Fünf Tage vorher

Draußen rauschte der Verkehr auf der Makarios Avenue vorbei, die Motorroller knatterten laut. Und hier drinnen stand Sofia auf einem Podest, an der Decke war das indirekte Licht so angebracht, dass es nur sie war, die strahlte – sozusagen am Ziel ihrer Träume.

An der Decke des Geschäfts hingen zwei weiße Kronleuchter, die Tapeten waren aus einem goldenen Brokatverschnitt, und doch wirkte alles so provisorisch, als könne die Inhaberin es in zwei Stunden zusammenpacken, um aus dem Brautmodengeschäft einen Souvlaki-Grill zu machen.

Aber noch war der Laden, was er war – und insgesamt drei Bräute in weißen Kleidern schienen über allem zu schweben. Die beiden Schaufensterpuppen, deren Kleider so ausladend waren, dass sie aussahen wie die Debütantinnen beim Wiener Opernball – und Sofia, die in einem ganz ähnlichen Kleid aus rosafarbenem Damast mit einer langen strassbesetzten Schleppe auf dieser Empore stand.

Ihre Mutter saß zu ihren Füßen, sie hatte schon kurz nach Betreten des Geschäfts begonnen, ihre Jahresreserve an Taschentüchern vollzuweinen und sich vom angebotenen Schaumwein selbsttätig nachzuschenken. Sie hatte noch kein Wort gesagt, nickte nur immerzu, trank und schluchzte abwechselnd, Sofia hätte wahrscheinlich auch einen

Ganz im Gegensatz dazu stand die andere Frau, die wie eine angestochene Tarantel durch den Raum jagte, Sofia im Zehnsekundentakt umrundete und nicht aufhörte, abwechselnd an Schleppe und Kleid herumzuzuppeln. Sie trug ein goldfarbenes Kostüm, dessen oberster Knopf von ihrem ausladenden Busen malträtiert wurde. Schon beim Betreten des Geschäfts hatte sie die überaus freundliche Inhaberin auf die stille Treppe bugsiert und die Auswahl der Kleider an sich gerissen. Deshalb stand Sofia nun in diesem Traum von einem Bonbon in der Mitte des Raumes und fühlte sich wie die Giraffen, die im Zoo von Paphos mit Blättern gefüttert wurden.

Die wilde Dame war Carls Mutter, Mrs Martha Evans, die gefürchtete Queen der Londoner High Society, die in ihrem Leben exakt keinen Tag gearbeitet hatte, dafür aber mit ihren unzähligen Clubmitgliedschaften, Benefizaktionen und Tea-and-Scones-Kränzchen beinahe im Alleingang das Vermögen der Familie durchbrachte.

Sie hatte auch den Brautladen für den heutigen Tag ausgewählt, indem sie in der britischen Botschaft angerufen hatte, um sich beim Botschafter persönlich nach dem besten Geschäft zu erkundigen. Allerdings war der Botschafter ein sechzigjähriger Schwuler, der einem Brautgeschäft in seinem Leben so nah gekommen war wie dem Giraffenhaus im Zoo von Paphos, und so standen sie nun in diesem Laden inmitten der Innenstadt von Limassol, der Constantina Wedding Dress hieß – ausgerechnet Constantina –, es war ihr, als hätte Adonis’ Gattin gleichen Namens ihr Kleid genäht.

»Dreh dich doch mal, Darling«, rief Martha immer wieder, und obwohl sich Sofia der Aufforderung verweigerte, weil ihre Schwiegermutter in spe sie längst vollständig umrundet

»Liebe Martha«, begann Sofia, doch Martha unterbrach sie sofort: »Sag jetzt nichts, Kindchen, ich weiß, es ist ein teures Kleid, aber ich werde es übernehmen. Wirklich. Kein Problem. Du weißt doch: Für dich ist mir nichts zu teuer. Und ihr Zyprioten mit dieser Wirtschaftskrise, wir kriegen die Hochzeit doch hier fast geschenkt. Stell dir vor, wir hätten sie in den Cotswolds organisieren müssen, herrje, da wäre Carl aber arm in die Ehe gegangen.«

Ihr hohes Lachen klang durch den Raum, und Sofia machte sich ernsthaft Sorgen um die Kronleuchter.

