, und ich sehe den beiden Polizisten hinterher. Ich warte, bis die Tür sich schließt, spähe sogar noch durch die Vorhänge, um zu sehen, wie sie zu ihrem Auto gehen, erst dann wende ich mich dem Haufen Unbekannter zu, die auf einmal bei mir zu Hause sind.
Sie sind jünger als ich, modisch gestylt mit weiten und bunten Klamotten, was man so trägt. Viele von ihnen sind schwarz, braun, andere weiß, asiatisch oder was auch immer. Schöne Menschen, selbst jetzt komme ich nicht umhin, es wahrzunehmen. Aber erst einmal sind sie Eindringlinge, Gelumpe, kommen ohne meine Erlaubnis herein und erregen die Aufmerksamkeit der Behörden. Sie haben gegessen, was Jelly gekocht hat, und überall ihre schmutzigen Teller abgestellt, auf dem Teppich vor dem Liegesessel ist ein frischer lila Fleck. Auch sonst haben sie sich Freiheiten herausgenommen, haben Mutters alten Plattenspieler zum Leben erweckt, haben Alben hervorgeholt, die ich seit Ewigkeiten nicht gehört habe. Aretha Franklin, Percy Sledge. Nana Mouskouri? Wo zum Teufel ist meine Mutter?
»Michael.« Aisha steht plötzlich neben mir, fasst mich am Arm. »Ich erkläre es dir, ja?«
Ich löse mich von ihr, denn jetzt habe ich sie entdeckt. Sie sitzt auf dem Sofa zwischen Jelly und einer großen Frau mit Creolen, in der Hand Jellys Walkman, Kopfhörer um den Hals. Auf dem Beistelltisch vor ihnen steht ein kleiner grüner Koffer, Mutter hatte ihn dabei, als sie vor Jahrzehnten ins Land kam, und jetzt bewahrt sie Fotos und Erinnerungsstücke darin auf. Normalerweise liegt er in einem Fach hoch oben in ihrem Wandschrank. Aber sie hat ihn heruntergeholt und aufgeklappt, damit alle die Sachen sehen können. Fotos aus Mutters früherem Leben. Fotos von mir als Kind. Fotos von Francis. Ich schiebe mich durchs Gedränge, hin zu Mutter, packe sie am Ellenbogen und helfe ihr vom Sofa auf, die Bilder auf ihrem Schoß fallen herunter, verstreuen sich am Boden.
»Michael«, sagt Aisha, »was machst du da?«
Und mir wird bewusst, dass ich Mutters Arm fast zerquetsche. Sie entwindet sich meinem Griff und knallt mir eine. Für einen Moment starren wir uns an.
»Wir haben … Musik gehört«, sagt sie. »Wir haben … uns unterhalten.« Ihre Stimme versagt. Sie zittert.
Alle Augen im Zimmer sind jetzt auf mich gerichtet. Empörung im Gesicht der Frau, die neben Mutter gesessen hat. Traurigkeit in Jellys. Ich drehe mich um zu Aisha, sie blickt immer noch stumm zu mir.
»Keine fremden Leute, habe ich gesagt.«
»Das sind Freunde, Michael. Sie haben die Geschichte gehört und wollten mehr wissen. Ein Zeichen von Respekt.«
»Auf ihren Respekt kann ich verzichten. Ich will, dass sie verschwinden.«
So behutsam wie möglich nehme ich Mutter den lächerlichen Walkman und die Kopfhörer ab und werfe sie aufs Sofa. Nehme Mutter bei der Hand und führe sie durch die Menge in ihr Zimmer, mache die Tür hinter uns zu. Sie legt sich aufs Bett, die Augen offen. Ich will ihr meine Hand auf die Schulter legen, aber sie entzieht sich, das schwache Licht von der Straße lasiert ihr Gesicht. Ich gehe an die Tür und lausche, im Wohnzimmer stellen die Leute mit leiser Stimme Fragen, Aisha antwortet, dann Geräusche, eilig aufgeräumt, Möbel gerückt, hoffentlich wieder an den richtigen Platz. Irgendwann höre ich, wie Leute gehen.
