SECHS

Als wir noch klein waren, nahm Mutter uns einmal mit an den Ort, wo sie geboren wurde. Ein Taxi kam, um uns zum Flughafen zu bringen, und wir halfen ihr nach Kräften mit dem Gepäck durch den Schnee, zwei Koffer und die Kartons, die sie gekauft hatte, darin ein Toaster, ein Radiorekorder und zwei Dosen Ahornsirup. Ich erinnere mich noch, wie uns das Taxi im Winterverkehr quer durch die Stadt fuhr und wie hell erleuchtet der Flughafen war, überall Werbung für Uhren und Autos und Kleidung und schicke Abendessen. Und wie wir dann zusammen mit anderen in einer langen Schlange standen, alle mit Koffern und Kartons, und wie Mutter auf einmal ganz durcheinander war, weil sie die Tickets nicht finden konnte, während wir aufgeregt und nervös die Gesichter der Menschen hinter uns musterten. Ein paar Touristen waren darunter, die meisten aber reisten »zurück« an diesen mysteriösen Ort, den manche – unsere Mutter niemals – Heimat nannten.

An den Flug selbst erinnere ich mich kaum, nur an vereinzelte Bilder und Eindrücke. Ich weiß noch, wie ich mich auf den Sitz gestellt und meine Hand in die über uns strömende Luft gehalten habe, wie ich eine der Lampen an der Decke immer wieder an- und ausgeknipst habe und dass Mutter zu müde war, um zweimal mit mir zu schimpfen. Und dass ich über meine Ohren geklagt habe und ein Passagier mir einen Erwachsenenkaugummi geschenkt hat, der viel zu stark nach Pfefferminz schmeckte. Dass ich darauf gewartet habe, endlich aussteigen zu können, und dass wir dann in einen anderen Flughafen gingen. Um uns herum war fast die gleiche Werbung für Uhren und Autos und Kleidung, die wir zu Beginn der Reise schon im ersten Flughafen gesehen hatten. Die Luft in diesem zweiten Flughafen war kalt, sie fühlte sich kälter an als die winterliche Stadt, von der wir losgeflogen waren, und ich fragte mich, ob man uns womöglich reingelegt hatte, ob wir in Wirklichkeit nirgendwohin geflogen waren oder ob die Welt vielleicht überall gleich aussah.

Doch als wir aus dem Flughafen hinaustraten, war es heiß. Die Sonne ging gerade unter, und wir stiegen in ein Auto, es war laut und stank selbst dann noch nach Auspuff, als wir schon fuhren. Der Fahrer war vielleicht ein Verwandter, aber ich erinnere mich nicht an eine Unterhaltung oder dass irgendwer jemanden vorgestellt hätte. Rings um den Flughafen stemmte sich ein gleißendes Lichtfeld gegen die heraufziehende Dunkelheit, und entlang der Straße sah ich Reklametafeln mit Werbung für schöne Unterkünfte vor weißen Sandstränden und dem blauesten Wasser. Aber je länger wir fuhren, stundenlang, wie mir schien, desto schwerer wurde es, überhaupt etwas zu erkennen. Ich sah nur noch das runde Gelb der Straßenlaternen und das gewellte Blech auf den Dächern von Häusern, dann immer weniger Laternen und schließlich nur noch den großen Mond und einen strahlenden Sternenhimmel. Der Duft von Blumen hing mir in der Nase, aber auch ein Geruch von Dung und Schlamm und Fäulnis.

Mutters Familie lebte in einem Dorf namens Ste. Madeleine im Inselinneren, und die Strecke war nicht nur lang, sondern auch zum Erbrechen kurvig. Aber irgendwann rumpelten wir über die Schlaglöcher einer unbefestigten Straße und hielten vor einem großen einstöckigen Haus. Ein Tier huschte davon und verschwand im Schatten, ein Reptilienschwanz, hast du gesehen, Mom? Aber Mutter war schon ausgestiegen und umarmte eine Frau, die herausgekommen war, kaum dass der Wagen vorfuhr. Francis nahm mich an die Hand, und der Erste, der mich an diesem Ort des »Zurück« oder der »Heimat« begrüßte, war ein gefleckter Hund, er stürzte auf uns zu, zerrte an einem zerfransten Strick und fletschte die Zähne.

Alle anderen im Haus schliefen schon, und es hieß, am Morgen würden wir einander richtig vorgestellt. Mutter sollte sich irgendwo im Haus das Bett mit der Frau teilen, die sie begrüßt hatte, ihrer Schwester, und Francis und ich bekamen auf dem Boden des Wohnzimmers eine Matte für uns beide. Wir putzten uns die Zähne draußen, an einer Leitung mit nur kaltem Wasser. Als ich vor dem Schlafengehen noch mal aufs Klo wollte, trat ich auf etwas Hartes, was sich aber bewegte, ein Insekt von urzeitlicher Größe, wie mir schien, und wütend schnarrend flog es davon.