»Ähm, Sofia, Schätzchen«, sagte ihre Mutter leise, und ihre Tochter fragte sich, ob sie schon einen leichten Schwips hörte – andererseits: Das halbe Jahr in Eriwan hatte ihre Eltern in Sachen Alkoholkonsum bestens abgehärtet. »Es ist ganz und gar formidable«, fuhr sie mit überraschend fester Stimme fort. In ihrer Zeit als Botschaftergattin in Paris hatte sie sich einige französische Ausdrücke angewöhnt, die sie fortwährend in ihre englischen oder griechischen Sätze einstreute, »und doch würde ich noch eines anprobieren – jetzt, wo wir schon mal hier sind und das Ganze ein großer Spaß ist.« Sie zwinkerte ihrer Tochter zu, und die verstand. Ihre Mutter war genial. Sie hatte gemerkt, wie schrecklich Sofia diese Bonbonrobe fand, und hatte zugleich der nervigen Mrs Evans ein Kompliment für ihre Anprobe gemacht – das war mal wieder gelebte Diplomatie.

»Eine phantastische Idee, meine Liebe«, rief Martha Evans und winkte sofort die Inhaberin herbei, die dienstbeflissen herbeilief.

»Ein anderes Kleid, nun los doch!«, fauchte Martha, und

»Bitte, kommen Sie«, bat die Inhaberin und führte Sofia wieder in die heiße und stickige Umkleidekabine. »Sie haben aber eine reizende Schwiegermutter«, sagte sie in umständlichem Englisch.

»Wir können gerne griechisch sprechen«, sagte Sofia schnell, »und Sie können mir auch die Wahrheit über meine künftige Schwiegermutter sagen, denn die spricht nur Englisch – und: Ja, sie ist wirklich reizend überdreht.«

Sofort zwinkerte ihr die Inhaberin verschwörerisch zu und lachte: »Na, da bin ich aber froh. Aber hier auf Zypern sagt man: Je schlimmer die Schwiegermutter, desto besser der Ehemann. Von daher dürfen Sie sich freuen«, sie machte eine Geste zum Himmel, »Ihr Zukünftiger muss ja ein Engel auf Erden sein.«

»Das ist er«, sagte Sofia und dachte an Carl, an seine Eleganz, sein gutes Aussehen und seinen Erfolg. Den anderen Gedanken, der sie gleich darauf ereilte, verdrängte sie schnell wieder.

»Also, ich hatte vorhin gar keine Zeit, mich vorzustellen, mein Name ist Constantina – wie der Laden. Und jetzt sagen Sie mir doch mal, was für ein Kleid Sie wollen – dann hole ich es sofort, und Sie müssen nicht wie eine aufgeplusterte Rose zu Ihrer Hochzeit gehen, einverstanden?«

Sofia war gleich Feuer und Flamme – vielleicht würde das hier ja doch noch eine traumhafte Anprobe werden. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und suchte in ihrer Galerie nach dem Foto, das sie extra vorbereitet hatte.

»Hier, sehen Sie?« Die Verkäuferin nickte und lächelte.

»Zu mir kommen viele und zeigen mir Prinzessinnen mit ihren Hochzeitskleidern. Sagen wir, es ist nur in den

Sofia nickte, und schon war die Frau verschwunden, kam gleich darauf mit einem Kelch wieder und reichte ihn ihr. Dann schloss sie den Vorhang und eilte davon. Sofia war allein. Sie prostete sich selbst zu und atmete tief durch. Sollte es wirklich wahr werden? Das alles?

Carl Evans. Einer der begehrtesten Junggesellen Englands. Sie hatte ihn in einem angesagten Club in Shoreditch kennengelernt, als sie am Londoner King’s College ihr Politikstudium zu Innerer Sicherheit und Terrorabwehr absolviert hatte. Der junge Mann mit dem leicht geöffneten weißen Hemd und der teuren Armbanduhr war ihr gleich aufgefallen. Er hatte sie den ganzen Abend von der Bar aus angelächelt. Irgendwann war sie es gewesen, die den ersten Schritt gemacht hatte. Es folgten Dates in angesagten Restaurants, für die Normalsterbliche ein Jahr im Voraus ihren Tisch reservieren mussten – Carl Evans aber hatte immer am selben Abend Erfolg. Das wiederum war sicher ein Erfolg, der von der londonweiten Furcht der Restaurantbesitzer vor seiner Mutter Martha herrührte.