Als ich sicher bin, dass alle weg sind, gehe ich raus und schließe Mutters Zimmertür sachte hinter mir. Im Wohnzimmer sieht es immer noch chaotisch aus, der lila Fleck auf dem Teppich wird wohl bleiben. Jellys Walkman liegt noch auf dem Sofa, was mich wundert. Ich nehme ihn, drücke auf Play, höre das Ding wimmern, den schwachen Klang einer Stimme, einer Männerstimme vielleicht, und setze die Kopfhörer auf. Ich kenne die Musik aus einem Barbershop, zehn Jahre ist das her. Nina Simone, ihr Gesang am Anfang von Feeling Good. Aber verändert, ein Remix, die Band setzt nie ein, eine einsame Stimme in Endlosschleife.
Nach Antons gewaltsamem Tod war es spürbarer denn je. Der Argwohn in den Gesichtern von Fremden, wenn nicht die blanke Angst. Die Aura der Bedrohung, die einen selbst umgab, die aufgewirbelte Atmosphäre hinter einem, wenn man über die Straße ging. Im Fernsehen und in den Zeitungen versprachen Politiker, gegen Kriminelle hart durchzugreifen, einhellig begrüßt von smarten Sprechern der verschiedenen Communitys. Aber nicht nur Kriminelle waren im Visier. In unserem Stadtteil hielt die Polizei jeden Tag Jugendliche an, fragte sie, was sie machten und wo sie wohnten, es klang zunehmend wie ein Verhör. Wir wurden beobachtet, von Ladenbesitzern, Nachbarn, Passanten, von allen. Ich erstickte förmlich, was Francis nicht entgangen war, und sosehr ich ihn nach dem misslungenen Besuch unseres Vaters enttäuscht hatte, sorgte er dafür, dass ich mit ihm im Desirea’s abhängen konnte.
Der Laden gehörte Dru, aber von einem typischen Barbershop konnte keine Rede sein. Neue Kundschaft war eher nicht willkommen. An meinem ersten Nachmittag sah ich, wie ein Junge namens Trance schüchtern hereinkam, in der Hosentasche nur Fussel und Kleingeld, und einen Service in Anspruch nahm, der, wie ich beobachten konnte, weniger ein Haarschnitt war als eine Strafe, ein Initiationsritus. Trance setzte sich gehorsam auf den Stuhl, und Dru machte sich gnadenlos an die Arbeit, drückte seinen Kopf nach vorn, um mit der Nackenkontur zu beginnen, riss ihn zur Seite, um an die schwierige Stelle hinterm Ohr zu kommen. Drus Daumen grub sich auch mal in die Augenhöhle des armen Jungen, damit er still saß. (»Klar, jetzt hat’s dich erwischt, Idiot! Du sollst dich nicht bewegen, habe ich gesagt!«) Sein Ärger war meist nur Show, und als es vorbei war, bekam der Junge einen Burger und eine Cola, die Luxusvariante mit Eiswürfeln, und den Rest des Tages durfte er bleiben.
Wenn ich im Desirea’s war, sah ich, wie Bargeld den Besitzer wechselte und ein kleines Einkommen erzielt wurde. Trotzdem schien der Laden, ob Dru es so wollte oder nicht, nach anderen ökonomischen Gesetzen zu funktionieren. Und in dem schütteren Licht, das gefiltert und gebrochen durch die zuplakatierten Schaufenster hereinsickerte, in diesem zauberischen Klangraum, den Jellys Musik schuf, kamen Lebensläufe und Namen zum Vorschein. Einmal sah ich zu, wie ein junger Mann sich rasieren ließ. Er saß weit zurückgelehnt im Stuhl, die Augen bedeckt mit einem Tuch, auf Wangen und Hals ein Berg Schaum. Und während Jelly an seinem Mischpult und den Plattentellern hantierte, nahm Dru ein Rasiermesser und schnitt aus der weißen Wolke ein Gesicht heraus. Da war er dann, Kev, der nach der Rasur mindestens fünf Minuten das Werk im Spiegel bewunderte, bevor er seine Kappe mit Netzrückseite sorgfältig zurechtschob, der Schirm vollkommen gerade und nach rechts gedreht. Dann war da der stämmige Abdi, der jeden Tag »nur eine kleine Auffrischung« wünschte. Oder Gene, die als B-Boy ging und den strengsten Fade trug. Oder der Professa, Ende zwanzig, mit zweifelhafter akademischer Qualifikation, aber immer imstande, den Titel zu nennen, den Jelly gerade unter den Fingern hatte.