Francis und ich legten uns auf die Matte, jemand machte das Licht aus, aber wir konnten nicht einschlafen. Wilde Wesen riefen in der Dunkelheit, und die Luft war ein einziges Insektenbrummen, lauter als der Verkehr zu Hause. Im Fenster stand der Vollmond, er leuchtete so hell wie eine kalte weiße Sonne, und Milliarden von Sternen zeigten ein Universum, wie wir es uns nie hätten vorstellen können. Ich musste an die Geschichten denken, die Mutter uns manchmal erzählte und in denen sich Geister und Gespenster tummelten, Wesen, von denen einfältige Kinder dachten, sie würden ihnen begegnen, wenn sie allein hier herumliefen. Geschichten von Soucouyants und Lagahoos. Und von Douens, kleinen Kindern, die starben, noch bevor sie getauft werden konnten, und die dann durch die wilden bewaldeten Gebiete streiften und lebende Kinder in den Tod lockten. Die Geschichten sollten uns keine Angst einjagen, und das taten sie auch nicht. Die Namen, die man diesen Wesen gegeben hatte, waren viel zu seltsam, als dass wir uns vor ihnen fürchteten.

In dieser ersten Nacht an Mutters Geburtsort hatte ich allerdings wirklich Angst. Angst vor etwas mir Unbekanntem, etwas Altem und Unbegrabenem, und dieses Etwas lauerte in der Dunkelheit und war uns jetzt näher als jemals zuvor. Ich weiß noch, wie ich neben Francis wach lag und zum ersten Mal den Schrei eines Hahns hörte, meine Hand schloss sich fest um die Hand meines Bruders. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, und ich schaute zu ihm, er lag ruhig und mit weit offenen Augen da. Ich sah ihn an und suchte nach irgendeinem Hinweis, der mir sagte, woran ich war, sei es eine leichte Bewegung seines Ohrs oder seines Kiefers oder dieses Bereichs zwischen Mund und Nase, der immer so viel verriet. Als Francis mich dabei ertappte, schluckte er und nickte.

»Hab keine Angst«, sagte er.


Am Morgen war alles anders. Wir fanden uns in einer Wolke von Onkeln und Tanten wieder, von älteren Cousins und Cousinen. Nora wurde uns gebührend vorgestellt, Mutters ältere Schwester, sie war etwas korpulenter. Wir lernten einen sehr alten und hageren Mann kennen, bei dem das Weiße um die Iris braun war, das war mein Großvater, er verließ nie sein Bett. Und eine weitere »Tante« namens Beulah, ihr verwandtschaftliches Verhältnis zu uns blieb vage, und sie hatte den schärfsten Blick und eine ekelhafte Wunde am Mund, die man irgendwie aber auch immer anfassen wollte. Wir lernten viele »Cousins« kennen, Jungen und Mädchen, mit denen Francis und ich um zig Ecken verwandt waren, sie musterten uns von Kopf bis Fuß und schienen nie zufrieden mit unseren Antworten auf ihre Fragen nach »Amerika«.

Was war das für ein Herkunftsort, an den wir gereist waren? In den Jahren danach hörten Francis und ich immer wieder die Wörter »Sklaverei« und »Kontraktarbeit«. Und wir erfuhren, dass die Karibik nach Menschen benannt war, die man mit Mord und durch Krankheiten fast aus dem Gedächtnis ausgelöscht hatte. Aber was von all den Geschichten erkannten wir wieder in diesem Land, das wir als Kinder sahen? Um uns herum waren aufgegebene Zuckerrohrfelder und brachliegendes Ackerland, getüpfelt mit hüttenähnlichen Behausungen. Wir hörten, wie unsere armen Schwarzen Verwandten von »Kulis« sprachen und unsere armen indischen Verwandten von »Niggern« und wie beide Seiten vor Lachen prusteten, wenn von der »Karibin« die Rede war, einer entfernten Verwandten, die auf dem Markt Kräuterpaste verkaufte und offenbar nicht ganz richtig im Kopf war. Das alles mussten wir irgendwie auch zusammenbringen mit dem modernen Flughafen, von dem wir gekommen waren, und der Werbung für feine Restaurants und Hotels, mit den Luxusautos und Bürogebäuden, die wir in der Hauptstadt gesehen hatten. Die weißen Strände auf den bunten Plakaten waren für die eigentlichen Touristen reserviert, denn der Strand, an den wir gingen, war klein und steinig, dem Sand haftete eine schwarze Klebrigkeit an und ein teeriger Geruch. Auf dem Wasser trieb hier und da gelber Schaum, diese Stellen sollten wir meiden, und Tante Beulah erzählte uns, vor Jahren sei ein ausländisches Schiff von der Ölraffinerie auf der Insel losgefahren und auf einen Felsen aufgelaufen, ein großer Teil der Ladung sei ausgeströmt.

