Plötzlich allein: Zu Beginn der Phase des Alleinerziehens ist das Gefühl von Gemeinsamkeit keines, das sich häufig einstellt. Im Gegenteil. Sind die Kinder klein, wurde man vom Partner oder der Partnerin verlassen oder hat sich getrennt, muss man vielleicht nach einer neuen Wohnung suchen, eine Arbeit aufnehmen, das Leben neu arrangieren. Diese Etappe ist zweifellos eine, in der man sich allein fühlt. Oftmals überfordert. Den Herausforderungen nicht gewachsen. In der gleichen Zeit, in der man seine eigenen Emotionen verarbeiten muss, die Angst vor dem, was kommen mag, und den Verlust dessen, was man hatte, gilt es, die Emotionen des Kindes oder der Kinder aufzufangen. Es ist eine Zeit, die viel Kraft kostet. Eine Zeit, die im wahrsten Sinne des Wortes prekär ist, vom französischen précaire: unsicher, schwankend, widerruflich. Alles steht vermeintlich kopf.
Vielleicht ist diese Phase des Lebens, diese Phase des Umbruchs, des Chaos, des Neufindens genau jene, die die Gesellschaft auch später – wenn sich die Dinge wieder beruhigt, eine neue Form angenommen haben – oft von Alleinerziehenden zeichnet: überfordert, allein, ausgegrenzt. In dieser Phase entstehen Bilder und Mythen, die Alleinerziehenden auch später immer wieder begegnen. Mit Kindern, die außer Rand und Band sind. In einer Situation, die keine Ordnung vermittelt, keine Basis für ein gutes Leben. Eine aufgelöste Lage, die voller Neuanfänge, voller neuer Wege ist, die beschritten werden müssen.
Aber: Es handelt sich dabei um eine Ausnahmesituation, in der sich Alleinerziehende nach einer Trennung befinden, besonders, wenn das Kind oder die Kinder recht klein sind. Es ist keine Situation, die anhalten muss. Ein Netzwerk aus Freunden, Familie und Beratungsstellen kann in dieser Phase helfen, in der man sich unsicher und überfordert fühlt. In der alles zu viel zu sein scheint: die eigenen Emotionen und die der Kinder, die Vorstellungen und Ängste über die Zukunft, der schmerzvolle Blick auf das, was man sich erhofft hatte – und auch die Geschichten und Gerüchte, die man gehört hat, von verarmten, vereinsamten Alleinerziehenden. Es hilft, sich dagegen zu wappnen und zu stärken. Indem man sich austauscht, indem man mutig neue Wege einschlägt.
Plötzlich allein: Es ist ein Lebensabschnitt, in dem fast jede und jeder Alleinerziehende lernt, auf eigenen Füßen zu stehen. Lernen muss, dass da niemand ist, an den man sich vermeintlich lehnen kann. Eine Phase, in der man ständig das Gefühl hat, nicht zu genügen. Irgendetwas zu vergessen. Irgendetwas nicht zu schaffen. Man ist verletzt, man sucht nach sich selbst. Und auch wenn man in der Beziehung zu der Erkenntnis gelangt ist, dass man lieber allein sein möchte, schützt das nicht vor dem Schmerz der Trennung. Man muss ihn trotzdem durchlaufen, auch wenn man alles schon für sich geklärt hat.
Im Rückblick gibt es fast in jeder Paarbeziehung Dinge, die man mit einer rosaroten Brille betrachten kann. Momente, die einem plötzlich so wichtig und schön erscheinen. In denen man Gemeinsamkeit geteilt hat. Und sei es nur, zusammen auf dem Sofa gesessen zu haben. Für eine Zeit lang war man mit einer anderen Person sehr eng verbunden. Und selbst wenn man sich im vollen Bewusstsein trennt und überzeugt ist von der Entscheidung, so entsteht durch eine Trennung meist auch ein körperlicher Schmerz. Der eigene Körper vermisst den anderen Körper. Dem er so nahe war. Dessen Körpernischen und Falten er kannte, dessen Umarmung Vertrauen schenkte, Sicherheit. Eine Trennung hinterlässt eine leere Stelle. Eine leere Stelle, die neu gefüllt werden muss, eine Wunde, die verheilen muss. Das braucht Zeit.
