»Wenn er noch am Leben wäre, würde ich jetzt hier mit ihm sitzen, die Angelrute in der Hand, und darauf warten, dass eine Forelle anbeißt«, sagte er, wobei er Grashalme zwischen den Fingern zerrieb. »Ihr dagegen fragt mich dauernd, warum ich nichts sage, warum ich nicht rausgehe, warum ich keinen anrufe …« Er schnaubte und warf die Halme ins Wasser.

»Du redest halt so wenig, da machen wir uns Sorgen. Früher hast du nicht eine Sekunde den Schnabel gehalten.«

»Du musst gar nichts sagen, du hast ja nicht mal mir verraten, dass du verlobt bist.«

»Was hat das damit zu tun?«

»Ich sag nichts, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll.«

»Steh mal auf«, befahl ich ihm.

Manuel sah mich erstaunt an, und ehe er dagegen protestieren konnte, nahm ich seine Arme und brachte sie zum Kreisen, wie die Physiotherapeutin.

»Okay«, antwortete er ausdrucklos.

Ich massierte ihm die Schultern, er ließ den Kopf nach hinten fallen und kniff die Augen zusammen, damit ihn die Sonne nicht blendete. Dann setzten wir uns im Schneidersitz wieder ans Ufer und betrachteten die sanften Wellen des Sees, die über dem Gras ausliefen. Auf dem Wasser spiegelte sich das Licht.

»So, und jetzt mal im Ernst: Was schenkst du mir zur Hochzeit?«

»Nichts.«

»Komm schon, nicht so knickerig.«

»Dann sag, was du gern hättest.«

»Du könntest mir dabei helfen, die Heiratsanzeigen zu schreiben. Gedruckte kosten Geld, und aussehen tun sie wie Rezepte vom Arzt.«

»Aber du musst mir vorgeben, was ich schreiben soll, ich schreib nur ab.«

»Einverstanden«, sagte ich und zündete mir eine Zigarette an. Er setzte sich plötzlich kerzengerade auf und schaute mich an. »O nein, vergiss es … Wenn ich dich nur einmal beim Rauchen erwische, dann kannst du was erleben!«

»Komm schon, Angi, nur einmal ziehen.«

»Du bist doch nicht meine Mutter.«

»Gott sei Dank.«

»Komm, nur mal ziehen!«

»Nein, hab ich gesagt!«

Als Manuel versuchte, mir die Kippe aus der Hand zu reißen, schmiss ich sie kurzerhand ins Wasser. Wir sahen zu, wie sie obenauf schaukelte, als wäre sie ein Kanu. Eine Weile sagten wir nichts. »Da wäre noch etwas, das du tun könntest«, sagte ich dann.

»Und das wäre?«, erwiderte er gelangweilt.

»Ich fänd’s schön, wenn Papa bei der Hochzeit dabei wär.«

Manuel ließ den Kopf hängen, und in seinem Nacken sah ich das Stück Haut, wo ihm keine Haare mehr wuchsen. Stressbedingter Haarausfall, hatte der Arzt gesagt. Den hatte er bekommen, kurz nachdem Mama weggegangen war.

»Dazu müsste man wissen, wo der sich rumtreibt«, murmelte er und wühlte mit der Hand im Boden.

»Er arbeitet als Lastwagenfahrer, er ist jeden Tag an einem anderen Ort.«

»Moma möchte bestimmt nicht, dass er bei der Hochzeit dabei ist.«

»Es ist meine Hochzeit, nicht ihre.«

»Ja«, antwortete ich und lachte. »Einmal bin ich auf dem Badetuch eingeschlafen, und er hat sich ganz leise angeschlichen und mich wie einen Kartoffelsack auf seine Schulter genommen und ins Meer geworfen. Und wir sind immer ewig im Wasser geblieben.«

»Meinst du, sie kommen wieder zusammen?«

»Mir würde es genügen, wenn sie beide bei meiner Hochzeit dabei wären.«

»Als wir klein waren, waren sie ein schönes Paar.«

»O ja, ich war verliebt in ihre Liebe.«

»Komm, Angi, ruf ihn einfach an!«

Ich schaute ihm in die Augen, und als er den Satz voller Begeisterung wiederholte, fasste ich mir ein Herz. Ich probierte es drei Mal, aber Papa ging nicht dran.

»Los, versuch du mal«, sagte ich zu Manuel, und bei ihm sprang die Mailbox an.

»Hallo, Papa, hier ist Manuel, wie geht’s? Mir geht’s gut, ich bin jetzt wieder zu Hause. Besser gesagt, allmählich geht es aufwärts. Und was machst du so? Ich sitz hier mit Angelica am See, und die muss dir was sagen, hör mal.«

Wir saßen da und schauten auf den See. Ein leichter Wind kam auf und kräuselte das Wasser, endlich war es nicht mehr so drückend.

»Schade, dass ich nicht wach war, als er mich im Krankenhaus besucht hat«, sagte Manuel und klopfte sich das Gras von der Hose.

»Schlafmütze!«, rief ich und half ihm beim Aufstehen.

 

Gegen sechs machten wir uns auf den Heimweg. Während wir am Wald entlanggingen, zogen Wolken auf, und der Himmel wurde dunkel. Ein Hase rannte zwischen den Bäumen hindurch. »Schau, Angi!«, rief Manuel.