Aber Schönheit gab es auch hier. Das Meer selbst war ein einziges Lichter- und Farbenspiel. Über die Hügel zog sich ein sattes Grün, und überall waren Eidechsen und die leuchtendsten Vögel, sie machten einen fröhlichen Radau. Auch unsere Verwandten waren sehr schön, in beiden Linien unserer Familie. Diese Menschen konnten wie beiläufig ihren Spott über andere ausgießen und gleich darauf lachen. Es gab ein Suppengericht mit Fleisch, das für uns aussah wie Abfall, und wir schauderten beim Anblick des gespaltenen Kopfs und der Füße mit den knorpeligen Stücken in Rosa und Weiß. Aber dann probierten wir und wollten noch mehr. Und Eiscreme gab es, ein Nachbar stellte sie in einem Behälter mit Steinsalz und einer Handkurbel selber her.

Einmal gingen wir abends mit zu einer alten weißen Kirche. Wir wurden als »Brüder« begrüßt und zum Gottesdienst hineingeführt. Drinnen brannten viele Kerzen, die Menschen waren in unterschiedlichen Farben gekleidet. Der Prediger hielt ein Buch in der Hand, las aber nur selten daraus vor. Stattdessen schlug er immer wieder energisch mit der Hand darauf, während die Gemeinde in einer unverständlichen Sprache irgendetwas rief. Er sprach von Erlösung und von Verfolgten, von Kanaan und von gelobten Ländern und wie Gott einem jeden einen geheimen Namen gab, den tiefen Namen, den nur er kannte, und eines Tages würde er uns rufen, und wir würden, ohne zu zögern, antworten.

Das alles verwunderte mich sehr, ein solches Spektakel hatte ich bei Erwachsenen noch nicht gesehen, und als ich Francis einen fragenden Blick zuwarf, sah ich, wie er gebannt und mit feuchtem Gesicht dieser seltsamen Sprache lauschte, dieser Musik und dem Lärm.


An die Fahrt zurück zum Flughafen erinnere ich mich noch gut. Und ich weiß noch, dass Tante Beulah von niemandem gebeten wurde mitzukommen, dafür saß die andere Schwester meiner Mutter bei uns im Auto. Sie sagte, wie traurig es sie mache, dass ihre Schwester und die Jungs abreisten. Wann wir denn zurückkämen? Wann würde meine Mutter ihre Neffen und Nichten wiedersehen? Sie vermisste die Gesellschaft unserer Mutter und ihre Scherze. Vermisste die Zeiten, als sie zusammen in die Stadt zum Tanzen gefahren waren. »Tanzt du immer noch so gern, Ruth? Gehst du immer noch tanzen?«

»Manchmal«, sagte Mutter und schaute auf die vorbeiziehenden Felder.

In der Stille, die darauf folgte, fand meine Tante die Worte für ein Geständnis. Es sei für sie nicht leicht gewesen in all der Zeit. Manchmal, erklärte sie, sei sie sogar eifersüchtig auf ihre ältere Schwester, auf das perfekte Leben, das nur sie allein gefunden habe, indem sie weggegangen sei.

Mutter sagte nichts. Sagte nicht, dass unser Vater uns vor Jahren verlassen hatte. Gab nicht zu, dass sie weder Zeit noch Geld gehabt hatte, um ihre Ausbildung als Krankenschwester zu beenden. Sprach nicht die Schulden an oder den täglichen Kampf oder die Schmerzen, die sie oft plagten. Sie nickte nur, und die ganze weitere Fahrt schaute sie durchs Fenster auf die Kokospalmen, die schwarz in den Abendhimmel ragten, auf die verwahrlosten Zuckerrohrfelder, die sich ausdehnten wie das Meer.


Aber es war nicht nur »sie allein«. Im Park gab es überall Mütter, die weit über die Grenzen des Vertrauten hinaus gereist waren, die tagsüber die Schulbank drückten und nachts arbeiteten, die davon träumten, Kinder aufzuziehen, die einmal ein bisschen mehr haben sollten als sie selbst und die der Lohn für all die Opfer wären, eine Entschädigung für die Vergangenheit. Und es gab Triumphe, das durfte man nicht vergessen. Ängste wurden aufgelöst im Duft köchelnder Töpfe, Verunglimpfungen gekontert mit einer frisch gewaschenen und gebügelten Tischdecke. Der eigenen Geschichte ließ sich ein Schnippchen schlagen mit der Beschaffung von Kleidung und dem jährlichen Schulmaterial. »Beispiele« wurden großgezogen.

