Kapitel 7

Begleiten Alleinerziehende ihre Kinder anders?

Was sich in den ersten gemeinsamen Jahren mit den Kindern herausschälte und noch viel mehr, als ich alleinerziehend wurde, war weniger ein großartiges Konzept als eine Haltung, die in einem Rahmen entstand und sich immer weiterentwickelte. Ich beobachtete meine drei so unterschiedlichen Kinder und mich selbst. Merkte, wo es müßig war, einzugreifen, und wo es unabdingbar war. Und da die Kinder fortwährend wuchsen und sich veränderten, änderte sich auch der Rahmen. Kinder brauchen Freiheit, um sich selbst entwickeln, selbst die Welt entdecken zu können, und sie brauchen zugleich Regeln, die sie schützen und ein gutes Miteinander gewährleisten.

Sich selbst in dieser neuen Situation zu vertrauen, ist vielleicht das Schwerste. Man war ja noch nie Eltern, man hat das nicht geübt. Die Unsicherheit wird auch von außen befeuert. Als Mutter von Kindern, die gerne zu dritt auf dem Zwillingskinderwagen herumturnten – zweimal brach die Achse und musste erneuert werden –, als Mutter von drei Kindern, die innerhalb von zwei Jahren auf die Welt kamen, als Mutter von Kindern, die vorzugsweise die gesamte Wohnung in ihr Kinderzimmer verwandelten und Bauklötze und Legosteine von der Eingangstüre bis in alle Zimmer verteilten, trifft man immer wieder auf Menschen, die ungefragt Ratschläge geben: Kinder sollten erst sehr spät schlafen gehen, damit sie morgens lange schlafen. Die erklären, was man alles falsch macht in der Erziehung: Das ist nicht gut für die Entwicklung der Füße, dass dein Kind im Sommer barfuß läuft. Und die selbstverständlich wissen, wie man es besser machen könnte: Warum setzt du deine Kinder nicht vor den Fernseher, wenn du aufräumen musst? Das entspannt sie.

Ein Freund von mir – Vater einer Tochter im Alter meiner Söhne – bekam eines Tages, da waren unsere Kinder vielleicht drei Jahre alt, einen wahren Tobsuchtsanfall, als er erfuhr, dass ich mit meinen Kindern nicht beim PEKiP-Kurs gewesen war, dem Prager Eltern-Kind-Programm. Jenem Kurs, in dem Kinder in ihrem ersten Lebensjahr splitterfasernackt in einem sehr warm aufgeheizten Raum spielerisch und motorisch gefördert werden sollen. Ich solle mich nicht wundern, so seine bedrohliche Aussicht, wenn meine Kinder später einmal motorisch nicht so fit sein würden. Und ob das mit der Entwicklung des Gehirns alles so klappen würde?

Bei einer anderen Gelegenheit wollte eine Bekannte mir und meinen Kindern eines Tages endlich zeigen, wie man ordentlich spazieren geht. Alle sollten sich an den Händen fassen. Stramm lief sie los. Kein Blick auf den Bürgersteig, wo es so viel Spannendes zu entdecken gegeben hätte. Steinchen und Gräser, Kanten, die zum Balancieren eingeladen hätten, Schnecken, die langsam über den Asphalt krochen. Pause gemacht wurde auf einem kleinen Spielplatz. Eine rostige Schaukel, eine in die Jahre gekommene Rutsche, auf der man nicht mehr richtig rutschen konnte. Bald entdeckten die Kinder das Areal hinter dem Spielplatz, durch das man herrlich laut kreischend rennen konnte. Bergauf und bergab, durchs hochstehende Gras.

Sich selbst vertrauen zu können, ist auch aus anderem Grund nicht so einfach. Weil man das mit der Kindererziehung zum ersten Mal macht, will man es natürlich besonders gut machen. Es ist ein Vorsatz, an dem man auch scheitern wird. Man wird Fehler machen. Man wird ungerecht handeln. Man wird überfordert sein, auch wenn man sich vorgenommen hat, nicht mehr überfordert zu sein. Und gerade wenn man nicht die überstrenge Mutter oder den autoritären Vater verkörpert, wird man festgesetzte Normen anderer Menschen verletzten. Denn natürlich werden die Kinder, frisch eingecremt nach dem Duschen, auf dem teuren Designersofa der Patentante turnen und fläzen, genauso wie man selbst – nicht darüber nachdenkend, dass die Creme dort Spuren hinterlassen wird. Und natürlich werden die Kinder genau dann nicht ruhig an der Kaffeetafel sitzen, wenn Tante und Onkel zu Besuch kommen. Gerade dann muss laut gebrüllt werden, der Saft umgeworfen, die Torte auf dem Teller mit einem Lachen zerfetzt werden. Und auf jeden Fall muss in dem Bekleidungsgeschäft, in dem man sich dringend eine neue Hose kaufen will, Verstecken zwischen Regalen und Kleiderständern gespielt werden, bis ein völlig aufgelöster Mitarbeiter herangeeilt kommt und fordert, dass dieses Verhalten sofort einzustellen sei.