Er hatte jedes Mal heftig um Sofia geworben, doch sie hatte ihn zappeln lassen. Zwei Wochen später hatte er sie in einem alten Aston Martin, dem Wagen seines Vaters, wie sie später herausfand, nach Cornwall eingeladen, dort hatten sie in einem schicken Hotel am Strand zum ersten Mal die Nacht miteinander verbracht. Hinterher war beiden klar, dass sie nun ein Paar waren. Anderthalb Jahre ging das so, bis Sofia ihr Studium beendet hatte und dem Ruf ihres Vaters gefolgt war, der ihr vorgeschlagen hatte, sich für eine hohe Position im zypriotischen Innenministerium zu bewerben. Die Rückkehr auf die Sonneninsel kam Sofia gerade recht, weil sie die

Sie erinnerte sich schmerzhaft an die Ankunft auf dem sonnendurchfluteten Airport von Larnaka. An die E-Mail, die sie auf ihrem Handy vorfand – und die alle Gewissheiten der Sofia Perikles von jetzt auf gleich durcheinanderwirbelte. Trotz ihres Studiums hatte sie nämlich der heimischen Politik keine rechte Beachtung geschenkt. Doch bei den Parlamentswahlen hatten sich statt der Konservativen die Kommunisten durchgesetzt. Das betraf zuerst mal ihren zutiefst konservativen Vater, der auf dem Ticket seiner Partei eine beeindruckende Diplomatenkarriere hingelegt hatte – aber nun wurde er von den verhassten Kommunisten vom glamourösen Paris ins abenteuerliche Eriwan geschickt, der Hauptstadt Armeniens. Doch all die alten Feinde ihres Vaters machten auch vor Sofias Karriereplanung nicht halt – auf Zypern galt noch Sippenhaft. So fand sie sich auf Geheiß des neuen Innenministers nicht in einem klimatisierten Büro in der Hauptstadt Nikosia wieder, sondern sprichwörtlich am Ende der Welt: als Junior Officer der Dorfpolizei von Kato Koutrafas. Einem Kaff, das an einer staubigen Landstraße im Inselinnern lag, kurz vor der Pufferzone und damit kurz vor der Grenze in den türkisch besetzten Norden, der für die richtigen Zyprioten nicht mal existierte. Gleich ihr allererster Fall am Ende der Welt brachte Sofia nicht nur in echte Lebensgefahr. Er brachte sie auch um ihren Schlaf und um jegliche Freizeit. Als sie sich drei

Doch das Happy End sollte erst noch kommen: Eine Woche nach der Festnahme der Täter trafen sich alle – Polizisten, Angehörige, Zeugen – zu einem feierlichen Abendessen am Strand von Pissouri. Und plötzlich kniete Carl Evans im Sand nieder und machte ihr, Sofia Perikles, den Antrag. Was dann kam … Sofia schüttelte den Kopf und kniff schnell die Augen zu, als könne das helfen, die Bilder dieses Moments zu verscheuchen.

Doch nun war es so weit: In neun Tagen würden sie heiraten. Dass sie ewig kein Kleid ausgesucht hatte, schob Sofia darauf, dass sie auf ihre Mutter und – gottlob – auch ihre Schwiegermutter warten wollte, die erst für die Hochzeitsvorbereitungen auf die Insel kamen. Seit einer Woche waren sie nun im Vollstress und hatten den Besitzer der Hochzeitslocation schon nah an die Einweisung in eine Psychiatrie gebracht – Martha Evans wollte auch noch die kleinste Blütendekoration besprechen.

Während die Trauung in der kleinen anglikanischen Kirche Saint Barnabas in Limassol stattfinden sollte, hatte die Familie Evans für die Feierlichkeiten deutlich größere Geschütze aufgefahren. Sie konnte gar nicht glauben, was für eine Location Carls Eltern gebucht hatten – und doch war Sofia auch ein wenig stolz auf das ganze Tamtam. Schließlich galt all das ihr – natürlich nur, wenn man die Geltungssucht der Schwiegermutter außer Acht ließ.