»Otis Clay, A Lasting Love«, rief er, vor sich eine Ausgabe von The Source, er schaute nicht mal auf.
Da war Raj, der Talker, der Einzige von uns, der das Glück hatte, in einem Haus zu wohnen, das tatsächlich seinen Eltern gehörte (sagte er zumindest). Er trug eine Kangol-Mütze, die er sich tief in die Stirn zog, und eine lange vergoldete Kette. Er war ein Hänfling, aber er hatte sich eine Schlägerpose zugelegt, sodass er größer wirkte, die Arme schwangen über seiner unsichtbaren Brust- und Rückenmuskulatur. An meinem zweiten Tag im Desirea’s gestand er zögerlich, dass er an einer seltenen Krankheit leide. Einer Elephantiasis des Penis, eine Bürde, die ihm gleichwohl die zärtliche Sympathie mehrerer Damen eingebracht habe. Nur dass sich sein Tonfall plötzlich änderte, als später am Abend ein paar Frauen aus Fleisch und Blut hereinkamen. Carla, Yash und Meeshi, amtliche Stadtteilschönheiten, ihre Fingernägel geschliffen wie Waffen, ihre Augen ein Blinzeln aus stählernen Pools. Sie trugen Designerjeans und gebieterische Frisuren. In dem Laden war es auf einmal still, sie setzten sich hin, kauten Kaugummi und machten gelangweilte Mienen, warteten darauf, dass etwas passierte. Und die ganze Stunde, die die Mädchen da waren, bekam Raj, der Junge, der so angegeben hatte mit seinen Muschis, kaum ein vernünftiges Wort über die Lippen.
»Ähm … also … ich meine … soll ich euch Mädels was holen, eine Limo vielleicht?«
Alle machten sich lustig über Raj. Alle machten sich lustig übereinander. Im Desirea’s konnte man posen, aber auch spielen. Jede aufgezwungene Rolle und jedes vorbestimmte Schicksal wurde entlarvt. Unsere Eltern kamen aus Trinidad und Jamaika und Barbados, aus Sri Lanka und Polen, aus Somalia und Vietnam. Sie hatten Scheißjobs, strampelten sich ab, um die Miete zu zahlen, waren chronisch erschöpft und propagierten oft ebenso chronisch erschöpfte Vorstellungen von Identität und Ehrbarkeit. Aber im Desirea’s waren andere Selbstbilder und Verwandtschaften möglich. Man fand eine neue Sprache, verstand sich mit Gesten, blieb hautnah an den Bedeutungen.
Zum ersten Mal erklärt bekam ich die Musik vom Professa. Es war der Sommer, in dem Rap zum Mainstream wurde, Radio und Fernsehen, Veranstalter und Plattenfirmen stürzten sich darauf, und plötzlich hatten alle nur noch Ohren für die MCs. Auf der geldgetriebenen Jagd nach der nächsten großen Stimme wurde der DJ ausgemustert, seine Arbeit auf der Bühne umstandslos ersetzt durch vorproduzierte Tracks und die Arbeit der Techniker in den Studios. Aber damit wurde etwas anderes möglich. Der DJ, der seinen Hauptberuf am Mikro quitt war, konnte jetzt zurückkehren zu den Ursprüngen, zum Rohmaterial. Man erinnerte sich an Idole wie DJ Kool Herc, und eine neue Generation hatte Gelegenheit, auf eigene Faust zu experimentieren.