Und auf jeden Fall wird man, völlig entnervt, eines Tages mitten in der Stadt/im Park/im Auto seine Kinder einfach anbrüllen, weil man kein Krümelchen Energie mehr übrig hat. Weil alle Energie verschlungen wurde vom ständigen Ermahnen, Beruhigen, liebevollen Ermuntern. Nein, wir fahren nicht mehr lange, wir sind gleich da. Nein, wir haben keine Gummibärchen mehr, aber es gibt noch geschnittene Äpfel. Kannst du bitte deine Füße aus meinem Rücken nehmen und nicht ständig gegen den Sitz hauen? Nein, wir können Bibi Blocksberg/Käpt’n Sharky leider nicht noch einmal anhören.

Was wirklich hilft, sind andere Menschen, die man treffen oder anrufen kann – auch wenn das Kind gerade auf einem rumturnen mag und es richtig doof findet, dass man ausgerechnet jetzt telefonieren muss. Nicht nur das Netzwerk von Freund:innen, sondern auch Kinderärzt:innen und Menschen in ähnlichen Situationen. Was tun, wenn das Kind ohne Grund schreit oder merkwürdige Flecken hat? Wirklich, das ist schon wieder Scharlach? Hatte mein Kind das nicht erst vergangenes Jahr? Was mache ich, wenn mein Kind partout kein Ei oder keine Tomate essen mag? Warum muss es so viel Zeit an seinem Handy verbringen? Schläft euer Teenager auch nach der Schule immer ein? Ist diese Schulter, die so merkwürdig herunterhängt, wirklich ein gebrochenes Schlüsselbein?

Die Kindheit der eigenen Kinder ist voller bedrohlicher Schockmomente. Der erste Fieberkrampf, der erste bellende Pseudokrupp-Husten auf dem nächtlichen Balkon, das erste Fieber, das über 40 Grad klettert. Ständig muss man Wunden versorgen, Beulen kühlen, darf nicht vergessen, dass die Zahnfee nachts wiederkommen muss, weil ein weiterer Zahn rausgefallen ist. Und was für ein hilfloses, schreckliches Gefühl, wenn ein Kind wirklich krank ist. Wenn man mit einem Säugling im Krankenwagen sitzend mit Blaulicht und Verdacht auf eine schwere Lungenentzündung zum Krankenhaus düst, während die anderen beiden noch kleinen Kinder bei der Kinderärztin auf ihren Papa warten. Wenn der winzige Finger an ein Gerät angeschlossen wird, das den Sauerstoffgehalt im Blut überwacht und laut piept, wenn es einen bestimmten Wert unterschreitet. Gut, wenn man Menschen in seiner Umgebung weiß, auf die man sich verlassen kann. Dies gilt für alleinerziehende vielleicht noch mehr als für gemeinsam erziehende Eltern. Es ist wichtig zu wissen, dass es im Notfall oder auch bei einfachen Fragen Menschen gibt, die da sind und vielleicht sogar in einer ähnlichen Situation stecken.

Immer wieder traf ich in den vergangenen Jahren auf Frauen – kein einziger Mann ist mir in Erinnerung –, die mir schwesterlich zugewandt waren. Die mich oft nicht mit Worten, doch mit Blicken, mit einer sanften Berührung, einem Streichen über dem Rücken, einer Hand auf dem Arm beschworen, dass ich das schaffen konnte. Die mir einen wissenden Blick zuwarfen, wenn ich vollständig entnervt war, der mir sagte, dass es irgendwann wieder besser werden würde. Neben uns wohnte bis zu ihrem Tod eine ältere Nachbarin, die die Kinder ins Herz geschlossen hatte. Jeden Morgen, wenn wir uns auf den Weg zur Kita machten, öffnete sie ihre Tür, begrüßte die Kinder liebevoll und steckte ihnen einen Traubenzucker für den Tag zu. Und zum Nikolaus stellte sie, zum Entzücken der Kinder, kleine Stiefelchen vor unsere Haustüre, die mit Schokolade gefüllt waren. Mit kleinen Gesten brachte sie Freude in unseren Alltag und wurde für meine Kinder eine wichtige Bezugsperson.

