Von zwei Uhr am Samstagnachmittag bis sieben Uhr am Sonntagabend hatte ich eigentlich frei. Ich aber war derart davon besessen, so bald wie möglich nach Rumänien zurückzukehren, dass ich Ernesto sagte, die freie Zeit interessiere mich nicht, ich hätte lieber das Extrageld. Ihm war das nur recht, und so verbrachte ich ganze Wochen ohne Unterbrechung mit Giovanni. Ich und er, denn außer seinem Sohn hatte Giovanni buchstäblich niemanden.
Zu seinem Geburtstag unternahm Ernesto mit dem Vater einen Spaziergang am Comer See, und ich ging zu der Frau, die eine Etage über uns wohnte und mir angeboten hatte, bei ihr sauberzumachen. Während ich sämtliche Zimmer putzte, hing sie mir ständig im Nacken, sie kontrollierte, wie viel Putzmittel ich auf den Schwamm gab und ob ich mit dem Staubtuch so wischte, wie sie es mir gezeigt hatte. Ich nahm immer für alles Alkohol, aber sie verwendete für jedes Zimmer ein anderes Zeugs und brachte mich damit an den Rand des Wahnsinns. Ich ertrug alles, und blind, wie ich war, sagte ich mir, ich würde nicht so enden wie Clarissa, wie Anna und all die anderen, die alle groß getönt hatten, bald würden sie wieder zu Hause sein, und die sich jetzt nicht mal mehr an Weihnachten blicken ließen. Ein Jahr, dann wollte ich zurück in Rădeni sein, mit meinem Geld würde ich das Haus herrschaftlich herausputzen und schon unter der von Filip instand gesetzten Pergola sitzen, wenn du von der Schule nach Hause kämst. Und deine Schwester mit ihrem aufreizenden Gang und dem Gesicht, das mit jedem Tag mehr das einer Frau wurde, würde mir schon von der Straße aus freudig zuwinken.
Ich dachte oft an Rădeni. Als Mädchen hatte ich mich gefragt: Was soll ich hier? In dieser Landschaft, die nachts pechschwarz wird und die im Winter nur von silbernem Raureif überzogene Baumstümpfe zu bieten hat? An einem Ort, wo es normal ist, dass die Männer immer betrunken sind? Was kann man hier machen? Was wird man in Rădeni? Und obwohl es nur ein Geisterdorf war, vermisste ich diese Ecke der Welt, wo ich alle Gesichter, Winkel, Pflanzen kannte.
Die Wände des Zimmers, in dem ich wohnte, waren kahl. Nur ein Poster von Ayrton Senna hing da, sein schönes, melancholisches Gesicht betrachtete ich oft stundenlang. Erinnerst du dich? Wenn es draußen kalt war, legte ich mich aufs Bett und rief dich von dort aus an. Wann hat diese Befangenheit begonnen? Ab wann hatten wir uns nichts mehr zu sagen? Ich war so gefangen in der Stumpfheit meines von Giovannis Arzneien getakteten Alltags, dass ich nicht mal mehr die Kraft fand, wütend zu werden, geschweige denn, Worte zu wählen, die auf dich Eindruck gemacht hätten. Und weißt du, was? Mir war, als hätte ich gar nicht das Recht dazu, weil ich ja diejenige war, die gegangen war, aus eigenem Entschluss. Zwar hatte ich es getan, damit du die gleichen Chancen hast wie die anderen, doch das spielte keine Rolle: In deinen Augen war ich abgehauen, basta.
Es kommt mir vor, als würde ich erst jetzt, da ich auf diesem klapprigen Stuhl mit dir spreche, begreifen, wie die Dinge gelaufen sind. Du warst erbarmungslos, hast mich aus dem Handydisplay angestarrt und nur verlangt, ich solle dir noch mehr Videospiele und Klamotten schicken. Und komm mir nicht damit, du hättest das absichtlich getan, weil du herauskriegen wolltest, wie weit du den Bogen spannen kannst. Ich hab darunter gelitten, mir fehlte es wie die Luft zum Atmen, für dich zu kochen oder mit dir vor dem Fernseher zu sitzen und Popcorn zu essen. Mies hab ich mich gefühlt, und trotzdem konnte ich dich verstehen. Während mein Körper immer mehr abstumpfte, blieb seltsamerweise mein Geist klar, ich war der festen Überzeugung, dass ich nicht mehr lange Giovanni den Rücken schrubben, ihn umziehen und seine Fußnägel schneiden müsste. Ich war mir sicher, dass ich bald heimkehren und dir den Kopf zurechtrücken würde – glaub nicht, ich hätte nicht gemerkt, dass es in der Schule nicht mehr so lief wie früher – und dass wir unser Familienleben wiederaufnehmen könnten. Mit der alten Dyane würden wir durch die umliegenden Dörfer fahren, aus vollem Hals Queen-Songs grölend, und einfach mit allem da weitermachen, wo wir damit aufgehört hatten. Zwischen uns konnte sich nichts wirklich ändern. Aus Blut wird kein Wasser.