Doch sie hatte sich längst entschieden, dass dieser große Tag

Eigentlich hatte sie, Sofia, sich in ihren Träumen immer an der Seite von Prinz Harry gesehen, aber so konnte sie sich ihrem Traummann zumindest bei der Hochzeit nah fühlen. So ein Kleid brauchte sie – auch wenn nicht klar war, ob sie hier auf dieser Insel auch nur annähernd so etwas Schönes zustande brächten.

Der Vorhang öffnete sich unvermittelt, und die Verkäuferin trat ein – ihr verschwörerischer Blick sagte Sofia, dass sie in ihr nunmehr eine Komplizin hatte. Sie reichte ihr auf einem Bügel das schneeweiße Kleid, und als die junge Polizistin es erblickte, korrigierte Sofia sich: Constantina war nicht nur ihre Komplizin, sie war ab sofort ihre Freundin. Ihre beste Freundin.

»Ich helfe Ihnen, kommen Sie.«

Sie befreite Sofia von dem rosafarbenen Desaster und half ihr in das neue Kleid. Sofia zog es über den Kopf, und die Inhaberin musste nichts weiter tun, als den Reißverschluss auf der Rückseite zu schließen. Der Blick der beiden fiel in den Spiegel, weil die Umkleidekabine zu klein war, um ein Gesamtbild zu bekommen – und dann: war Stille. Atemlose Stille. Sie beide schauten sprachlos Sofia an, die in diesem Moment wahrhaftig zu einer Prinzessin geworden war.

»Los, gehen wir hinaus«, sagte Constantina und zog schon den Vorhang auf, Sofia trat noch in dem Nebenraum auf den kleinen Laufsteg und ging gemessenen Schrittes und voller Aufregung in den Hauptraum, es war so leise, dass sie die nicht vorhandene Stecknadel im Kleid hätte hören können.

Sie ging bis an den Rand des Podests, dann drehte sie sich einmal um die eigene Achse, und erst dann – weil sie bisher den Blick gehoben hatte – sah sie ihre Mutter, der der Mund offen stehen geblieben war, und in ihren Augen lag alles: Stolz, Rührung, Unglauben, oder vielmehr Glauben an eine höhere Kraft, die ihr dieses Wunder hier präsentierte. Die Tränen folgten gleich darauf, und sie griff schnell nach den Taschentüchern, ein tiefes Lächeln auf dem Gesicht.

Sofia drehte sich noch einmal, sodass sie sich selbst in der riesigen Spiegelwand sehen konnte, und sie fasste es immer noch nicht: Sie hatte sich noch nie so gut, so glamourös, aber auch so bei sich gefühlt.

Das schneeweiße Kleid schmiegte sich an sie wie eine zweite Haut, es fuhr ihre Körperlinie entlang, saß perfekt am Bauch und glitt dann lang und glatt ihre Beine entlang. Ja, sie sah aus wie eine Prinzessin, aber eben nicht mehr – wie früher als Kind erträumt – wie eine Märchenprinzessin, sondern wie eine selbstbewusste, tatkräftige, zupackende Prinzessin, die mitten im Leben stand – so wie sie heute gesehen werden wollte und sich an guten Tagen auch selber sah.

Sie hatte beim Anblick der Braut Sofia im Spiegel ganz vergessen, wo sie sich befand, bis sie das bekannte Räuspern hörte, Marthas Räuspern. Ihre Schwiegermutter, die in den

Sofia konnte nicht sagen, ob es erst in diesem Moment passierte oder ob sich die unangenehme Wärme schon vorher verbreitet hatte, Sekunden oder gar Minuten vorher. Sie spürte nur, wie das Bändchen um ihren Nacken immer enger wurde und der Reißverschluss an ihrem Rücken zerrte und der Stoff am Bauch ihr den Atem nahm. Sie sah, wie sich das Gesicht ihrer Mutter zu einer sorgenvollen Miene verzog, sie sah Martha Evans vor sich, die auf sie zueilen wollte, um wieder an ihr herumzuzuppeln, und irgendwie war sie in diesem Moment wieder am Strand, kurz nach dem Antrag, denn sie sah sein Gesicht, sein schönes, freundliches, liebevolles Gesicht – und gerade, als sie versuchte, sich irgendwie den Reißverschluss zu öffnen, weil sie keine Luft mehr bekam, stöhnte sie noch kurz auf: »Lasst mich raus hier, raus hier …«, und dann schwanden Sofia Perikles die Sinne.