Und es hilft manchmal, einfach loszulassen und sich auf die Situation einzulassen. Vor allem bei der Bewegung: Kinder bewegen sich nicht linear. Sie sind viel raumgreifender als Erwachsene, nehmen den Raum in anderen Dimensionen wahr. Rennen eine Strecke vor und zurück, kommen vom Weg ab, entdecken plötzlich auf der anderen Seite der Straße etwas Aufregendes, das unbedingt jetzt betrachtet werden muss. Können stundenlang durch Pfützen hüpfen, sehen aufregende Abenteuer, wo man als Erwachsener nur die Spuren eines Regenschauers sieht.

Sehr bewusst wurde mir das bei einem unserer alljährlichen Familienwochenenden. Ein Treffen mit meinem Bruder, meiner Schwägerin und Schwippschwägerin – seit Geburt ihres Kindes alleinerziehend – und all unseren Kindern. Vier Erwachsene und sieben Kinder. In diesem Jahr hatten wir uns im tschechischen Karlovy Vary – ehemals Karlsbad – eingemietet. Ein Haus auf einer Anhöhe am Ende einer Straße, kurz bevor der Wald begann. Abends nach der Ankunft gab es Berge von Spaghetti mit Tomatensoße und Salat, am nächsten Tag liefen wir in die Stadt. Wir sind drei unterschiedliche Parteien und haben ziemlich unterschiedliche Vorstellungen davon, wie man Kinder großzieht. Doch bei unseren Familienwochenenden gibt es zwei gemeinsame Grundhaltungen, die uns besonders, als die Kinder noch sehr klein waren, etliche komplizierte Diskussionen erspart haben: Tagsüber stehen unsere Kinder und ihre Bedürfnisse im Mittelpunkt, und abends, wenn die Kinder im Bett liegen oder schlafen, haben wir Zeit für uns. Für ausführliche Gespräche und Diskussionen, für Rotwein, Bier und Zigaretten. Und: Wir mischen uns nicht in die Erziehung der anderen Parteien ein, sondern versuchen, uns für die Zeit des Zusammentreffens auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu verständigen.

Und so kam es, dass wir uns bei unserem Besuch der Stadt Karlovy Vary einfach treiben ließen. Hätten wir als Erwachsene vielleicht ein oder zwei Museen, Ausstellungen oder Kirchen besucht und wären am Abend in ein Restaurant mit regionaler Küche eingekehrt, so liefen wir einfach los, mit ein paar Ideen im Kopf, von denen wir noch nicht wussten, ob wir sie würden umsetzen können. Meine Tochter war damals noch in ihrer sehr lang anhaltenden Kletter- und Turnphase, es war ihre Art, sich in einem Raum fortzubewegen. Sie baumelte kopfüber an Stangen, sie balancierte über schmale Mauern, sie machte Handstände, manchmal Überschläge. Die Stadt, in der sie sich befand, war ihr egal. Wichtig waren spannende Möglichkeiten des Austestens, des Ausprobierens.

Am Fuße des Berges, als wir in die Altstadt kamen, stieg uns der süße Duft aus der Backstube einer Bäckerei in die Nasen. Die Kinder wollten unbedingt den Geschmack des tschechischen Gebäcks Trdelník ausprobieren. Wenig später stießen wir auf eine der Heilquellen, für die Karlovy Vary berühmt ist. Der Geysir in der Sprudelkolonnade stößt sein heißes Wasser bis zu 12 Meter in die Höhe. Abgekühlt, aber immer noch warm, soll man es als Heilwasser trinken. Doch während man als Erwachsener dazu geneigt ist – angesichts der langen Geschichte und Bedeutung dieses Ortes, der schon seit dem 14. Jahrhundert für dieses Wasser bekannt ist, das seit dem 18. Jahrhundert für Heilbehandlungen genutzt wird –, ehrfürchtig von dem warmen Wasser, das man vornehmlich aus Schnabeltassen zu sich zu nehmen hat, zu nippen und sinnend zu nicken, verzogen die Kinder die Gesichter angesichts des warmen salzigen Wassers. Mit ihrem angeekelten Lachen entzauberten sie das ganze Setting in der Halle mit den andächtig schlürfenden Menschen, auf manchem Gesicht lag gar ein entrückter Blick. Wir zogen weiter, am Fluss Teplá entlang, betrachteten die exquisiten Geschäfte, und zusehends staunten auch wir Erwachsenen, da wir auf immer mehr überaus fein gekleidete Menschen stießen, die, in Gespräche versunken, über den Boulevard flanierten oder in kleinen Grüppchen zusammenstanden. Herren in Lederschuhen und Dreiteilern mit Einstecktüchern. Sorgsam geschminkte Damen in schönen Kleidern, deren Füße in Schuhen mit winzigen Absätzen steckten, geschmückt mit erlesenen Handtaschen, Handschuhen, Tüchern und Hüten. Und es waren nicht nur ein paar, Dutzende dieser ausgewählt bekleideten Menschen säumten die Straße entlang des Flusses. Ein Theaterstück? Eine etwas pompöse Hochzeit? Die Kinder steckten uns mit ihrem Staunen an.

