Zu seinem Geburtstag unternahm Ernesto mit dem Vater einen Spaziergang am Comer See, und ich ging zu der Frau, die eine Etage über uns wohnte und mir angeboten hatte, bei ihr sauberzumachen. Während ich sämtliche Zimmer putzte, hing sie mir ständig im Nacken, sie kontrollierte, wie viel Putzmittel ich auf den Schwamm gab und ob ich mit dem Staubtuch so wischte, wie sie es mir gezeigt hatte. Ich nahm immer für alles Alkohol, aber sie verwendete für jedes Zimmer ein anderes Zeugs und brachte mich damit an den Rand des Wahnsinns. Ich ertrug alles, und blind, wie ich war, sagte ich mir, ich würde nicht so enden wie

Ich dachte oft an Rădeni. Als Mädchen hatte ich mich gefragt: Was soll ich hier? In dieser Landschaft, die nachts pechschwarz wird und die im Winter nur von silbernem Raureif überzogene Baumstümpfe zu bieten hat? An einem Ort, wo es normal ist, dass die Männer immer betrunken sind? Was kann man hier machen? Was wird man in Rădeni? Und obwohl es nur ein Geisterdorf war, vermisste ich diese Ecke der Welt, wo ich alle Gesichter, Winkel, Pflanzen kannte.

 

Die Wände des Zimmers, in dem ich wohnte, waren kahl. Nur ein Poster von Ayrton Senna hing da, sein schönes, melancholisches Gesicht betrachtete ich oft stundenlang. Erinnerst du dich? Wenn es

Es kommt mir vor, als würde ich erst jetzt, da ich auf diesem klapprigen Stuhl mit dir spreche, begreifen, wie die Dinge gelaufen sind. Du warst erbarmungslos, hast mich aus dem Handydisplay angestarrt und nur verlangt, ich solle dir noch mehr Videospiele und Klamotten schicken. Und komm mir nicht damit, du hättest das absichtlich getan, weil du herauskriegen wolltest, wie weit du den Bogen spannen kannst. Ich hab darunter gelitten, mir fehlte es wie die Luft zum Atmen, für dich zu kochen oder mit dir vor dem Fernseher zu sitzen und Popcorn zu essen. Mies hab ich mich gefühlt, und trotzdem konnte ich dich verstehen. Während

 

Eines Samstagnachmittags rief Clarissa an. Giovanni schlief im Sessel, ich lag auf dem Sofa. Ich hatte mir vorgenommen, wenigstens eine Illustrierte zu lesen, aber nicht mal das schaffte ich. Die Gedanken schoben sich vor die Seiten, und schließlich vertrödelte ich die Zeit am Handy oder döste ebenfalls vorm Fernseher ein. Lernen war mir unmöglich geworden. Wenn ich mit euch chatten wollte, habt ihr abgeblockt: Uns geht’s wie gestern, Mama. Dann schaute ich die Datingseiten durch, aber die Gesichter, die über das Display

»Was machst du denn zu Hause?«, fragte Clarissa.

»Überstunden.«

»Was?!«, und dann hielt sie mir eine Gardinenpredigt, die sich gewaschen hatte. »Du bist verrückt, sieben Tage die Woche zu arbeiten! Du

»Aber ich schaff das!«, entgegnete ich.

»Hör auf, die Allmächtige zu spielen. Weißt du eigentlich, dass es in Iaşi eine Klinik voll mit Frauen wie dir gibt, die alle auch mal behauptet haben, sie würden das schaffen?«

»Eine Klinik?«

»Hör zu, Daniela, diese Arbeit frisst dich auf, sonst würden sie die Italiener nämlich selber machen. Vor zwei Jahren habe ich mich um eine Frau mit Alzheimer gekümmert, und nach ein paar Monaten hatte ich das Gefühl, ich würde mein Gedächtnis verlieren, wie sie.«

»Und was soll ich deiner Meinung nach tun?«

»Ruf den Sohn des Alten an und sag, er soll dich ablösen.«

»Und welche Ausrede soll ich mir ausdenken?«

»Keine Ausrede, sag ihm einfach, du müsstest mal an die frische Luft!«, antwortete sie schroff.

