»Wenn deine Mutter erfährt, dass ich in eine orthodoxe Kirche gehe, feuert die mich doch!«, sagte ich, und er lachte und strich über meine Hand.

An meinem freien Tag fuhr ich lieber in die Stadt. Manchmal ging ich zum Busbahnhof, wo samstagnachmittags ein moldawisch-rumänischer Markt stattfand. Die graue Fläche füllte sich mit Ständen, an denen es geblümte Röcke, Russenmützen, Glühwein und Pastrami zu kaufen gab. Das letzte Neujahr habe ich dort verbracht, es gab Musik, und man tanzte im Schnee. Als die Fahrer anfingen, sich zu betrinken, gingen wir – um die zwanzig Frauen – zu einer Moldawierin nach Hause, und vor der Tür formte sich eine lange Reihe schlammverschmutzter Schuhe. Eine legte Musik auf, und wir tanzten miteinander bis in den Morgen,

Oder ich fuhr zu Ikea. Der Traum, mir eine kleine Wohnung zu mieten und die Stelle zu wechseln, meldete sich häufig, und daher schlenderte ich durch die Abteilungen und tat, als wären die Kinderzimmer der Ausstellung für euch. Was hatte ich Lust, mich auf eines der Ehebetten zu legen und mal so richtig auszuschlafen! Ich malte mir aus, dass all diese hellen, sauberen Räume mir gehörten, oder ich unterhielt mich mit den Beratern, und wenn ich zu Elena zurückkam, hatte ich die Bilder von einem Wohnzimmer mit weißen Möbeln im Kopf, wie bei den Anwälten.

 

Ich fragte Matteo, ob ich nicht als Pflegerin in seinem Krankenhaus arbeiten könne, doch er erklärte mir, dafür brauche man mindestens einen Bachelor und müsse sich gegen die Konkurrenz vieler anderer Bewerber durchsetzen. Wie oft habe ich mit dem Gedanken gespielt, wieder zur Uni zu gehen und zu studieren … aber letztlich habe ich das Vorhaben nie in die Tat umgesetzt. Die Zeit vergeht, und aus Ambitionen werden Wunschvorstellungen, ich rede über die Projekte, die ich im Kopf habe, und bin die Erste, die nicht daran glaubt.

»Einen Kurs würde ich gern belegen!«, antwortete ich begeistert.

»Wenn du mich fragst, ich finde auch, du solltest dir was anderes suchen, du kannst nicht dein ganzes Leben lang Altenpflegerin sein.«

»Warum nicht?«

»Du bist am Ende, das sieht man.«

Wenn Matteo bei seiner Mutter vorbeischaute, setzte er sich aufs Sofa, schlug die Beine übereinander und redete auf seine geistreiche Art, die mich in gute Laune versetzte. Seine Anwesenheit war immer eine schöne Abwechslung in der Monotonie der Tage.

»Weißt du eigentlich, dass ich abends früher einschlafe, wenn du uns besucht hast? Und deine Mutter wacht auch seltener auf. Du müsstest öfter kommen«, sagte ich.

»Aha, ich habe also eine einschläfernde Wirkung auf euch?!«

»Aber nein!«, antwortete ich und wurde knallrot.

An den anderen Abenden schlief ich tatsächlich ewig nicht ein. Ich wusste ja, dass Elena mich gegen zwei wieder wecken würde, deshalb wartete

 

An einem dieser Abende hatte ich Huhn gekocht, und in der Werbepause wollte Elena auf Toilette.

»Soll ich mitgehen, Signora?«

»Nein, das mache ich selbst. Und wenn ich zurückkomme, möchte ich, dass du mich duzt, das ist praktischer. Schließlich leben wir zusammen wie Schwestern.«

Im Flur entglitt ihr der Rollator, und sie stürzte. Sie winselte wie ein verletztes Tier, verlor Blut aus der Augenbraue, und ich schaffte es nicht, ihr aufzuhelfen. Schließlich brauchte es drei Mann, um sie auf die Trage des Krankenwagens zu hieven. Und so saß ich mitten in der Nacht in der Notaufnahme zusammen mit Elenas Sohn und Tochter, die kaum ein Wort miteinander wechselten. Ich weiß nicht, was in mich fuhr, aber als die Ärzte sagten, sie habe sich den Oberschenkelknochen gebrochen, fing ich an zu schreien. Matteo brachte mich nach draußen und gab mir ein Valium.

Als ich nichts sagte, hängte er sich bei mir ein und führte mich zu einer Bank im Freien unter einem rostigen Schutzdach.

»Was ist los?«, fragte er noch einmal.

»Ich weiß nicht, entschuldige«, sagte ich und schluckte die Tablette. »Es tut mir leid für deine Mutter – und es tut mir leid für mich. Ich will diese Arbeit nicht verlieren, ich weiß nicht, wo ich hingehen soll.«

»Sollte es dazu kommen, werden wir dir ausreichend Zeit geben, dir etwas zu suchen, keine Sorge.«

Wir gingen zu den Getränkeautomaten, ich nahm einen heißen Tee und beruhigte mich etwas. Dann fuhr Matteo mich zurück nach Quarto Oggiaro. Da er auf der Arbeit alles stehen und liegen gelassen und seit dem Morgen nichts gegessen hatte, ging ich mit ihm in einen Fast-Food-Laden, wo wir uns ein Stück Pizza holten. Matteo wirkte unheimlich ruhig und gescheit.