Als die britische Autorin und Künstlerin Hannah Black sich nach ihrer Trennung zwingen musste, überhaupt zu essen, schrieb sie, ihr sei in den Monaten danach klar geworden, dass sie mit ihrem Partner ein besseres Paar geworden war, als sie es sich überhaupt hatte vorstellen können. »Ich war so erfolgreich ein Paar geworden, dass ich vergessen hatte, wie man eine Person ist.«1
Mein Mann und ich haben viele Jahre lang versucht, ein Paar zu bleiben, eine Familie. Doch manchmal reicht die Gemeinsamkeit, die man hat, nicht aus, um einen durch die herausfordernde Zeit der Kindererziehung zu tragen. Nach zehn gemeinsamen Jahren und drei Kindern trennten wir uns, trennte ich mich von ihm. Da waren unsere Zwillingssöhne gerade in die Schule gekommen, unsere Tochter besuchte die 3. Klasse der Grundschule. Ich habe mich mehr oder weniger bewusst dafür entschieden, es allein – solo – zu wagen. Und auch wenn zum Zeitpunkt der Trennung noch nicht klar war, dass daraus auch ein großes Glück erwachsen konnte, so fühlte sich die Trennung für mich richtig an. Obwohl es eine Zeit war, in der vermeintlich alles kopf stand.
Nach einer Weile läuft das Leben wieder geordneter. Gelangt in neue, andere Bahnen. Ist die Phase der Ausnahmesituation vorüber. Und damit auch die Zeit, in der man sich wirklich allein fühlte. Denn es dauert meist nicht lange, da lernt man Mütter und Väter in ähnlichen Situationen kennen. Findet Zeit und Muße für gemeinsame Unternehmungen. Für Urlaube. Für Feste. Für den Austausch. Der Begriff Familie wird gedehnt und gestreckt, bis er Freundinnen und Freunde, mit und ohne Kinder, alleinerziehend oder in einer Paarbeziehung, mit einbezieht.
Schon vor unserer Trennung hatte ich viele Alleinerziehende in meinem Bekanntenkreis, nun verstärkten sich die Kontakte. Wir befanden uns in ähnlichen Situationen, kannten viele der Sorgen und Nöte. Der Austausch bestärkte und führte dazu, dass wir uns nicht mehr als vollständig alleinerziehend verstanden. Es gab Frauen (und einige Männer) in ähnlichen Konstellationen. Woraus sich ein neues Netz wob. Es ist wahr, dass man ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind zu erziehen. Und vielleicht gibt es dieses Dorf, wenn man nur genau hinschaut. Vielleicht gibt es dieses Dorf immer: in Form von Freunden und Erzieherinnen, in Form von anderen Müttern, Vätern und Kindern – nicht nur auf dem Spielplatz. In Form von Lehrerinnen und Bademeistern, in Form von Nachbarn und Großeltern, Tanten, Onkeln, Schwägerinnen, Patentanten und -onkeln, in Form von Trainern und Ballettlehrerinnen. Bald spielen die Freunde der Kinder und deren Familien eine immer größere Rolle. Vielleicht ist es eine Illusion zu glauben, man würde sein Kind allein erziehen. Auch in einer Großstadt wie Hamburg.
Und auch wenn man alleinerziehend ist, ist der Vater der Kinder in den seltensten Fällen vollständig verschwunden. Manche Väter kümmern sich an jedem zweiten Wochenende um die Kinder. Manche häufiger. Manche reisen mit ihren Kindern in den Urlaub – was dazu führen kann, dass manche Kinder Alleinerziehender viel mehr im Urlaub sind als ihre Freunde mit ungetrennten Eltern. Manche Eltern finden nach einer Trennung auf neuer Basis wieder zusammen. Sind befreundet. Manchmal sogar – wenn es sie denn gibt – mit den neuen Partnerinnen oder Partnern. Manche Väter springen ein, wenn jemand krank ist.
Dieses Netz, das sich nach der Trennung neu bildet, ist ungemein wichtig. Nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Mütter und Väter. Denn es schützt vor Einsamkeit. Einem, wie der Autor Daniel Schreiber in seinem Buch Allein schreibt, »ernst zu nehmenden seelischen Schmerz, der mit einem eklatanten Bedeutungs- und Selbstwertverlust einhergeht, mit Empfindungen von Scham, Schuld und Verzweiflung«.2 Zu wissen, dass im Notfall jemand da ist, der einspringen kann, und sollte dieser Fall auch nie eintreffen, vermittelt Sicherheit. Denn auch wenn man ein großes Netzwerk hat und auch wenn man sich von der Illusion getrennt hat, sein Kind allein zu erziehen, bleibt doch die Verantwortung. Das Gefühl, am Ende, wenn es drauf ankommt, selbst die Verantwortung zu tragen. Niemand kann einem den Gang zur Schule abnehmen, wenn das Kind Mist gebaut hat und man mit der Lehrperson sprechen muss. Niemand anders als man selbst ist konstant dafür zuständig, dass eine warme, gesunde Mahlzeit auf den Tisch kommt. Niemand anders als man selbst kann ein Kind bei einer Krankheit oder Verletzung ins Krankenhaus begleiten. Doch auch wenn die Verantwortung, die man trägt, nie verschwindet, sondern eine ständige Begleiterin ist, so hilft das Netz, dieses Gefühl, das zuweilen brutal und belastend sein kann, abzuschwächen.