Auch bestand Mutters Leben, wie das der anderen, nicht nur aus Aufopferung und Durchhalten. Da war immer noch etwas anderes, waren Freuden und Gedanken, die wir nur erahnen konnten. Etwa wenn sie in ihren Schönheitssalon ging und ihren Kopf nach hinten ins Waschbecken legte, die Augen vor Wonne geschlossen, in ihrem Haar die Hände einer anderen Frau. Oder als unser Nachbar Sonny Barrington einmal seinen Arm um sie legte und ihr etwas ins Ohr flüsterte, worauf sie lachen musste, ein albernes, herzliches Lachen. Oder als sie einmal einen ganzen Tag auf dem Sofa blieb, in der Hand ein unglaublich dickes Buch aus der Bibliothek, ohne sich auch nur ein einziges Mal verrückt zu machen, weil irgendwas im Haushalt zu tun war. Kapitel um Kapitel in stiller Abgeschiedenheit, ein konzentriertes Hinaufgreifen ans Ohrläppchen, ein sanftes Kneifen, wenn etwas auf der Seite sie stocken ließ.

Dann das Rouge Valley. Tatsächlich war es Mutter, die Francis und mich mit diesem Ort bekannt machte. Als wir noch klein waren, ging sie mit uns über den Kaninchenpfad hinunter, wir setzten uns am Bach ins Gras und aßen etwas, ignorierten das Krabbelgetier und hielten uns den streunenden Hund vom Leib, den wir Rudebwoy genannt hatten und der immer an uns schnüffelte und um Futter bettelte. Ganze Jahreszeiten verbrachten wir dort unten. Den Herbst, wenn der Talgrund ein rot-gelb-oranges Becken war. Den Winter, wenn die Bäume kahl waren, das Eis den Bach einschloss und unser Atem an ruhigen Tagen wie reinstes Kalzium in der Luft stand. Den Sommer, wenn der Bach verkümmerte, die Beeren am Wegrand bei der kleinsten Berührung aufplatzten und um uns herum die Insekten brummten, schwer und müde von den Pollen und vom Nektar. Und diesen zauberhaften Frühling, daran erinnere ich mich noch gut, wenn das Wasser des Bachs nach der Eisschmelze besonders tief war und dahinschoss. Wenn überall die flaumigen Flocken irgendeiner Pflanze in der Luft schwebten, weiße Sporen, Millionen davon, eine jede eine Erinnerung, ein Traum, der darauf wartete, zu landen und zu erblühen.

Für unsere Mutter gab es immer ein verborgenes Leben, und im Rouge konnte sie es uns zeigen. Die Monarchfalter zum Beispiel, die auf ihrem Weg hierher ganze Länder durchquert hatten. Oder den Raubvogel, den sie eines Tages entdeckte, als man sie und alle anderen Beschäftigten Knall auf Fall entlassen hatte, ein Rotschulterbussard, pure Wildheit und Stolz. Einmal sogar, auf dem Rückweg nach Hause, einen Waschbären, der von einer Mülltonne kam, furchtlos und auf Zehenspitzen und mit majestätisch hochgerecktem Hinterteil. Sie zeigte uns die Trauerweide und den Ahorn, diesen großen Vater der Bäume mit seiner gerippten Rinde, wo der Saft herausquillt, ein Meer klebriger Nährstoffe für Insekten. Ein andermal hielt sie Francis einen Kiefernzweig vor die Nase und lächelte etwas schief, als mein Bruder dem eigenartigen Geruch einen Namen gab.

»Meister Proper!«, sagte er.

Was steckte hinter diesen Ausflügen, was erhoffte sie sich? Was erträumt sich eine Mutter von einem Land? Als Francis wieder einen seiner Albträume hatte, wie immer gepackt von einem unmöglich zu benennenden Schrecken, nahm Mutter uns einfach mit ins Rouge. Sie legte sich zu uns ins Bett und erzählte mit geschlossenen Augen und vor Erschöpfung traumgleicher Stimme von kleinen Faltern, die in Schwärmen um die hässlichen Strauchbüschel am Ufer des Baches flatterten. Und wenn man nicht genau hinsah, kam man gar nicht auf die Idee, dass es Falter sein könnten. Man hielt sie für irgendwelche Papierschnipsel, die im Wind hin und her schaukelten. Als hätte sich jemand ein altes Buch genommen, die Seiten zerrissen und in die Luft geworfen. Buchstaben, die einander verloren gingen. Ein verstreutes, nutzloses Alphabet. Ohne jeden Sinn …

»Mom?«, sagte Francis und schaute sie besorgt an.