Zu Hause duschte ich und suchte vor dem Spiegel die Stellen, wo Signora Elena mir die Spritzen gesetzt hatte. Der Abend fiel mir ein, als sie mein Haar gekämmt und mit dünner Stimme ein Kirchenlied gesummt hatte. Als ich in der Nacht aufstand, um ein Glas Wasser zu trinken, ging ich

Am nächsten Tag sagten die Ärzte, Elena müsse in einer bedarfsgerechten Einrichtung bleiben und dass ich allein sie kaum würde versorgen können. Da sie fürs Erste im Bett bleiben müsse, sähen sie keine andere Lösung, als sie in ein Pflegeheim zu verlegen.

»Das ist das Los der Fettleibigen«, sagte ein Arzt missbilligend.

Matteo und seine Schwester sahen sich sorgenvoll an, sie wussten, ihre Mutter würde die Nachricht alles andere als erfreut aufnehmen. Und so war es auch. Nachdem sie es ihr eröffnet hatten, drehte Elena den Kopf weg und sagte kein Wort mehr. Von diesem Tag an sprach sie nur noch, wenn sie ein Glas Wasser wollte. Mit glasigen Augen starrte sie die Wand an und murmelte vor sich hin: »Ich habe sie großgezogen, sie und ihre Kinder. Wie können sie mich nur so abstellen? Haben sie denn gar kein Herz?«

Matteo und ich begleiteten sie ins Pflegeheim. Wir folgten dem Krankenwagen, der mit ausgeschalteter Sirene nach Pavia fuhr. Um das Heim herum gab es nichts als die Straße, Wegweiser, auf denen die Dörfer der Gegend angezeigt wurden,

Matteo bat den Krankenträger, er möge ihn den Rollstuhl bis ins Zimmer schieben lassen.

»Bringst du mich zum Sterben her?«, rief Signora Elena laut, damit alle es hören konnten. »Matteo, ich rede mit dir, willst du, dass deine Mutter hier drin stirbt?«

Um sie hinlegen zu können, brauchten sie einen Patientenlifter. Das Bett hatte einen Knopf, mit dem sich die Rückenlehne nach oben oder unten verstellen ließ, mehr Bewegungen waren ihr nicht mehr vergönnt. Jetzt fragte ich den Pfleger, ob ich sie umziehen dürfe, und er lächelte. Wie sehr ich ihn um seine Arbeit beneidete, morgens kommen und abends in eine Wohnung gehen, die nur mir gehört, mich um eine Gruppe alter Menschen kümmern, aber um niemanden im Besonderen, sie sechs, sieben Stunden unterstützen und danach ins Freie hinaustreten und jene Sonnenstrahlen auf der Haut spüren, die in die Gänge und Zimmer einfallen.

Ein letztes Mal zog ich Elena um, berührte ihre großen, schlaffen Brüste, die fette, faltige Haut, die noch immer von einem kräftigen Rosa war. Der südamerikanische Pfleger brachte ihr gedünsteten Apfel, angewidert schaufelte Elena ein paar Löffelvoll in sich hinein, dann ließ sie ihn auf dem

 

Auf der Rückfahrt nach Quarto Oggiaro hörten wir Lou Reed. Matteo telefonierte mit seiner Schwester und berichtete ihr, alles sei gut gelaufen. Sie antwortete, sie wolle früh am nächsten Morgen zu ihr fahren. Uns alle hatte der Tag geschafft.

»Wenn ich mal alt bin, bin ich hoffentlich noch so selbständig, dass ich mich zum Sterben einfach in eine Ecke verziehen kann wie die Spatzen«, sagte er.

»Ich auch. Einfach auf den Boden legen, die Augen schließen und die Namen meiner Kinder aufsagen.«

»Genau so. Ohne etwas zu brauchen«, schloss er, dann drehte er die Lautstärke auf und sang aus voller Kehle.

In der Wohnung von Signora Elena tranken wir Kaffee, dann setzten wir uns aufs Sofa und schauten aus dem Fenster, wie sie es an Winternachmittagen immer getan hatte. Ich hätte gern etwas Intelligentes oder Tröstliches zu Matteo gesagt, aber mir fiel nichts ein. Schweigend saßen wir da, und als ich ihm ins Gesicht blickte, da küsste er mich schon mit einer schroffen, geplanten Bewegung. Im Nu hatte er mich ausgezogen, und wir

Matteo ließ den Kopf nach hinten fallen und betrachtete keuchend die Decke. Ich wollte gleich noch mal mit ihm schlafen, aber ich weiß nicht, ob er keine Lust mehr hatte oder ob er einfach nicht mehr konnte. Er legte sich auf meine Beine und starrte weiter an die Decke, dann griff er mit der Hand in seinen ledernen Aktenkoffer und holte ein Buch heraus.

»Für dich«, sagte er. »Es ist das Lehrbuch, das meine Tochter in Kunstgeschichte benutzt. Ich mag Schulbücher.«

Ich lächelte, streichelte sein Haar, dann ließ ich mich langsam zu Boden gleiten, kniete mich hin und begann ihn zu küssen. Er streichelte meinen Kopf, und während ich ihn küsste, drückte er mich immer fester an sich und sagte immer wieder meinen Namen. Draußen senkte sich der Nebel.

Nackt lagen wir auf dem Sofa neben dem Fenster und blätterten das Lehrbuch durch. Irgendwann hielt Matteo inne und betrachtete ein Bild, das ich nicht kannte: Aeneas, der seinen Vater Anchises auf dem Rücken trägt. Ein schräger Lichtstrahl fiel auf den Helden.