Eines Samstagnachmittags rief Clarissa an. Giovanni schlief im Sessel, ich lag auf dem Sofa. Ich hatte mir vorgenommen, wenigstens eine Illustrierte zu lesen, aber nicht mal das schaffte ich. Die Gedanken schoben sich vor die Seiten, und schließlich vertrödelte ich die Zeit am Handy oder döste ebenfalls vorm Fernseher ein. Lernen war mir unmöglich geworden. Wenn ich mit euch chatten wollte, habt ihr abgeblockt: Uns geht’s wie gestern, Mama. Dann schaute ich die Datingseiten durch, aber die Gesichter, die über das Display liefen, wirkten alle wie aus Plastik. Manchmal stellte ich mich nach dem Duschen vor den Spiegel, berührte meine Hüfte und strich über meine Brüste, prüfte, ob die Zweisamkeit mit Giovanni auch meinen Körper welken ließ. Von meinem Spiegelbild versuchte ich abzulesen, ob ich einem Mann noch gefallen konnte oder ob ich mit siebenundvierzig schon auf den Müll gehörte. Ich musste an Filip denken. Wenn wir miteinander schliefen, setzte er sich danach immer an den Küchentisch und rauchte, dann schlüpfte er zurück unter die Decke, wollte, dass ich ihm den Rücken kratzte, und schlief ein. Seit er aus Rădeni fortgegangen war, hatte ich nicht mehr mit ihm gesprochen. Manchmal bekam ich einen Anfall, wollte zum Handy greifen und ihn fragen, ob er es richtig fand, dass wir durch die Weltgeschichte turnten und euch zwei allein ließen. Waisenkinder sind sie geworden, siehst du das nicht?, hätte ich am liebsten geschrien. Manchmal hätte ich ihm aber einfach auch nur gern gesagt: Du hast zwar alles den Bach runtergehen lassen, aber ich weiß, dass du mich liebst.
»Was machst du denn zu Hause?«, fragte Clarissa.
»Überstunden.«
»Was?!«, und dann hielt sie mir eine Gardinenpredigt, die sich gewaschen hatte. »Du bist verrückt, sieben Tage die Woche zu arbeiten! Du musst mal abschalten, unter Leute gehen!« Und sie erzählte mir von Kolleginnen, die wie ich die ganze Zeit in einer Wohnung mit Alzheimer- oder Parkinsonpatienten hingen und irgendwann mit dem Trinken anfingen oder depressiv wurden.
»Aber ich schaff das!«, entgegnete ich.
»Hör auf, die Allmächtige zu spielen. Weißt du eigentlich, dass es in Iaşi eine Klinik voll mit Frauen wie dir gibt, die alle auch mal behauptet haben, sie würden das schaffen?«
»Eine Klinik?«
»Hör zu, Daniela, diese Arbeit frisst dich auf, sonst würden sie die Italiener nämlich selber machen. Vor zwei Jahren habe ich mich um eine Frau mit Alzheimer gekümmert, und nach ein paar Monaten hatte ich das Gefühl, ich würde mein Gedächtnis verlieren, wie sie.«
»Und was soll ich deiner Meinung nach tun?«
»Ruf den Sohn des Alten an und sag, er soll dich ablösen.«
»Und welche Ausrede soll ich mir ausdenken?«
»Keine Ausrede, sag ihm einfach, du müsstest mal an die frische Luft!«, antwortete sie schroff.
Ernesto war genervt und protestierte, er müsse Besorgungen machen, ich könne ihm nicht auf den letzten Drücker so die Pistole auf die Brust setzen: »Unter der Woche komme ich ja nie dazu.«
Trotzdem war er eine Stunde später da, und als ich Clarissa in der Via Cairoli traf, war ich tatsächlich froh. Ich atmete tief ein und hätte am liebsten gelacht vor lauter Freude, so unerwartet unter Leuten zu sein. Ich wollte Ernesto anrufen und fragen, wie es Giovanni gehe, doch Clarissa nahm mir das Handy ab und steckte es zurück in meine Tasche.