»Du musst näher hinsehen«, sagte sie, die Augen weiterhin geschlossen. »Halt die Hand auf, dann kannst du sie spüren. Das ist kein Müll. Das sind Lebewesen. Und sie fliegen.«


Über einen Vorfall aus unserer Kindheit sprachen wir in der Familie nie. Eines Nachmittags hatten ein paar junge Männer einen Lebensmittelladen betreten, in einem Wohnviertel, das wir nicht kannten, und recht stümperhaft einen Raubüberfall verübt, sie schossen einen Verkäufer nieder und ließen ihn sterbend liegen. Aber in dem Geschäft hing eine Überwachungskamera, und alle Sender der Stadt zeigten nun die unscharfen Aufnahmen der Mörder.

Mutter hatte eine zwölfstündige Nachtschicht, also waren Francis und ich allein zu Hause, wir saßen vor dem Fernseher und sahen die Aufnahmen der Täter. Sie bewegten sich ruckartig, am unteren Rand lief ein Timecode. Sie trugen dicke Jacken, die Schultern hochgezogen, die Hände tief in den Taschen, einer zog beim Reinkommen den Mützenschirm herunter. Aufschlussreichere Details gab es nicht. Nur Schemen. Ein Mord und drei ununterscheidbare dunkle Gesichter, die nun in der Stadt umgingen. Am nächsten Morgen steckte schon früh die Zeitung im Briefschlitz, auf dem Abonnement hatte Mutter selbst in schwierigsten Zeiten bestanden, und auf der Titelseite prangten dieselben Bilder, im Innenteil gab es dann noch mal einen Bericht und sogar einen Leitartikel, auch wenn mir das damals natürlich noch nichts sagte. Francis war sieben und lernte gerade lesen, lernte zu verstehen, was Tag für Tag in Sprache umgesetzt wird, und so entzifferte er die Wörter rings um die Schwarzen Gesichter. Ich saß neben ihm und konnte spüren und riechen, wie die Angst in ihm aufstieg, auch wenn er das nie ausgesprochen hätte.

Es war schon Tag, und Mutter war noch nicht zurück, aber Francis und ich waren immer noch auf. Francis hatte zur Sicherheit einen Stuhl an die Tür geschoben, das hatte er mal so im Fernsehen gesehen. Doch als Mutter kam, konnte sie die Tür mühelos aufdrücken.

»Meine Jungs«, sagte sie leise.

Sie kam zu uns ans Sofa, setzte sich auf die Armlehne neben meinen Bruder und sagte, es tue ihr leid, dass sie so lange weg gewesen sei, aber Francis wandte sich gleich wieder der Morgenshow im Fernsehen zu, als wäre das auf der Mattscheibe vorgeführte Kuchenbacken das Wichtigste der Welt. Ich erinnere mich noch, wie Mutter die Zeitung, die Francis gelesen hatte, in aller Ruhe fest zusammenrollte, die gleiche Zeitung, die wahrscheinlich auch sie auf dem Heimweg gelesen hatte. Und wie sie versuchte, den Arm um Francis zu legen, aber mein Bruder rutschte zur Seite. Sie sah müde aus. Sie roch nach Schweiß und Putzmittel.

»Kommt, wir fahren jetzt mal wohin«, sagte sie.


Wir nahmen einen Bus und dann einen Nahverkehrszug und kamen zu einem Einkaufszentrum, das sehr groß war und sehr hell und mit polierten Marmorböden. Überall waren schicke Läden, wo Kleidung und Kosmetika verkauft wurden, in den Auslagen hingen lebensgroße Bilder von schönen Menschen, einige hatten hellbraune Gesichter. Während wir von Geschäft zu Geschäft gingen, schienen die Angestellten uns mit höflicher Aufmerksamkeit zu folgen. Mutter hatte sich nicht umgezogen und war noch in ihrer Arbeitskluft, und wenn sie sich auf den Marmorplatten näherte, kündigten ihre Turnschuhe sie mit einem lustigen Quietschen an. Eine der Verkäuferinnen kam ohne ein Lächeln auf uns zu und fragte: »Kann ich Ihnen helfen?« »Nein danke, wir machen nur einen Schaufensterbummel«, sagte Mutter fröhlich. Wir kamen an einer großen Skulptur aus blankem Edelstahl vorbei, und ich sah uns darin gespiegelt und musste feststellen, dass Francis und ich auch nicht gerade toll aussahen.

»Nein danke, nur ein Schaufensterbummel«, erklärte Mutter jedes Mal wieder.

