Den Anwälten machte Olivias chronische Bronchitis zu schaffen, sie wollten ihr aber nicht noch mehr Antibiotika geben. Deshalb baten sie mich, als die Schulferien begannen, mit der Kleinen nach Ligurien zu fahren, wo sie wenige Schritte vom Strand entfernt ein Haus besaßen. Das Dorf hieß San Lorenzo, es hatte eine Piazza, eine Kirche und einen Gemüsehändler. Gianluca sollte eigentlich bei seiner Tante in Mailand bleiben, aber davon wollte er nichts wissen und bestand darauf mitzukommen. Nach anfänglichen Zweifeln überzeugte ich die Eltern, es ihm zu erlauben.
»Schaffst du es denn mit beiden, Daniela?«
»Aber ja, das Meer wird der Kleinen guttun und Gianluca beruhigen. Wir werden schöne Strandausflüge machen.«
»Aber Vorsicht, wenn der Junge das Meer sieht, ist er nicht mehr zu bändigen«, warnte Francesca mich vor.
»Keine Sorge, wenn ich nicht klarkomme, ruf ich sofort an.«
Sie hatten inzwischen großes Vertrauen in mich, im Lauf eines Jahres war unsere Beziehung sehr eng geworden. Ich kam mir unentbehrlich vor, weil es den vieren dank mir gut ging. Carlo bestand darauf, dass ich mit ihnen zu Abend aß, er fragte mich um Rat bezüglich Gianluca, und Francesca wollte sogar, dass ich zur Hochzeit ihrer Schwester mitfuhr, mittlerweile gehöre ich ja zur Familie. So vergingen die Monate, und der Gedanke, sie hätten meine Liebe gekauft, tat gar nicht mehr weh. Ich sagte mir: Besser, ich schenke sie ihnen, als sie in mir drin zu behalten, wo sie irgendwann kippt und zu Gift wird.
Am Meer zeigten Carlo und Francesca mir das Haus und meinten, den Kindern sei es ja vertraut. Wir aßen eine Pizza, und abends machten die beiden sich auf den Weg zurück nach Mailand.
»Hier, für alles, was ihr braucht«, sagte Carlo, bevor sie fuhren, und legte eine Kreditkarte auf den Küchentisch.
Die Anwälte habe ich nie beklaut. Bei Giovanni hab ich oft gestohlen: übriggebliebenes Essen, Kleingeld, das auf den Möbeln lag, Wechselgeld von den Apothekeneinkäufen oder anderen Besorgungen, das Ernesto mir gegeben hatte und das ich absichtlich zurückzugeben vergaß. Ich steckte es in eine Plastikhülle, die ich in einem Buch versteckte, und wenn ich niedergeschlagen war, leerte ich sie auf dem Bett aus und zählte sie immer und immer wieder, meine armselige Beute.
Morgens gingen wir ans Meer, manchmal kehrten wir auch nach dem Mittagsschlaf dorthin zurück. Wir sammelten Muscheln, die Kinder betasteten sie erst mit den Händen und hielten sie dann ans Ohr. Dann hockten wir uns in den Sand, bauten Burgen und turmbewehrte Städte mit Brücken und Kanälen, und wenn wir keine Lust mehr hatten, im Sand zu spielen, legten wir uns auf die Badetücher. Auf dem Rücken, die Hände im Nacken verschränkt, mussten wir still daliegen und abwechselnd etwas erzählen. Ohne es zu merken, vertraute Gianluca mir seine Geheimnisse an und bereute es schon eine Sekunde später.
»Wenn du meinen Eltern sagst, dass ich die Schule geschwänzt habe, rede ich nie wieder mit dir!«, rief er, setzte sich auf und blickte mir in die Augen.
»Leg dich wieder hin und schau in den Himmel, sonst gilt es nicht!«
»Okay, aber schwör, dass du nicht petzt!«
»Nur, wenn du schwörst, dass du es nie wieder tust.«
»Hört doch mal auf zu streiten, du bist dran, Daniela!«, mischte Olivia sich ein.
Daraufhin legte ich die Hände unter den Nacken, schloss die Augen und erzählte etwas. Einmal sagte ich: »Wusstet ihr, dass ich meinen Sohn Manuel Salzkorn nenne?«
An dem Abend roch ich endlich, bevor wir duschten, dass auch meine Haut den Geruch des Meeres angenommen hatte. Angelica hatte recht, mit euch hab ich nie so viel gespielt, als ihr klein wart. Auch mir fehlte dazu die Zeit. Sie ging völlig fürs Büro und für die Hausarbeit drauf, putzen, kochen, einkaufen … Vielleicht ist das so im Leben, dass man dem Leben immer hinterherhetzt.