Schließlich stießen wir auf das Grandhotel Pupp – in Casino Royale residierte hier James Bond, verkörpert von Daniel Craig. Im Foyer ließen wir uns auf eine Tasse , heiße Schokolade und ein Stück Kuchen nieder. Ein Mann schrie, breitbeinig auf einem der ausladenden Sessel sitzend, lautstark telefonierend in sein Telefon, Menschen in weißen Bademänteln huschten über die dicken Teppiche. Wir fanden heraus, dass all die feinen Menschen Teilnehmer:innen eines europäischen Adelstreffens waren, das an diesem Wochenende in Karlovy Vary stattfand. Am Abend sollte ein rauschender Ball stattfinden.

Vielleicht hatten wir an diesem Wochenende wenig über die lange und sehr verwobene Geschichte dieser Stadt gelernt, aber wir hatten Erinnerungen an feine Klettergelegenheiten, an altes, knubbeliges Kopfsteinpflaster, an süßes Gebäck und salziges Wasser gesammelt und an Menschen, die aus einer anderen Welt zu stammen schienen und an Schlösser, Königinnen und Bälle erinnerten. Wir hatten die Stadt mit unseren Sinnen erlebt.

Waren wir ordentlich durch die Stadt gegangen? Sicher nicht. Wenn wir auch grundsätzlich eine Idee davon hatten, was wir sehen wollten, so liefen wir doch hin und her – vor allem auf der Suche nach frischen Oblaten, die wir nirgendwo fanden. Wir betrachteten unterschiedliche Häuser und Schaufenster, und natürlich kletterten und sprangen unsere Kinder nicht nur umher, sie spielten auch in diesem öffentlichen Raum Fangen, sie riefen sich und kicherten laut. Kinder haben andere Bedürfnisse und andere Wünsche an öffentliche Orte oder Plätze als Erwachsene. Und während es großartig ist, dass es in Deutschland so viele Spielplätze gibt, auf denen Kinder sich geschützt austoben können, so ist es doch eine erwachsene Trennung des Raumes in Spielraum/Nichtspielraum. Kinder entdecken ihre Welt spielend und das tun sie nicht nur auf dem Spielplatz.

Wir haben auf diese Weise viele verschiedene Orte und Regionen kennengelernt. Als unsere Kinder älter wurden, kamen Zeiten hinzu, an denen sie auch allein eine Stadt erkundeten. Und an denen wir Erwachsenen nun auch tagsüber manchmal Zeit für einen kurzen Besuch einer Ausstellung, eines Flohmarktes oder für ein kleines Shoppingabenteuer erhielten.

Erziehen Alleinerziehende ihr Kind oder ihre Kinder also anders als Paare? Fehlt den Kindern von Solomüttern, so eine oft kolportierte Aussage, nicht doch der Vater? Verschiedene Studien der vergangenen Jahre, die das Wohlergehen von Kindern verglichen haben, die in Familien mit einer alleinerziehenden Mutter und in Familien mit zwei Elternteilen aufwachsen, kommen zu dem Schluss, dass es keine Unterschiede in der Eltern-Kind-Beziehung oder bezüglich der Entwicklung des Kindes gibt.