In dem Einkaufszentrum gab es ein Kino, und Mutter ging mit uns in einen Actionfilm. Es war das Übliche, jede Menge Ballerei und Heldentum unter wallendem Haar, Explosionen vor tropischer Kulisse, der Jeep der Guten ohne Geschwindigkeitsbeschränkung. Und natürlich mit Happy End, aber irgendwie waren wir erschöpft, als hätte der Film uns die Luft aus dem Leib gepustet. Danach entdeckten wir in einem Schnellrestaurant zum Glück einen freien Tisch, direkt unter einem an der Wand hängenden Fernseher, und trotz des Gedränges konnten wir ihn ergattern. Mom holte für uns Hot Dogs und Cola und für sich einen Becher Kaffee.

Niemand sagte ein Wort. Wir hatten alle die Nacht nicht geschlafen, und was immer gewesen war, schien tonnenschwer auf uns zu lasten. Mein Bruder schwieg weiter und wich Mutters Blicken aus. Um uns herum erklangen geheimnisvolle leise Stimmen, und ich war irritiert, ein bisschen panisch sogar, bis mir klar wurde, dass das bloß die Nachrichten aus dem Fernseher über uns waren. Mutter hielt ihren Styroporbecher, ohne daraus zu trinken. Umfasste ihn mit beiden Händen. Als schöpfte sie all ihre Energie aus dem bisschen Wärme. Auf dem Kaffee schwamm eine dünne weiße Haut.

Über Lautsprecher kam eine Durchsage, das Einkaufszentrum schließe bald und der Gastronomiebereich sei zu verlassen, aber Mutter schien es nicht zu hören. Drei weiße Jungs hatten zu uns rübergeschaut.

»Ihr sollt gehen«, sagte einer. »Hier wird geschlossen.«

»Wir sind gleich so weit«, sagte Mutter.

»Hey«, sagte einer der anderen. »Nicht gehört, was der sagt? Ihr habt hier nichts mehr zu suchen. Sperrt besser mal die Ohren auf.«

»Lasst uns in Ruhe«, sagte Francis.

»Francis!«, sagte Mutter.

Auf den Gesichtern der drei erschien ein Lächeln. »Francis«, wiederholten sie und grinsten.

Francis stand auf und ging zu ihnen hin, doch ein Stoß genügte, und er fiel rücklings auf den Hintern. Er kam wieder auf die Beine und ging noch einmal los, aber Mutter schob sich dazwischen. Die Jungs fassten sie an, packten sie am Kittel, zerrten und schubsten, versuchten sie aus dem Gleichgewicht zu bringen, Francis und ich schrien. Einer der drei schien einen Armhebel ansetzen zu wollen, aber Mutter konnte sich lösen und knallte ihm eine. Der Junge hielt sich die Wange, wich zurück. »Niggerfotze«, brummte er.

Als die Verteidiger des Einkaufszentrums gegangen waren, strich Mutter rasch ihren Kittel glatt und zupfte sich das Haar zurecht. Sie wischte den Schmutz von Francis’ Hemd und nahm unsere Gesichter in die Hände.

»Nur ein paar ungezogene Bengel«, sagte sie und versuchte zu lächeln.


Zu Hause machte Mutter ein paar Brote für alle, aber niemand hatte Hunger, und danach hatte, zum ersten Mal überhaupt, niemand von uns Lust auf Fernsehen. Wir zogen unsere Schlafanzüge an, und Francis’ Ärger verflog.

Er bat Mutter, bei uns zu bleiben, und wir durften neben ihr im unteren Bett liegen und ihre Wärme spüren, auch wenn sie noch nach der durchgearbeiteten letzten Nacht roch. Es war ein matter, unbestimmter Geruch, nicht nur von Schweiß und einem Rachen, dem die Erschöpfung und die versäumten Mahlzeiten anhingen, nicht nur von Chemikaliendämpfen auf der Haut und im Haar, sondern von etwas anderem. Etwas Altem, das für immer haften blieb. Sie strich uns über die Köpfe und begann, eine ihrer Geschichten zu erzählen, eine Geschichte von vor langer Zeit und in einem anderen Land, diesmal von Kindern, die von bösen kleinen Wesen in einen Wald gelockt wurden, aber immer wieder unterbrach sie, verlor jedes Mal den Faden. »Tut mir leid, ich bin so müde, ich kann nicht mehr.« Sie stand auf, bat Francis, sich wieder ins obere Bett zu legen, und löschte das Licht. Dann lag ich mit Francis in der Dunkelheit. Es war die erste Dunkelheit seit dem Raubüberfall.

Ich versuchte die Augen zu schließen, träumte aber sofort, vielleicht genau wie Francis, von den gesuchten Männern, sah ihre formlosen dunklen Gesichter. Vor dem Haus hatten die Bäume Eiskrallen, und der Wind blies und rüttelte an den Fenstern und fegte den Schneeregen an die Scheiben.