Während ich Abendessen kochte, gab Gianluca mir Italienischunterricht. Ich sprach inzwischen sehr gut, doch für jedes neue Wort, das ich lernte, vergaß ich ein altes. Niemand hat mir je so präzise die Bedeutungen erklären können wie dieser Junge, erstaunt lauschte ich ihm. Wie das eine Mal, als ich etwas sagte und er mich mit lauter Stimme korrigierte: »Eben nicht, Daniela! Das ist nicht dasselbe: Ein Knecht hat keine Freiheit und muss immer gehorchen, während ein Diener gehorcht, weil das sein Beruf ist, aber ansonsten ist er ein freier Mensch!«
Gianluca und Olivia fuhren gern in ihrem kleinen Schlauchboot, an das ich eine Schnur gebunden hatte. Im Wasser steckte ich sie in den Mund, biss darauf wie ein Hund und schwamm los. Die beiden ließen sich durch die Gegend gondeln und genossen den sanften Wind an diesen friedlichen Tagen.
Eines Morgens schwamm ich, ohne es zu merken, ein bisschen zu weit hinaus. Ja, ich hatte keinen Grund mehr unter den Füßen, doch die Wellenbrecher, die die Bucht begrenzten, waren noch weit. Die Kinder saßen entspannt im Boot, Olivia paddelte mit der Hand, Gianluca saß selig mit dem Rücken im Bug und sang vor sich hin. Da geschah es. Eine unerwartete Welle, eine einzige, so eine, die man nicht kommen sieht, die sich aber binnen einer Sekunde aufbaut und im letzten Moment überschlägt. Sie erfasste uns von der Seite und ließ das Boot kentern. Ich rief den Kindern zu, sie sollten sich daran festhalten, doch als Gianluca es versuchte, trieb er es nur fort. Ich wollte hinterherschwimmen, machte dann aber abrupt kehrt. Olivia war nirgends mehr zu sehen. Ich schrie, doch mir war, als könnte niemand meine Schreie hören. Dann spürte ich, wie sie unter Wasser an meinem Badeanzug zerrte und wie aus großer Ferne meinen Namen rief. Ich weiß nicht, wie mein Körper es anstellte, aber er begann zu zittern: Trotz der zum Zerreißen gespannten Nerven und der verhärteten Muskeln wurde ich von Schaudern geschüttelt, die mir die Kraft raubten. Gianluca zappelte wie wild, und während ich Olivia, die meinen Hals zerkratzte, an mich drückte, versuchte ich ihn über Wasser zu halten und rief ihm Worte zu, an die ich mich nicht erinnere. Mit der Fußspitze streifte ich den Grund, während eine weitere Welle mich von hinten traf, doch die Schauder machten meinen Rücken starr, das Gewicht des Mädchens drückte mich hinunter. Noch einmal spürte ich, wie sie sich in mein Fleisch krallte, dann war Olivia plötzlich nicht mehr da.
Ich muss das Bewusstsein verloren haben, denn als Nächstes erinnere ich mich daran, wie eine klobige Hand mir Klapse ans Kinn gibt, während ich versuche, die Augen zu öffnen und sie, als ich ein bärtiges Gesicht so nah an meinem Mund sehe, erschrocken sofort wieder schließe. Gianluca hockte auf dem Sand, erbrach Wasser und versuchte keuchend, zu Atem zu kommen. Er hielt sich eine Hand vors Gesicht und stammelte, er habe Wadenkrämpfe. Olivia kreischte in einem fort, niemand vermochte sie zu beruhigen. Ich wollte aufstehen und zu ihr gehen, ich hatte das Bedürfnis, ihre Hand zu halten, aber der Bademeister befahl mir, sitzen zu bleiben. Erst wollten die Leute, die sich um uns geschart hatten, wissen, ob ich wohlauf sei, dann begannen sie, mir Vorwürfe zu machen, während das Wasser von meinem Körper auf den Sand tropfte: »Mit zwei so kleinen Kindern«, riefen sie fassungslos, »dabei sind Sie ja nicht mal die Mutter!« Vor Scham legte ich den Kopf auf die Beine, umfasste sie mit den Armen, um die Schauder abzustellen. Am liebsten hätte ich mir die Ohren zugehalten gegen diese Stimmen, die wie Pfeile auf mich einprasselten.
Irgendwer fuhr uns mit dem Auto nach Hause. Das Schlauchboot vergaßen wir am Strand. Die erschöpfte Olivia schlief sofort ein. Gianluca wollte nicht mit mir sprechen, er verbarg sein Gesicht und sagte nur, ich solle weggehen.
Abends trafen die Eltern ein, sagten grußlos, wir würden auf der Stelle nach Mailand zurückfahren, wo wir mitten in der Nacht ankamen. Unterwegs sprachen sie kein Wort mit mir, wenn ich etwas fragte, antworteten sie nicht.
Nachdem Francesca die Kinder zu Bett gebracht hatte, sagte sie: »Geh und pack deine Sachen. Morgen früh um acht will ich dich hier nicht mehr sehen.«
»Darf ich mich wenigstens von ihnen verabschieden?«
»Du kannst dankbar sein, dass wir dich nicht anzeigen.«
»Bitte, bitte, ich möchte mich unbedingt von den Kindern verabschieden.«
»Die Kinder wirst du nie mehr wiedersehen.«