Das Gefühl der Verantwortung ist besonders in der Vorstellung unerträglich, nicht mehr für das Kind oder die Kinder da sein zu können. Ein Gefühl, das der mexikanische Filmregisseur Alejandro González Iñárritu wie kein Zweiter in dem Drama Biutiful eingefangen hat. Als der alleinerziehende Vater Uxbal, gespielt von Javier Bardem, der sich als Kleinkrimineller in Barcelona über Wasser hält, von seiner Krebserkrankung erfährt und davon, dass er nur noch wenige Wochen zu leben hat, bricht für ihn alles zusammen. Wohin mit seinen beiden kleinen Kindern, die noch zur Schule gehen? Zu ihrer Mutter können sie nicht, sie ist alkoholabhängig, leidet an einer bipolaren Störung und misshandelt den Sohn. Sie wird sich nicht um die Kinder kümmern können. Fieberhaft sucht er nach einer Lösung, und bis zuletzt ist es nicht sicher, ob er wirklich eine gefunden hat. Man ahnt, dass es eine Frau geben könnte, die sich dafür entschieden hat, sich der Kinder anzunehmen. Man hofft es für die Kinder, aber auch für den Vater, der im Sterben liegt.
Laut amtlicher Definition sind Alleinerziehende Mütter oder Väter, die ohne Ehe- oder Lebenspartner:in mit minder- oder volljährigen Kindern in einem Haushalt zusammenleben. Es gibt viele verschiedene Weisen, alleinerziehend zu sein. Manche Frauen haben schon bei der Geburt ihres Kindes keinen Partner. Sei es, dass nie eine Beziehung zum Kindsvater bestand, sei es, dass das Kind die Folge einer einzigen intensiven Nacht ist oder einer Affäre. Es gibt Frauen, die ganz für sich entscheiden – oft mithilfe einer Samenspende – Mütter zu werden. Manchmal hat sich ein Paar schon vor der Geburt des Kindes wieder getrennt. In manchen Fällen stirbt ein Elternteil. Oft trennt sich ein Paar nach ein paar Jahren Gemeinsamkeit. Hat sich die Liebe aus dem Alltag verflüchtigt, ist sie nicht den Anforderungen an eine Paarsituation mit Kind oder Kindern gewachsen. Manche Paare trennen sich hochgradig verletzt und tragen einen erbitterten Streit aus – oft auf den Rücken der Kinder, manchmal bis vor Gerichte. Andere können die Trennung in Ruhe regeln. Vielleicht streiten auch sie immer mal wieder, haben sich aber grundsätzlich darüber geeinigt, wie sie getrennte Wege gehen wollen. In manchen Fällen führt das zu einem Wechselmodell, in dem die Kinder zwischen zwei Wohnungen tage- oder wochenweise hin- und herpendeln. In der Mehrzahl aber bleiben die Kinder nach einer Trennung bei der Mutter. Was vielleicht nicht verwunderlich ist, da es ja auch zuvor schon meist die Mütter waren, die sich überwiegend um Haushalt, Erziehung und die familiäre Ordnung gekümmert haben.
Das Leben mit Kindern, das Leben als Mutter oder Vater bedeutet ständige Veränderung, ein ständiges Wachsen. Von dem Tag an, an dem sie geboren werden, befindet man sich in einer Beziehung mit ihnen. Diese Beziehung lebt, sie ist konstantem Wachstum und ständiger Veränderung unterworfen. Man ist eine andere Mutter, wenn die Kinder unselbstständige Säuglinge und vollständig auf einen angewiesen sind, als eine Mutter von Kindergartenkindern, die ihre eigene Welt entdecken wollen. Anders als Mutter von Schulkindern, die Unterstützung brauchen und lernen, auf eigenen Füßen zu stehen. Anders als Vater von Teenagern, die auch mal Antrieb brauchen und aus ihrer Lethargie gescheucht werden müssen und an anderer Stelle jemanden brauchen, der sie und ihr Gefühlschaos wieder einholt, wenn dies vielleicht mitten in der Nacht, nach einer Party, auf der vielleicht Alkohol im Spiel war, ausbricht.