Draußen ein Schrei. Das Aufheulen eines dicken Motors auf der Avenue.

Francis kletterte von seinem Bett herunter, half mir aus meinem heraus und ging mit mir durch den Flur zu Mutters Zimmer. Mutter schlief nicht, sie hatte nicht mal ihre Arbeitssachen ausgezogen. Sie saß einfach im Dunkeln auf ihrem Bett. Ihr Gesicht wandte sich uns zu.

»Er hat Angst«, sagte Francis, seine Hand auf meiner Schulter.

»Angst? Wovor denn Angst?«

»Weiß ich nicht. Vielleicht vor den schwarzen Mördern.«

»Vor … wem

»Den Mördern. In den Nachrichten. Den schwarzen Männern …«

Sie schloss die Augen, presste die Finger gegen die Schläfen. Dann fing sie sich wieder. »Das sind Kriminelle, Francis. Kriminelle werden von der Polizei gefasst und bestraft. Die haben keine Chance. Versteh doch bitte. Wir haben Glück, dass wir hier wohnen. Hier sind wir sicher.«

»Er glaubt nicht, dass wir hier sicher sind.«

»Sind wir aber, Francis.«

»Sind wir nicht. Waren wir noch nie.«

»Du bist müde und durcheinander. Bitte beruhige dich, mir zuliebe.«

»Du sagst ihm nicht die Wahrheit.«

»Doch, das tue ich.«

»Das glaube ich dir nicht.«

»Du musst mir aber glauben.«

Sie packte Francis am Arm und schüttelte ihn. Seine Miene verzog sich, erst vor Schmerz und dann, als sich ihre Blicke trafen, vor Schreck. Mutter fasste sich ans Gesicht und merkte, dass sie weinte.


»Was ist passiert?«, fragte Raj. »Warum sagt keiner was? Wer hat das getan?«

Ich war Francis hinterhergelaufen und hatte ihn beim Einkaufszentrum schließlich eingeholt, ein paar Ladenbesitzer, die im Dunkeln zur Arbeit kamen, waren stehen geblieben und starrten auf diesen blutverschmierten jungen Mann. Ich half ihm ins Desirea’s, die Jungs kamen sofort herbei und setzten ihn in einen Frisörstuhl. Für einen Moment standen sie ebenfalls da und starrten. Aber dann legte Dru los, nahm Verbandsmull und medizinisches Klebeband und tat, was er konnte. Francis war nicht gerade kooperativ. Er schien betrunken zu sein, warf sich herum und redete mit sich selbst.

»Still gesessen, Homeboy«, sagte Dru. »Nur noch ein bisschen.«

»Ich kapier’s nicht«, sagte Raj mit einem Blick zu Jelly. »Das soll bei der Audition passiert sein? Hat man euch überfallen?«

Jelly antwortete nicht. Dru schaffte es, Francis’ zugerichtetes Gesicht an ein paar Stellen zu verarzten, die Verbände blühten rot auf. Als er eine weitere Wunde mit einem alkoholgetränkten Tuch abtupfen wollte, fluchte Francis und riss den Kopf zur Seite.

»Ganz ruhig, Homeboy«, sagte Dru. »Du musst runterkommen.«

»Er muss ins Krankenhaus«, sagte Jelly. »Seine Augen … seine Pupillen sind unterschiedlich groß.«

Francis erhob sich unsicher von seinem Stuhl und ging auf Raj zu, aber Dru stellte sich ihm in den Weg und erklärte mit sanfter Stimme, er müsse sich wieder setzen. Jelly sagte dasselbe und fasste ihn am Arm. Francis schwankte ein wenig, sah Raj wütend an.

»Bitte, was ist mit dir?«, fragte Raj.

»Mit mir?«, sagte Francis. »Guck dich doch an. Ihr alle hier.«

Raj blinzelte, schaute zu Jelly und zu Dru, ließ den Blick über die anderen wandern, sämtlich auf den Beinen jetzt. Trance, Kev, Raj, Dru. Gene. Hatte ich das erst in dem Moment begriffen? Wir waren die Loser und Möchtegerns der Gegend. Waren die Kinder vom Dienstpersonal, ohne Zukunft. Waren nicht, was die Eltern von uns erwarteten. Waren nicht, was andere Erwachsene von uns erwarteten. Wir waren Nobodys, waren auch nur irgendeine namenlose Stadt.

»Wir träumen uns was zurecht«, sagte Francis. »Das hätte nie geklappt.«

»Mensch, Homeboy«, sagte Jelly und zog ihn wieder auf den Stuhl.