Fast jeden Tag kamen Francis und Jelly mit einer neuen Kiste voller Platten, die sie in Garagen und Secondhandläden aufgestöbert hatten. Sie begutachteten ihre Funde, stupsten sich mit der Schulter an, klatschten ein und lachten über irgendein kitschiges, längst verblasstes Plattencover, das manchmal schon Blasen warf. Sie zogen das Vinyl heraus, wischten es mit einem weichen Tuch vorsichtig ab, überprüften die Scheibe unterm Licht auf Kratzer und setzten die Nadel auf. Sie sorgten dafür, dass alle Jungs im Laden zuhörten, erst mal nur das, sie stellten noch nichts damit an. Und wir hörten wie mit neuen Ohren, hörten die Musik unserer Eltern, vor allem die vergessene Kunst des Funk, aber auch Ska und Soul, Blues und Jazz. Wir hörten ein Album von Toots and the Maytals, »ausgeliehen« von Eltern, auf deren Musikgeschmack niemand etwas gegeben hätte. Wir hörten Coltrane, als wäre es das erste Mal. (So ein Scheiß, flüsterte der kleine Trance. Wie sprichst du, Bitch!, schimpfte Dru.) Wir hörten geduldig Satchmo und Aretha Franklin, Bob Marley und Harry Belafonte, Melodien, die uns aus der Fernsehwerbung und den Soundtracks von Filmen schon in den Ohren klebten. Aber Francis und Jelly holten das alles für uns zurück, die Toten und die Lebenden, machten sie zu Stimmen, denen wir zuhörten, bevor Jelly schließlich loslegte.
Jeden Tag verbrachte er Stunden an seinem Setup mit den zwei Technics 1200, die Plattenspieler waren mit Abstand das Teuerste im ganzen Laden und wahrscheinlich auch in unserem Leben. Auf einem Ohr ein Kopfhörer, während seine Finger vom Mischpult zu dem doppelten Vinyl flogen, spürte er den Breakbeat auf und isolierte ihn, dieses kostbare Bedeutungsteilchen, drei Sekunden, in denen die tiefere Geschichte eines Songs aufscheint, ehe sie sich immer weiter ausdehnt. Jelly war ein Meister darin, und niemand, den wir je gehört hatten, konnte besser scratchen als er. Aber selbst innerhalb der neuen Klasse von DJs war er ein seltener Vogel, denn was sein Genie ausmachte, war der gleichmäßige Flow und wie er unaufhörlich einen Sound, einen Stil, eine Epoche mit anderen mischte. Er zauberte mit dem Crossfader und den verschiedenen Equalizern, und auf diese Weise erkannten wir Verbindungen, die wir nie vermutet hätten. Zwischen Ska und Blues. Zwischen Port of Spain und Philadelphia. Zwischen den 1950ern und den späten 1980ern. Manchmal ging es auch schief, und es blieb bedeutungsloser Krach. Selbst ich hatte das kapiert. Andere Male funktionierte es, Alt und Anderswo heraufbeschworen und aufgegangen in einem erweiterten Rhythmus, und der ganze Laden antwortete, die Unterlippen vorgeschoben, die Köpfe ein Nicken.
»Das ist genial, Jelly«, sagte Raj. »Du bist ein … wie heißt das noch? Ein Metaphysiker. Ein gottverdammter Metaphysiker!«
»Auf der Ex wird es Glückwünsche regnen«, meinte der Professa.
Da erfuhr ich von ihrem großen Plan. Ein Hip-Hop-Konzert auf der Canadian National Exhibition, in ein paar Tagen schon. Mit großen Namen und Acts aus den Städten, auf die es ankam, New York und L. A. Bei den Promotionveranstaltungen im Vorfeld des Konzerts gab es Auditions, das würden sich die Talentscouts ansehen, vielleicht winkte sogar ein Plattenvertrag. Der weltberühmte Conductor würde auch dabei sein. Das wäre die Chance für Jelly, ins Rampenlicht zu treten, sich zu präsentieren und zu glänzen.
»Stimmt«, sagte Raj. »Das wird der Hammer auf der Ex.«
»Und wie«, sagte Francis zu Jelly, klatschte ein und zog ihn an sich. »Denen zeigen wir’s.«
Francis hatte bisher immer auf cool gemacht. Reiner Selbstschutz, das gehörte dazu. Aber jetzt sah ich nicht nur eine ungewohnte und riskante Hoffnung aufblitzen, sondern noch etwas anderes, wie man es von manchen Vorortjungs kennt. Es zeigt sich in der Art, wie sie sich begrüßen, Faustcheck, High five, in bestimmten Blicken und Umarmungen, Ausdruck einer tiefen und unbestreitbaren Wahrheit, die nur selten in Worte gefasst oder erklärt wird. Womöglich nicht mal als solche erkannt. Doch sosehr ich in dem Moment mit mir selbst beschäftigt war, verstand ich es genau.