Ernesto war genervt und protestierte, er müsse Besorgungen machen, ich könne ihm nicht auf den letzten Drücker so die Pistole auf die Brust setzen: »Unter der Woche komme ich ja nie dazu.«

»Wenn du keine Schicht hast, musst du an anderes denken.«

»Und wenn er mich braucht?«

»Wenn er dich braucht, wird er dich anrufen, verlass dich drauf.« Und dann fing sie wieder mit der Geschichte von ihrer Alten an: »Kaum hatte ich einen Fuß nach draußen gesetzt, da riefen schon die Kinder an, weil sie nicht allein mit ihr klarkamen, und ich bin wie ein Vollidiot zurückgerannt. Ich strich ihr übers Gesicht, sang leise ein Lied, massierte ihr die Schulter, um sie zu beruhigen. Die alte Dame wollte nur mich. Und weißt du, was passiert ist, kaum dass sie gestorben war? Die Kinder sagten, ich müsse in ein paar Tagen raus aus der Wohnung, sie hätten sie bereits vermietet.«

»Hör auf, Clarissa, du machst mir Angst!«

»Es gibt Schlimmeres, manche Leute misshandeln die Alten sogar. Ich will dir nur sagen, dass du auf dich aufpassen musst.« Darauf umarmten wir uns auf der Straße wie zwei Schulkameradinnen.

Die Accademia di Brera hatte an dem Tag geschlossen, also bestiegen wir den Dom, was selbst Clarissa noch nie gemacht hatte. Sie tat so, als wüsste sie alles über die Stadt, aber auch sie war allein und hatte Träume, die sie meiner Meinung nach ganz still tief drinnen für sich behielt. Wie schön wäre es gewesen, wenn du mit mir hier auf dem Dach dieser Kathedrale hättest sein können: Dann wäre mir beim Hinunterschauen nicht schwindelig geworden.

»Wie viel Geld die Leute haben müssen, die hier leben … In dieser Gegend sollte man sich einen Liebhaber zulegen und ihn dann ausnehmen wie eine Weihnachtsgans!«, rief Clarissa und gluckste.

»Hast du kein Heimweh?«

»An manchen Tagen schon, an andern überhaupt nicht«, sagte sie. Sie beugte sich hinunter und betrachtete die Piazza, auf der es von Menschen nur so wimmelte.

»Echt?«

»Ich hab noch nicht rausgefunden, wie das geht, hier gut zu leben.«

»Dafür komme ich mir richtig emanzipiert vor, Daniela«, rief sie. »Ich hab vielleicht nicht die Arbeit, die ich mir erträumt habe, die Sachen aus dem Studium hab ich vergessen, und der Job als Pflegerin ödet mich an. Aber dann kommt der Samstag, und ich laufe herum, treffe mich, mit wem ich will, und keiner macht mir Vorschriften.« Und dann erzählte sie mir, dass sie neulich über Tinder einen Typen kennengelernt und mit ihm geschlafen habe. »Es war schön«, sagte sie und schaute mir ins Gesicht. »Ich hab das gebraucht, weißt du? Außerdem war es nichts Schmutziges. Hinterher haben wir Ravioli gegessen, und er hat mich im Auto nach Hause gebracht.«

»Wirst du ihn wiedersehen?«

Wir liefen durch die Straßen von Brera, kauften von einem Blumenverkäufer, der auf dem Gehweg kauerte, zwei Nelken, dann lud Clarissa mich zum Aperitif ein. Obwohl es kalt war, wollte sie draußen sitzen. An den Tischen im Freien saßen nur wir beide und zwei Verliebte um die zwanzig. Wir tranken drei Spritz und bedienten uns am Buffet, als wären wir am Verhungern.

Beschwipst kam ich nach Hause zu Giovanni. Ich beugte mich herunter und gab ihm einen Schmatz. Überrascht sah er mich an und kicherte: »Hoho, da hat sich aber jemand ganz schön einen gezwitschert, was?«

»Was redest du da, Giovanni?«

»Doch, doch, du riechst nach Campari!« Und dabei weiteten sich seine Augenschlitze vor Freude, dass ich wieder da war.