Man ist nicht nur eine Mutter oder ein Vater, sondern eine Vielzahl von Müttern oder Vätern, die man einsetzen muss, je nachdem, in welcher Situation man sich gerade befindet und mit welchem Kind man sich gerade austauscht. Man ist einem konstanten Prozess unterworfen. Manchmal hängt man sich dabei selbst hinterher, stößt auf Unverständnis, wenn man beispielsweise für Essen plädiert, das gestern erst noch – oder? – das Lieblingsessen war und nun nicht mehr gegessen werden mag – wie die Hose oder der Pullover, die plötzlich und ohne Vorwarnung auf gar keinen Fall mehr angezogen werden können. Und manchmal eilt man sich selbst voraus, wenn man feststellen muss, dass die Kinder, die es gerade noch überflüssig fanden, gemeinsam an einem Abendbrottisch Platz zu nehmen, einen fragen, warum man schon wieder abends nicht zu Hause ist. Diesen Prozess durchlaufen Elternpaare genauso wie Alleinerziehende.
Auch die Kinder verändern sich ständig. Nicht nur wachsen sie und werden groß. Entwickeln eigene Vorstellungen und Gedanken. Knüpfen eigene Bande. Finden Freund:innen. Breiten den Bewegungsradius in einer konstanten Weise aus. Vom ersten Mal allein in den Garten gehen und einen Schneemann bauen über zum ersten Mal allein zum Spielplatz gehen bis hin zum ersten Mal allein mit dem Fahrrad zur Schule fahren, dem ersten Mal einen Freund alleine besuchen. Ein Play-Date ganz ohne Mami, und dann irgendwann nachts mit der U-Bahn von einer Party oder einer Freundin aus einem weit entfernten Stadtteil allein nach Hause fahren. Allein einen Zug oder ein Flugzeug besteigen und wegfahren oder -fliegen. Von abhängigen Wesen entwickeln sich Kinder unentwegt in die Selbstständigkeit. Weswegen Kinder zu haben, auch bedeutet, sich in einem konstanten Prozess der Abnabelung zu befinden. Einem Prozess, in dem man eher selten wirklich allein ist. Ja, ein Prozess, an dessen Ende, wenn die Kinder endgültig auf eigenen Füßen stehen, vielleicht als dunkle Ahnung steht, dass man dann, wenn die Kinder ausgezogen sind, vielleicht wirklich allein sein könnte. Niemanden haben wird, mit dem man in den Urlaub fährt, mit dem man zu Abend essen wird, mit dem man Unsinn im Fernsehen schaut. Aber vielleicht ist auch das eine Illusion. Bis dahin gilt: Die Zeiten im Leben einer Mutter, zu denen sie allein ist, sind höchst selten.
Ein paar Monate nach der schlimmsten Phase der Pandemie, nach Lockdown und geschlossenen Schulen, fuhr ich mit dem Zug aus beruflichen Gründen mal wieder nach Berlin. Hinter mir lag eine lange Phase, in der ich mich kaum von einem Ort zum anderen bewegt hatte. Eine Phase, in der ich vorwiegend zu Hause gewesen war. Auch ohne Pandemie gibt es solche Phasen, in denen einem das Alter der Kinder oder die Aufgaben zu Hause nicht die Möglichkeit geben, einfach mal in den Zug zu steigen und woanders hinzufahren. Ich hatte nur einen Termin am späten Nachmittag. Und gönnte mir ein wenig Zeit. Ich stieg aus dem Zug, kaufte mir ein Sandwich und einen Kaffee, setzte mich auf eine Bank in die Sonne. Beobachtete die Menschen um mich herum, am Ufer der Spree unweit des Regierungsviertels. Eine seltsame, süße Leichtigkeit hatte sich meiner bemächtigt. Es dauerte eine Weile, bis ich das Gefühl verstehen konnte. Es war weder die Fahrt nach Berlin noch der nahende Frühling oder die Lektüre im Zug. Ich verstand: Ich war allein. Ein herrliches Gefühl der Freiheit und Unbeschwertheit. Ich konnte es nur kurz genießen. Bald klingelte mein Telefon, und eines der Kinder fragte, was es denn jetzt essen könne. Es habe Hunger.