»Du schaffst das«, sagte Francis, seine Hand an Jellys Hals.
Aishas Vater hatte in diesem August Spätschicht, und zum ersten Mal lud sie mich zu sich nach Hause ein. Die Sonne war schon untergegangen, trotzdem war es innendrin immer noch heiß, mehr als eine Lichtquelle am Herd durfte nicht brennen. So vieles in ihrem Zuhause erinnerte mich an mein eigenes. Die gepflegte Ordnung, das gemusterte Polstersofa, die Glasschüssel mit den eingeweichten Linsen fürs Essen am nächsten Tag, der benutzte Teebeutel auf einem Stück Folie, bestimmt für einen zweiten Aufguss. Es gab Fotos von Aisha, wie sie die ein oder andere Auszeichnung erhielt, ein Regal mit Büchern, einen Plattenspieler, Alben.
»Also«, sagte sie, als sie dann neben mir auf dem Sofa saß. »Wir müssen echt mal über deine Frisur reden. Was machst du da genau? Ich meine, was soll das am Ende werden?«
»Das ist, na ja, ein High-Top-Fade.«
»Du siehst aus wie Gumby nach einem Knetunfall.«
»Bei Francis klappt das immer.«
»Aber du bist nicht Francis, oder?«
Sie konnte sich kaum einkriegen vor Lachen. Und erzählte mir, die Mädchen in ihrer Begabtenklasse würden ein Drittel ihrer Zeit mit Aufsatzschreiben und Infinitesimalrechnung verbringen und zwei Drittel damit, über Francis zu reden. »Was die von sich geben, Michael«, sagte sie, »die sabbern schon, so spitz sind die. Egal was man deinem Bruder nachsagt, was für ein knallharter Typ er ist, gegen die käme er nicht an. Die würden ihn lebendig verspeisen. Würden töten, um an ihn ranzukommen.«
»Möchtest du auch an ihn rankommen?«, fragte ich leise.
Sie lachte nicht mehr, auch ihr Lächeln war nicht mehr dasselbe.
»Was?«, fragte ich.
»Also?«, sagte sie.
Sie ging mit mir in ihr Zimmer, wo ebenfalls alles aufgeräumt war und ebenfalls Bücher standen, und schloss die Tür hinter uns. Ohne Vorwarnung zog sie mir das Hemd aus, dann ihr eigenes. Sie schob ihre Shorts herunter, machte dasselbe bei mir, und so standen wir einen Moment da. Sie war wunderschön, aber als sie näher an mich herantrat, zuckte ich zurück. Sie nahm meine Hand, zog sie an sich, und ich spürte die Narbe unten an ihrem Bauch, vielleicht von einer Blinddarmoperation, es war das Erste an ihrem Körper, was ich berührte.
Irgendwo in meinem Hinterkopf sagte mir eine Stimme, dass ich eigentlich gut darin sein sollte, dass ich Bescheid wissen sollte, instinktiv wissen, was zu tun war. Aber ich wusste es nicht. Wir legten uns aufs Bett, lagen lange so zusammen und lernten, uns zu berühren und zu küssen. Sie nahm meinen Kopf und schob ihn sanft an sich herunter, und dann holte sie ein Kondom hervor, ich zog es ungeschickt über, verkehrt herum. Sie nickte mir zu, hielt, als ich in sie eindrang, ihre Augen offen und wandte das Gesicht ab, und als sie sich wieder zu mir drehte, waren ihre Augen geschlossen, ihr Mund suchte nach meinem.
Später führte sie meine Hand dorthin, wo sie gebraucht wurde, und am Ende übernahm sie selbst, und danach lagen wir wortlos weiter auf dem Bett. Es war nicht ihr erstes Mal, und als ich zärtlich ihre Finger küsste, immer wieder küsste, rochen sie nach ihr.