Gemächlich gingen wir weiter. »Dieses Dorf ist doch wunderschön«, sagte er nach einer Weile. »Es gibt Hasen, den See … Warum gehen alle weg?«

»Weil es keine Arbeit gibt.«

»Das muss ja nicht so bleiben.«

»Wenn du auf die Uni gehst, wird’s dir hier auch zu eng werden.«

»Und was möchtest du dann machen?«

»Ich möchte in Opas Garten sein, auf dem Markt Samen kaufen und Tomaten pflanzen. Ich möchte mich um den Kirschbaum kümmern und die Mansarde ausbauen, sobald es mir besser geht.«

»Dein ganzes Leben lang Tomaten pflanzen?«

»Was ist daran schlecht?«

»Hm, mach erst mal das Gymnasium zu Ende.«

Manuel wollte noch länger laufen, und so gingen wir bis zum Sägewerk und weiter über die befestigte Straße, wo haufenweise Schrott herumliegt. Unter der Holzbrücke hindurch gelangten wir zu den staubigen Zypressen des Friedhofs und betrachteten die Häuser: Jedes zweite oder dritte stand leer, die Rollläden seit Monaten heruntergelassen. Ab und zu war eins neu hergerichtet worden, andere, wie das unsere, den Unbilden des Wetters ausgesetzt und wieder andere zur Sommerfrische ehemaliger Einwohner von Rădeni umfunktioniert, die mittlerweile in irgendeiner fernen Stadt lebten.

Auf einer blaugestrichenen Veranda saß Damian vor dem Haus seines Onkels. Wir grüßten ihn, er hob den Kopf.

Manuel zuckte mit den Achseln und zog die Mundwinkel herunter: »Ich find das nicht besonders tröstlich. Mit Damian hab ich mich schon ab und zu getroffen, aber am Schluss ging’s nur noch darum, wessen Mutter mehr Sachen schickt.«

»Weißt du, was«, gestand ich ihm mit einem Lächeln, »ich hab in der Schule versucht zu verheimlichen, dass Mama in Italien arbeitet.«

»Ich wette, sie hätten dich gefragt, wie viel sie verdient, wie reich wir jetzt sind, wie viele Klamotten sie dir schickt …«

»Genau. An der Uni war es anders, die Mädchen waren solidarischer untereinander. Vielleicht wird es dir auch so ergehen.«

»Ich geh nicht auf die Uni, hab ich doch schon gesagt. Und ich hab kein Bock, über Moma zu reden.«

»Bist du wütend auf sie?«

»Glaub nicht«, antwortete er verwirrt und räusperte sich.

 

Als wir den Dorfplatz erreichten, hatte es angefangen zu regnen. Wir gingen Brot kaufen, und als

Draußen goss es jetzt, und ich rannte los, Manuel tat instinktiv dasselbe, blieb aber nach wenigen Schritten stehen, ging in die Knie und hielt sich die Schulter. Ich kehrte um und kauerte mich vor ihm hin, um ihm ins Gesicht zu sehen.

»Entschuldige, ich bin echt zu doof, ich hab nicht dran gedacht«, sagte ich und suchte seinen Blick.

»Ich kann nicht mehr rennen, Angi.«

»Lass dir Zeit, du bist ja grad erst rausgekommen.«

»Wenn ich einschlafe, habe ich Angst, ich wache nicht mehr auf.«

»Du solltest die Tropfen nehmen, die sie dir im Krankenhaus gegeben haben, die würden dir helfen.« Ich streichelte ihm über das nasse Haar.

Ich ließ ihn in dem Unwetter weinen, und erst als er sich ein wenig gefasst hatte, gingen wir weiter. Langsam und ohne auf die Pfützen zu achten, in denen sich ein schmutziges Licht spiegelte. Ich schämte mich dafür, dass ich wütend auf ihn gewesen war, doch ich spürte: Diese Wut war echt, sie steckte mir in den Knochen.

Der Garten der Großeltern wird von einer kleinen Trockenmauer eingefasst, Manuel wollte dort eine Pause machen und lehnte sich mit den Ellbogen auf die Steine. Er betrachtete die Zucchini, die Salatköpfe, die gierig den Regen tranken, die Weißdornhecke.

»Der Garten fehlt mir.«

»Wenn’s dir bessergeht, kannst du ja wieder hin.«

»Diese Zucchini hab ich gesät, siehst du, wie groß sie geworden sind?«

»Hör mal, darf ich dich was fragen?« Ich stützte mich wie er auf die Ellbogen. »Sonst werd ich das nie tun.«

Gedankenverloren betrachtete Manuel das Grün: »Wenn wenigstens Opa noch da wäre …«, seufzte er. »Wenn ich dem etwas im Vertrauen gesagt hab, hat er nie so reagiert wie ihr. ›Schauen wir mal‹, hat er immer gesagt.«

»Was wolltest du mich fragen?«, sagte er, als wir unter der Pergola standen.

Ich blieb stehen und schaute ihn an, das nasse T-Shirt offenbarte, wie mager er geworden war.

»Was ist jetzt? Ich muss rein, mich umziehen.«

»Es tut mir leid, dass ich an dem Morgen so mit dir geschimpft habe, ich war so nervös. Entschuldige.«

»Okay, aber was wolltest du mich fragen?«

»Dieser Unfall«, sagte ich und zwang mich, ihm ins Gesicht zu sehen. »Wolltest du das, oder ist das aus Versehen passiert?«

Ein seltsamer Ausdruck trat auf sein Gesicht, den ich noch nie an ihm gesehen hatte. Einen Augenblick lang machte er mir Angst.

»Weiß ich nicht mehr«, sagte er und ließ mich an der Tür stehen.