»Being alone: that is the mother’s reasonable and functionally impossible dream«, schrieb Amanda Hess in der New York Times in einem Artikel, in dem sie beschreibt, wie Literatur und Film diesen Wunsch von Müttern verarbeiten, einmal allein sein zu wollen.3 Vom Wunsch, einfach einmal in Ruhe einen Kaffee zu trinken oder ein paar E-Mails zu schreiben, bis hin zu den sehr seltenen Müttern, die tatsächlich ihre Kinder verlassen, um sich in eine neue Liebe zu stürzen oder eine Karriere zu verfolgen. Es ist »praktisch ein unmöglicher Traum«, räsoniert Hess.4 Wenn Männer ihre Kinder verlassen würden, sei das nichts Außergewöhnliches. Wenn Frauen dasselbe tun, mache das aus ihnen Monster.
»Was sie nicht erklären kann, was sie nicht zugeben will, wobei sie sich nicht sicher ist, ob sie sich richtig erinnert: Wie sie ein plötzliches Vergnügen verspürte, als sie die Tür schloss und in das Auto stieg, das sie von ihrem Verstand, ihrem Körper, ihrem Haus und ihrem Kind wegbrachte,« erzählt die amerikanische Schriftstellerin Jessamine Chan in ihrem Debütroman The School For Good Mothers (zu Deutsch: Institut für gute Mütter).5 Frida Liu verlässt ihre Tochter, ein Kleinkind, für ein paar Stunden, um ins Büro zu gehen und in Ruhe E-Mails zu schreiben. Seit Tagen hatte sie zu wenig geschlafen, zuletzt, da ihre Tochter Harriet, die zur Hälfte bei ihrem Vater aufwächst, eine Ohrentzündung hatte. Die Nachbarn, die das Schreien des alleingelassenen Kindes hören, alarmieren die Polizei. Diese schalten den Kinderschutzdienst ein, welcher in den Tagen darauf Kameras in Fridas Wohnung anbringt. um all ihre Handlungen zu überwachen. Wenig später findet sie sich in einem Erziehungslager wieder, in dem Frida lernen soll, eine bessere Mutter zu werden. »Sie muss ihre Fähigkeit zu echten mütterlichen Gefühlen und Bindungen unter Beweis stellen, ihre mütterlichen Instinkte schärfen und zeigen, dass man ihr vertrauen kann.«6
Erst in den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, nach dem Zweiten Weltkrieg, entstand die Vorstellung, dass man als Familie in einer recht kleinen Einheit – Mutter, Vater, Kind oder Kinder – zusammenleben sollte. Zuvor hatte Familie über Jahrhunderte auch andere Menschen mit einbezogen. Mägde und Dienstmädchen, Großeltern und alleinstehende Tanten. Und auch heute gibt es unterschiedliche Arten von Familien. Familien, die aus zwei Müttern oder zwei Vätern und ihren Kindern bestehen. Pflegeeltern, Großeltern, die die Erziehung übernehmen. Adoptivmütter oder -väter mit einem oder zwei Kindern.
Wer aber mit Schulen und Ämtern, manchmal auch mit anderen Teilen der Gesellschaft zu tun hat, der bekommt bisweilen den Eindruck, alles, was von der Mutter-Vater-Kind-oder-Kinder-Variante abweiche, wäre geradezu abwegig. Warum braucht die Gesellschaft eine Norm, eine vorgeschriebene Ordnung? Warum kann sie nicht das Leben abbilden, das sich tatsächlich in ihr wiederfindet? Haben Männer Angst um ihre Macht? Oder hat die Gesellschaft Angst, sonst werde womöglich Chaos ausbrechen? Und was genau könnte damit gemeint sein? Darum soll es in den folgenden Kapiteln gehen.
Zunächst einmal aber möchte ich von einer Begegnung erzählen, die mir wie keine andere vor Augen geführt hat, mit welchen Ängsten die Vorstellung vom Alleinerziehen behaftet ist. Von vermeintlich abschätzigen Blicken der Gesellschaft, die etwas mit der Selbstwahrnehmung und einem Selbstbewusstsein zu tun haben, das ich erst erlernen musste. Durch sie ist mir klar geworden, dass die Situation von Alleinerziehenden keine ist, für die wir uns entschuldigen oder die wir verbergen sollten, sondern eine, die uns mit Stolz erfüllen sollte.