Die letzten Partygäste sind vor zwei Stunden gegangen, Mutter schläft in ihrem Zimmer. Inzwischen habe ich in der Küche und im Wohnzimmer aufgeräumt, habe die Fenster geöffnet, damit der Rauch abzieht, und die Möbel wieder an ihren Platz gerückt. Es ist immer noch ein einziger Saustall. Alles ist vollgekrümelt, aber mit dem Staubsaugen warte ich bis zum Morgen. Offene Wein- und Bierflaschen stehen herum, ich bediene mich. Auch Mutters Koffer liegt noch aufgeklappt auf dem Couchtisch, und erst nachdem ich etwas intus habe, erlaube ich mir einen Blick hinein.
Alte Sachen. Sachen, an die man sich gern erinnert. Sachen, die man vielleicht besser vergisst. Postkarten, Konzertkarten. Andenken und Relikte aus einer anderen Zeit. Eine kleine rötlichbraune Schachtel voller Glasschmuck, hübsch anzusehen, aber wertlos. Viele Fotos natürlich auch, manche einzeln, andere zusammengehalten von Büroklammern und Gummibändern, dazu Bilder von Mutter und von mir und von Francis, aber ich versuche, sie zu ignorieren. Lieber nehme ich Mutters Schulheft heraus, das sie aus irgendeinem Grund aufbewahrt hat. Vorne drauf ein nichtssagendes Standard A, im Heft selbst Wörter, wunderschön und wie gemalt, als stünde für das Mädchen, das sie geschrieben hat, alles auf dem Spiel.
Narzisse.
Rochester.
Imperium.
Grotesk.
Neben jedem Wort ist ein rasches Häkchen, unten auf der Seite ein kurzer Vermerk. »Sehr gut«, steht da.
Ich sitze noch auf dem Sofa, als Aisha gegen eins zurückkommt, allein, mit ihrem eigenen Schlüssel. Sie kommt langsam herein, und ich bedeute ihr, dass Mutter in ihrem Zimmer schläft. Ich frage nach Jelly. Er besorgt ein Mittel für den Fleck auf dem Teppich, sagt sie, ist gleich wieder da. Um seine Sachen zu holen, falls er gehen muss. Ich reagiere nicht. Jetzt nur nicht vom Mitleid rühren lassen. Sie setzt sich zu mir, ans andere Ende des Sofas, rutscht aber an die Fotos heran, die ich ausgebreitet habe, darauf Verwandte aus dem Dorf, wo ihr Vater geboren ist. Sie greift nach einem Bild von Mutter als Teenager, in einem vielleicht blauen oder grünen Kleid, die Augen seltsam in die Ferne schweifend, der dünne Arm hochgehalten, ein Schutz gegen die Wucht der Sonne.
»Eine schöne Frau, Michael«, sagt sie. »Und das ist sie immer noch. Kennst du das weiße Gebäude im Hintergrund? Warst du dort, als ihr zu Besuch wart? Die Kirche der Spirituellen Baptisten. Shouter-Baptisten, so nannte man sie früher. Ich habe davon erfahren, als ich dort war. Lange Zeit waren ihre Gottesdienste in Trinidad verboten. Sie durften ihren Glauben nicht so praktizieren, wie sie wollten. Durften nicht laut ihre Gesänge anstimmen und weinen.«
Ihre Stirn ist gerunzelt, aus der Kehle dringt ein Geräusch, als fiele ihr das Schlucken schwer. Sie weint, so viel ist klar, und ich lege ihr meine Hand auf die Schulter, aber sie schüttelt verärgert den Kopf. Räuspert sich, schluckt. Als sie wieder spricht, klingt ihre Stimme heiser.