Zwei andere Faktoren sind für die Entwicklung von Kindern entscheidend: In einem emotional nicht belasteten Umfeld aufzuwachsen – Kinder, die beispielsweise langwierige Streitigkeiten ihrer Eltern nicht nur in einer Scheidungsphase miterleben müssen, sind sehr belastet. Und die Frage nach der finanziellen Sicherheit, die Kinder betrifft, die in Armut aufwachsen. Davon wird im Kapitel 14: Solo-Klassismus noch ausführlich die Rede sein.1

Ein deutlicher Unterschied zwischen alleinerziehenden Müttern und Elternpaaren ist, so belegen verschiedene Studien, dass Solomütter – Soloväter sind bislang wenig erforscht – häufig über ein größeres soziales Unterstützungsnetzwerk verfügten als ein klassisches Elternpaar. Die Ergebnisse widerlegen eindeutig das Bild der marginalisierten, sozial ausgegrenzten Alleinerziehenden, das sich so hartnäckig hält.

Es gibt Alleinerziehende, die ihre Kinder sehr streng erziehen und ihnen viele Vorgaben machen. Andere stecken ihren Kindern einen so weiten Rahmen, dass diese sich darin auch mal verlieren können. Beide unterscheiden sich in ihren Erziehungsstilen nicht von Elternpaaren, die einen autoritativen Erziehungsstil pflegen, oder Eltern, die so viel arbeiten, dass sie ihre Kinder kaum sehen und ihre Abwesenheit mit Geld kompensieren. Und es gibt Alleinerziehende, denen das schlechte Gewissen zur Seite steht. Denn den armen Kindern, die jetzt ohne Vater groß werden sollen, so der Gedanke, muss mehr erlaubt und zugestanden werden. Doch ein schlechtes Gewissen ist kein guter Ratgeber.

Und es gibt Alleinerziehende und Elternpaare, die ihren Kindern einen Raum gewähren, der eigene Entwicklung zulässt, ohne das soziale Miteinander zu vernachlässigen. Die auch darauf achten, dass sowohl die Beziehungen zu den Eltern als auch die Beziehungen der Geschwister untereinander gut sind. Was mal besser, mal schlechter gelingt. Denn in jeder Familie, insbesondere mit mehreren Kindern, gibt es Eifersüchteleien und Konkurrenzkämpfe und kommt bisweilen bei einzelnen Kindern das Gefühl auf, das eine Kind würde vor dem oder den anderen bevorzugt werden.

Als ich wieder mehr Zeit hatte zu lesen, fand ich heraus, dass die 1870 geborene italienische Reformpädagogin und Ärztin Maria Montessori schon vor einhundert Jahren davon überzeugt war, dass jeder Mensch über einen individuellen inneren »Bauplan« verfüge, über Veranlagungen und Potenziale also, die sich von selbst entwickeln, wenn es die Umstände zulassen. Wenn es Freiräume gibt, aber auch Anregung. Zu einer Zeit, da Kinder häufig noch als Objekte verstanden wurden, setzte sie sich für Räume ein, in denen Kinder die Möglichkeit erhielten, sich – unterstützt durch Erwachsene – frei zu entfalten und zu bilden.

Maria Montessori selbst war eine Mutter unter widrigen Umständen. 1898 war sie von einem Kollegen schwanger geworden, mit dem sie eine Beziehung pflegte. Da sie nicht verheiratet waren, brachte sie ihren Sohn heimlich zur Welt – um einen Skandal zu vermeiden, der ihre Karriere und die des Kindsvaters hätte zerstören können. Im Geburtsregister des Sohnes stand zu lesen »Eltern unbekannt«. Maria Montessori gab ihn zu einer Pflegefamilie auf dem Land, bei der er aufwuchs. Der Kindsvater heiratete bald darauf eine andere Frau. Maria Montessori besuchte den Sohn häufig und nahm ihn, als die Pflegemutter starb, 14-jährig zu sich. Zeitlebens gab sie ihn jedoch als ihren Neffen aus. Erst kurz vor ihrem Tod im Jahr 1952 bekannte sie sich öffentlich zu ihm.

Dass Montessori auch eine dunkle Seite hat, wurde jahrzehntelang verdrängt und wird erst jetzt wieder erörtert. So setzte sie sich nicht nur in der Zeit des europäischen Nationalsozialismus auch mit Eugenik, Rassentheorie und Optimierungsstreben auseinander und verfolgte den Gedanken eines »Ministeriums der Rasse«.2