»Niemand hört zu. Es gibt für uns keinen Weg.«

Jelly antwortete ihm nicht mit Worten. Er diskutierte nicht. Er strich ihm nur über den Rücken, über den Hals. Nahm das Gesicht meines Bruders in die Hände und legte die Stirn an seine.


So stand Jelly da, Stirn an Stirn mit Francis, als die Cops auftauchten, einer der Uniformierten zog gleich eine Miene, die Lippen gekräuselt. Diesmal waren es viele Polizisten, mehr als beim letzten Mal, und in voller Montur, sie schwitzten unter ihren Schutzwesten. Einer sagte, ein Ladenbesitzer habe sie gerufen, irgendwas mit einer Schlägerei, ein Junge schwer verletzt, und Dru hob zu einer Erklärung an, nein, da sei nichts dran. Der Polizist deutete auf Francis.

»Und was ist mit dem?«

»Nichts«, sagte Dru. »Er hat sich verletzt, ja. Wir kommen schon klar.«

»Okay«, sagte der Polizist. »Dann die Ausweise raus. Und alle mal an die Wand. Ihr kennt das Spiel.«

»Na los, Fran«, sagte Jelly.

Er versuchte, Francis vom Stuhl aufzuhelfen, und ich fasste ebenfalls mit an, die Gliedmaßen meines Bruders waren stocksteif. Er hatte eindeutig Schmerzen, und als er auf die Beine kam, fluchte er und riss seine Arme von uns weg. Er trat gegen den kleinen Metallständer mit Drus Scheren und Haarschneidemaschinen. Das Ding fiel scheppernd um.

»Ihr drei«, sagte der Polizist, »auseinander!«

»Er ist verletzt«, erklärte Jelly. »Wir helfen ihm nur auf.«

»Darum kümmern wir uns. Ihr tut, was wir sagen.«

»Was haben wir denn getan?«, rief Francis mit brüchiger Stimme.

Er schüttelte sich, damit wir ihn losließen, hielt sich mühsam auf den Beinen und machte, um Halt zu finden, einen schwankenden Schritt nach vorn. Ein Anblick war das, selbst für mich. Er war in Schweiß ausgebrochen, so groß waren jetzt die Schmerzen. Er hustete und spuckte aus, aber nur halb, etwas Zähflüssiges klebte ihm an der Lippe. Ich sah, wie einer der Polizisten den Verschluss an seinem Holster öffnete.

»Setzen Sie sich wieder hin, Sir«, sagte der Mann.

»Jetzt mach schon«, sagte Dru.

»Na los, mach schon«, sagte Gene, fast flüsternd.

»Nein«, sagte Francis. »Erklären Sie es uns. Was haben wir getan?«

Er stolperte voran, sein Körper steif.

»Bleiben Sie, wo Sie sind«, hörte ich einen der Polizisten. »Keinen Schritt weiter.« Wieder ging ein Holsterverschluss auf. Und als eine Pistole gezogen wurde, war mir sofort schwindlig, die Welt fing an, sich um die Waffe zu drehen, ich konnte mich nicht rühren. Jelly tat, als hätte er nichts gehört, immer noch an Francis’ Seite, aber Francis blieb nicht stehen, ging weiter mit Jelly auf den Polizisten zu, der ihn angesprochen hatte. Mein Bruder zitterte, aber da war auch eine Energie, eine durch nichts aufzuhaltende Kraft. In seinen Augen standen schon die Tränen, und als er lächelte, brach der Schorf an seiner Lippe auf, die Zähne waren jetzt rot verschmiert.

»Sie denken, ich bin verrückt«, sagte er. »Sie denken, ich bin gefährlich.«

»Ich denke, dass Sie sich besser hinsetzen, Sir«, sagte ein Polizist.

»Nennen Sie mich nicht Sir. Und hören Sie auf mit dem Getue. Antworten Sie auf meine Frage. Geben Sie mir eine Erklärung.«

»Wir werden Sie nicht ein zweites Mal auffordern«, sagte ein Polizist.

»Tun Sie, was er sagt«, ein anderer.

»Fran«, sagte Jelly. »Bitte.«

Mein Bruder taumelte weiter. Seine Augen zwei Seen. Sein Lächeln immer breiter. »Und zwar heute«, sagte er. »Heute sagen Sie mir, was ich getan habe.«

»Keine Bewegung!«

»Jetzt. Nicht irgendwann.«

»Kei-ne-Be-we-gung.«

»Francis«, flüsterte ich.

Zumindest glaube ich, dass ich das gesagt habe. Dass ich seinen Namen gesagt habe. Ich hatte gesehen, wie ein Polizist Jellys Arm packte. »Nicht anfassen!«, rief Francis, und es war vorbei. Ich erinnere mich nicht mal an den Schuss. Mein Bruder ist einfach umgekippt.