»Mein Vater hat nur ein paar Minuten von der Kirche entfernt gewohnt, aber er hat mir nie etwas darüber erzählt. Hat überhaupt wenig aus seiner Vergangenheit erzählt. Nicht mal erwähnt, dass seine Eltern kaum genug zu essen für ihre Kinder hatten. Auch von seinem kleinen Bruder und seiner kleinen Schwester hat er nie gesprochen, sie sind beide im Kindesalter gestorben. Oder dass seine Tante, um über die Runden zu kommen, amerikanische Soldaten ›unterhalten‹ hat. Und genauso wenig hat er ein Wort darüber verloren, warum er hier sein ganzes Leben als Wachmann gearbeitet hat. Selbst von seiner Krebserkrankung habe ich viel zu spät erfahren, eine Krankenschwester hat es mir gesagt.«
Ich sehe ihn noch vor mir, es war der Winter vor diesem letzten Sommer, und ich war auf dem Weg nach Hause. Von Weitem sah ich Francis, er stand mit Samuel auf dem Bürgersteig beim Waldorf. Als ich herankam, nickte mir mein Bruder nur kurz zu, aber Samuel lächelte, nahm seine Mütze ab und strich sich das spärliche, schon leicht ergraute Haar glatt. »Guten Abend«, sagte er. Und wie aus heiterem Himmel fing er an zu singen. Er sang nicht besonders gut und mit gedämpfter Stimme, ein französisches Lied, so viel war klar, aber ich wusste nicht, welches, außerdem achtete ich sowieso nur auf Francis. Die Woche war nicht einfach gewesen, wieder hatte mein Bruder sich mit Mutter gestritten. Beim kleinsten Wort aus Erwachsenenmund konnte er aus der Haut fahren, bei allem, was als Bildungsgetue rüberkam oder als verdeckter Spott. Doch während Samuel sang, schaute mein Bruder nur zur Straße hin, peinlich berührt, etwas schüchtern sogar. Das Ganze dauerte bloß ein paar Sekunden, irgendein Scherz zwischen den beiden, nahm ich an, aber Samuel schien zu merken, dass Francis alles andere als erbaut war. Er warf mir einen raschen Blick zu und verabschiedete sich mit einem höflichen kleinen Nicken.
Ich möchte Aisha von dieser Begegnung erzählen. Möchte das Gespräch führen, das ich mir seit ihrer Rückkehr erhofft habe. Aber jetzt höre ich Schritte vor der Haustür und sehe, wie sie aufgeht. Es ist Jelly. Er hat ein Fleckenspray in der Hand. Er schließt die Tür hinter sich, bleibt aber auf der Fußmatte stehen, als traute er sich nicht weiter. Aisha lächelt, winkt ihn herein, und er zieht die Schuhe aus, geht in die Küche, um einen Lappen nass zu machen, dann hinüber zu dem Fleck. Mit den Fingern überprüft er ihn auf Feuchtigkeit. Er liest die Anleitung auf dem Spray, wirft einen Blick auf das Kleingedruckte.
Aisha lacht, prustet. Sie steht vom Sofa auf und geht in mein Zimmer. Als sie mit einem hellgrünen Flyer zurückkommt, ist Jelly schon dabei, den Fleck einzusprühen und zu schrubben. Auf dem Flyer ist ein Mikrofon abgebildet, eine Bühne. Darüber die Namen der Auftretenden. Jah-Righteous, Sister Sojourner, Dutty Bookman. Zweiter von unten: DJ Djeli.
»Djeli«, sagt Aisha. »Wie ein Griot. Ein Geschichtenerzähler, der das Überlieferte weitergibt. Ein paar Tage nach dem Tod meines Vaters war ich im Stadtzentrum, bin dort rumgelaufen in meiner Trauer, noch ziemlich neben der Spur. Auf einmal ruft jemand hinter mir: ›Hey, Sister‹, und als ich mich umdrehe, hält mir ein Junge nervös den Flyer hin. Er hat sich entschuldigt, dass er mich einfach so anquatscht. Er meinte, ich könnte ihm helfen, das unter die Leute zu bringen, ›Du weißt schon, vielleicht hast du einen Sohn oder eine Tochter oder so.‹ Wichser, keine Augen im Kopf.«
»Das war Scott«, erklärt Jelly. »Echt ein Lieber. Der wollte dich nicht beleidigen.«
»Na ja, hab auch schon besser ausgesehen, nehme ich an«, sagt Aisha. »Egal, ich habe den Flyer genommen. Später habe ich mich selber gefragt, warum. Und warum ich am nächsten Abend in diesen winzigen Kellerclub in der Stadt gegangen bin. Es waren vielleicht drei Dutzend Leute da, die üblichen Verdächtigen, Uni, Kunst, aktivistisch drauf, Nobodys. Es gab Livemusik, mal gute, mal weniger gute. Und Gedichte, mal gute, mal weniger gute. Aber ich habe es genossen. Irgendwie habe ich mich verbunden gefühlt.«
Mein Blick fällt wieder auf den Namen. Djeli. Hatten die Jungs im Desirea’s das damals auch so gemeint? Kannten sie die Bedeutung? Ich schaue zu Jelly, er schrubbt immer noch, verteilt das Violette nur noch weiter auf dem Teppich. Er seufzt.