Der später berühmt gewordene dänische Familientherapeut Jesper Juul fuhr zunächst als Jungkoch zur See, wurde dann Erd- und Betonarbeiter und verdingte sich als Barkeeper, bevor er seine Ausbildung zum Lehrer und Sozialpädagogen begann. In den 1970er-Jahren entwickelte er – auch durch seine Arbeit mit Gruppen alleinerziehender Mütter im Jugendzentrum von Aarhus – den pädagogischen Ansatz der »gleichwürdigen« Erziehung. Kinder, so der 1948 geborene Juul, sind vollwertige Menschen, die nicht erst – durch Anweisungen, Verbote und Strafen – geformt oder erzogen werden müssen. Für ihre Entwicklung, so Juul, brauchen sie lediglich die Gegenwart von Erwachsenen, die sich menschlich und sozial verhalten. »Jede Methode ist nicht nur überflüssig, sondern kontraproduktiv, weil sie die Kinder für ihre Nächsten zu Objekten macht«, schreibt Juul in Dein kompetentes Kind. Juuls Grundgedanke ist nicht der einer Gleichheit, sondern der einer gleichen Würde, einem »dynamischen Prozess, eine veränderliche Kategorie, um die man sich in jeder Beziehung stets aufs Neue bemühen muss«.3

Bei der Erziehung von Kindern geht es also vielleicht weniger darum zu erziehen, als eine Beziehung zu pflegen. Beziehung statt Erziehung. Um ein gemeinsames Wachsen. Denn nicht nur Kinder wachsen, auch die Erwachsenen wachsen. Und alle befinden sich in einem gemeinsamen, überaus lebendigen Prozess.

Auch wenn die Hauptverantwortung bei den Eltern liegt, so ist die Erziehung eines Kindes – oder anders ausgedrückt die Unterstützung eines Kindes beim Wachsen – immer ein Gemeinschaftsprojekt. Und schließlich ist es die Gemeinschaft, die davon schlussendlich profitiert, dass sie gemeinschaftlich gesunde Kinder großgezogen hat, die wiederum die Gemeinschaft mit Ideen und ihrer Kraft unterstützen und wachsen lassen. Wachstum ist nie etwas Einseitiges, sondern immer etwas Gemeinsames.

Auch die Frage, wie ich mein Kind erziehe, ist keine rein private Angelegenheit. Die Gesellschaft ist sich über eine ganze Reihe Dinge zum Wohl der Kinder einig. Es gibt Gesetze, die bis in Familien hineinreichen. Gesetze wie die seit 1919 bestehende Schulpflicht, die Kinder zum Besuch einer Schule verpflichtet. Es gibt Gesetze, die Kinder schützen und die greifen, wenn das Kindeswohl gefährdet ist, wenn also Eltern verantwortlich sind für mangelhafte Ernährung, Bekleidung und Hygiene, aber auch bei erheblichen Schulfehlzeiten, Nichtwahrnehmung von Arztterminen oder einem deutlichen Entwicklungsrückstand des Kindes. Und seit Januar 2001 steht jedem Kind auch gesetzlich eine gewaltfreie Erziehung zu. So lautet der Paragraf 1631 des Bürgerlichen Gesetzbuches: »Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Erziehungsmaßnahmen sind unzulässig.«

Vielleicht sollten Soloerziehende diese Gemeinschaftlichkeit noch selbstbewusster einfordern. So erzählte mir ein alleinerziehender Vater, es hätte sein Leben sehr viel einfacher gemacht, wenn die Schule transparenter mit ihren Aufgaben und Anforderungen umgegangen wäre. Damit man insbesondere als Alleinerziehender die Zeit, die man hat, um die Kinder bei den schulischen Herausforderungen zu unterstützen, nicht damit verbringt, herauszufinden, was geleistet werden muss, sondern gleich einsteigen kann. Tatsächlich aber gehen viele Schulen scheinbar immer noch davon aus, dass am Nachmittag zu Hause ein Elternteil sitzt, das die Kinder bei der Erledigung der Schulaufgaben und Vorbereitung für Prüfungen und Arbeiten unterstützt. Ein Bild, das sich nicht mehr aufrechterhalten lässt in einer Gesellschaft, in der nicht nur auch Frauen arbeiten gehen, sondern in der Alleinerziehende leben und viele Menschen, die in anderen Ländern groß geworden sind und das deutsche Schulsystem in ihrer Kindheit und Jugend nicht kennengelernt haben.

Ein Fragenkomplex beschäftigt mich in diesem Zusammenhang aber noch weiter. Was machte der Zustand, Mutter zu sein, aus mir? Was für eine Frau war ich durch die Geburt geworden? Was bedeutet Mutterschaft? In welcher Beziehung stehen Mutterschaft und Weiblichkeit? Und inwiefern spielt das Alleinerziehen dabei eine Rolle?