»Wenn du keine Schicht hast, musst du an anderes denken.«
»Und wenn er mich braucht?«
»Wenn er dich braucht, wird er dich anrufen, verlass dich drauf.« Und dann fing sie wieder mit der Geschichte von ihrer Alten an: »Kaum hatte ich einen Fuß nach draußen gesetzt, da riefen schon die Kinder an, weil sie nicht allein mit ihr klarkamen, und ich bin wie ein Vollidiot zurückgerannt. Ich strich ihr übers Gesicht, sang leise ein Lied, massierte ihr die Schulter, um sie zu beruhigen. Die alte Dame wollte nur mich. Und weißt du, was passiert ist, kaum dass sie gestorben war? Die Kinder sagten, ich müsse in ein paar Tagen raus aus der Wohnung, sie hätten sie bereits vermietet.«
»Hör auf, Clarissa, du machst mir Angst!«
»Es gibt Schlimmeres, manche Leute misshandeln die Alten sogar. Ich will dir nur sagen, dass du auf dich aufpassen musst.« Darauf umarmten wir uns auf der Straße wie zwei Schulkameradinnen.
Wir gingen in einen chinesischen Schönheitssalon, wo wir uns schminken ließen, dann begleitete ich sie zum Haarefärben, dieses Mausgrau war wirklich unmöglich. »Jetzt hörst du mir mal zu, ja, du siehst älter aus als deine Alte, so kannst du unmöglich herumlaufen!«, sagte ich, um sie zu überzeugen.
Die Accademia di Brera hatte an dem Tag geschlossen, also bestiegen wir den Dom, was selbst Clarissa noch nie gemacht hatte. Sie tat so, als wüsste sie alles über die Stadt, aber auch sie war allein und hatte Träume, die sie meiner Meinung nach ganz still tief drinnen für sich behielt. Wie schön wäre es gewesen, wenn du mit mir hier auf dem Dach dieser Kathedrale hättest sein können: Dann wäre mir beim Hinunterschauen nicht schwindelig geworden.
»Wie viel Geld die Leute haben müssen, die hier leben … In dieser Gegend sollte man sich einen Liebhaber zulegen und ihn dann ausnehmen wie eine Weihnachtsgans!«, rief Clarissa und gluckste.
»Hast du kein Heimweh?«
»An manchen Tagen schon, an andern überhaupt nicht«, sagte sie. Sie beugte sich hinunter und betrachtete die Piazza, auf der es von Menschen nur so wimmelte.
»Echt?«
»Mein Mann und ich haben uns getrennt, meine Kinder sind erwachsen«, überlegte sie laut. »Und in Rădeni kennt mich doch keiner mehr, viele grüßen nicht mal, andere ziehen hinter meinem Rücken über mich her. Die Leute meinen, wer hierher zum Arbeiten kommt, wird Millionär, ohne einen Finger krummzumachen.« Sie schüttelte den Kopf. »Und außerdem ertrage ich den Dreck nicht mehr, seit ich in Italien lebe, die Schlaglöcher, bestimmte Verhaltensweisen …«
»Ich hab noch nicht rausgefunden, wie das geht, hier gut zu leben.«
»Dafür komme ich mir richtig emanzipiert vor, Daniela«, rief sie. »Ich hab vielleicht nicht die Arbeit, die ich mir erträumt habe, die Sachen aus dem Studium hab ich vergessen, und der Job als Pflegerin ödet mich an. Aber dann kommt der Samstag, und ich laufe herum, treffe mich, mit wem ich will, und keiner macht mir Vorschriften.« Und dann erzählte sie mir, dass sie neulich über Tinder einen Typen kennengelernt und mit ihm geschlafen habe. »Es war schön«, sagte sie und schaute mir ins Gesicht. »Ich hab das gebraucht, weißt du? Außerdem war es nichts Schmutziges. Hinterher haben wir Ravioli gegessen, und er hat mich im Auto nach Hause gebracht.«
»Wirst du ihn wiedersehen?«
»Keine Ahnung«, antwortete sie.
Wir liefen durch die Straßen von Brera, kauften von einem Blumenverkäufer, der auf dem Gehweg kauerte, zwei Nelken, dann lud Clarissa mich zum Aperitif ein. Obwohl es kalt war, wollte sie draußen sitzen. An den Tischen im Freien saßen nur wir beide und zwei Verliebte um die zwanzig. Wir tranken drei Spritz und bedienten uns am Buffet, als wären wir am Verhungern.
Beschwipst kam ich nach Hause zu Giovanni. Ich beugte mich herunter und gab ihm einen Schmatz. Überrascht sah er mich an und kicherte: »Hoho, da hat sich aber jemand ganz schön einen gezwitschert, was?«
»Was redest du da, Giovanni?«
»Doch, doch, du riechst nach Campari!« Und dabei weiteten sich seine Augenschlitze vor Freude, dass ich wieder da war.