»Ich muss nicht hierbleiben«, sagt er.
»Also«, sage ich. »Tut mir leid, dass ich so sauer reagiert habe. Mir ist schon klar, was ihr vorhattet. Ihr könnt beide noch eine Nacht bleiben, okay? Ihr sollt nur wissen, dass wir es mit Mutter langsam angehen lassen müssen. Für sie ist das alles nicht einfach. Sie ist eine gebrochene Frau. Wirklich, glaubt mir.«
Aisha nickt. Sie geht die Fotos durch, die sie noch in der Hand hält, und findet eins von Francis aus den späten Siebzigern. Mein Bruder im Afrolook, Hemd mit breitem Kragen, grasgrün und orange. Sie zeigt das Foto Jelly. Und wieder dieser Blick, der mir schon früher am Abend aufgefallen ist. Voller Traurigkeit.
Es war der Tag nachdem Aisha und ich uns zum ersten Mal berührt hatten, als die Jungs im Desirea’s beschlossen, dass Jelly eine Generalprobe brauchte, eine echte Herausforderung mit echtem Publikum. Und so liefen Aisha und ich abends durch den vermüllten Glanz der Avenue, die Hitze klebte uns noch auf der Haut. Kaum kamen wir an die Rückseite des Einkaufszentrums, konnten wir es sehen und hören, Licht und Musik drangen durch die sich überlappenden Flyer und Poster am Schaufenster. Ich zog die Tür auf, drinnen war es proppenvoll. Dru ließ Aisha herein, aber dann streckte er den Arm vor und stoppte mich.
»Ausweis bitte«, sagte er.
»Fick dich«, sagte ich.
»Hüte deine scheiß Zunge, junger Mann.«
Das Desirea’s hatte sich, kaum zu glauben, in so etwas wie einen Club verwandelt, mit geliehenen Boxen und Verstärkern und Mikros. Die Lampen waren mit dünnen Tüchern verhängt und warfen ihre bunten Schatten über alles. Auf einer improvisierten Bühne machte Jelly sein Ding mit den Mischpulten und Plattentellern, und die Menge schwang wild hin und her, völlig gelöst und dicht beieinander. Ein Junge, den ich nicht kannte, sagte etwas in ein eingestecktes Mikro, und ein großes Mädchen, die Frisur à la Golden Beauty, schnappte es sich. »Gib her«, sagte der Junge, aber sie ignorierte ihn, und die anderen Mädchen juchzten. Golden Beauty sagte Jelly etwas ins Ohr, und der nickte und fand für sie einen Breakbeat. Man konnte sehen, wie sich ihre Lippen bewegten, während sie stumm etwas ausprobierte, und dann rappte sie los, eine hohe, durchdringende Stimme, ihre Hände schnitten die Worte in die Luft.
»Jugend von Eglinton,
Jugend von Kingston,
Jugend von Compton,
Jugend von Brooklyn,
Jugend von Scarborough …«
Ich sah Francis neben Jelly, während sein Freund die Platten manipulierte und zwei ganz unterschiedliche Stücke miteinander verband, alte und neue, karibische und amerikanische und jetzt African Soul, und dann schwoll der Jubel der Menge an. Francis rief: »Lauter!«, andere stimmten ein. Jetzt auch Aisha, sie wischte sich die Haare aus dem Gesicht und rief: »Lauter!« Alle im Raum zusammen, eine einzige Stimme.
Lauter!