In die Schule ging ich nicht mehr, ich blieb bei meinen Großeltern: ohne Petru, ohne Disko und ohne Irina, der ich ein paar Mails schrieb, ohne sie abzuschicken. Mein einziger Freund war jetzt Opa Mihai, verglichen mit Petru eine ziemlich krasse Veränderung. Die Abmachung lautete, dass ich ihm im Gemüsegarten zur Hand ging und allgemein seinen Anweisungen Folge leistete.
»Sonst bringe ich dich ins Heim.«
»Nach Iaşi?«, fragte ich hoffnungsvoll.
»Nein, irgendwo anders hin. Um Iaşi machst du vorläufig besser einen Bogen.«
Jeden zweiten Abend rief ich Moma an, obwohl ich keine Lust hatte, mit ihr zu sprechen, aber Angelica hatte mich gebeten, mich zu überwinden. Sie leide unter unserer Funkstille und mache eine schwere Zeit durch, seit sie nicht mehr Kindermädchen sei. Um Moma nicht zu beunruhigen, spielten die Großeltern die Sache mit der Schule mit, ich sollte das im Sommer mit ihr unter vier Augen klären. Im internationalen Gymnasium wollte ich jedenfalls nicht bleiben, ich wollte jetzt auf die Landwirtschaftsschule.
In dieser Zeit brachte Opa Mihai mir vieles bei: wie man den Garten in Ordnung hält, wie man Geranien in Bohnenbüchsen zieht, wie man Schnittabfälle verbrennt. Ich mochte es sehr, den Rauchfahnen zuzusehen, bevor ich die Überreste über die Erde verstreute … Ein paar Mal nahmen er und die anderen aus dem Dorf mich zur Obsternte mit, das Geld, das ich verdiente, durfte ich behalten. Wenn er mich müde und hungrig zum Abendessen erscheinen sah, kommentierte er: »Arbeiten tut gut. Es gefällt dir, das sieht man.«
Auch Angeln habe ich von ihm gelernt. Sonntags oder manchmal nachmittags, wenn es zu heiß für die Gartenarbeit war, zogen wir los. Wir mussten Köder vorbereiten, Brotstückchen, Würmer, Haken. Auf gar keinen Fall durften wir etwas vergessen, und Opa ermahnte mich, bei allem, was ich tat, sorgfältig zu sein.
Am See saßen wir stundenlang auf unseren Klappstühlen, den Strohhut auf dem Kopf. Ich lauschte auf das Geräusch des Wassers, folgte dem Flug der Vögel, die über uns hinwegsegelten, und dachte an Irina. Opa Mihai betrachtete den Himmel, und wenn er die Augen zusammenkniff, wurde sein Gesicht faltig wie Leder. Ich fühlte mich geborgen, mit ihm zusammen dort an diesem See mit all dem Wasser. Alles schien weit weg. Die Zeit, als Papa noch bei uns war und Moma für mich gesorgt hatte, war fast nicht mehr wahr.
Im Juni wurden die Zeugnisse ausgegeben, Petru und ich blieben danach noch ein bisschen auf der Schultreppe sitzen und betrachteten sie, dann gab er mir zur Aufmunterung einen Klaps auf den Arm, und wir schlugen den Weg neben den Gleisen ein, an den mit Graffiti übersäten Mauern entlang. Neben den Oberleitungsmasten, wo die Störche ihre Nester bauen, blieben wir stehen. Petru wollte Klebstoff sniffen, aber ich hatte keine Lust dazu, mir reichte mein Pakistani, den ich mir rücklings auf einen Stein gefläzt reinzog.
Oma und Opa und auch Angelica wollten es Moma nicht sagen, aber da hab ich nicht mitgespielt. Ich bin in den Garten und hab sie angerufen.
Sie war gerade mit Oreste unterwegs, dem Alten, bei dem sie zuletzt war.
»Moma, ich bin sitzengeblieben.«
Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie musste sie schon damit gerechnet haben, denn sie hat nicht rumgebrüllt. Es tue ihr leid für mich, hat sie gesagt, und dass es ihre Schuld sei.
»Hätte ich dir helfen können, hättest du es vielleicht geschafft, aber ich muss ja hier im Exil bleiben.«
»Mit dir hätte ich es geschafft, Moma.«
»Nächstes Jahr läuft es bestimmt besser.«
»Ja, aber ich möchte die Schule wechseln.«
Da ist sie auf einmal doch ausgerastet und hat mit ihrer durchdringenden Stimme unablässig auf mich eingeredet, dass dies die beste Schule der Stadt sei und sie sich seit Jahren abschufte, um uns das Beste zu ermöglichen.
»Lernen ist der einzige Weg, um nicht so zu enden wie ich und dein Vater, begreifst du das?«
Ich ließ sie toben und sagte dann, es sei ja nur eine Idee, wir könnten noch mal drüber reden, wenn sie wieder hier sei. In Wirklichkeit war der Plan schon gefasst, diesen Leuten – dieser Schule mit ihrem Stoff und ihren Lehrern – den Rücken zu kehren. Wenn ich unser Grundstück und unser leeres Haus so betrachtete, dachte ich, wie schön es wäre, im Garten zu arbeiten und Ferien auf dem Bauernhof anzubieten. Klar, Feriengäste gibt es keine in Rădeni. Nicht mal mehr Menschen gibt es noch hier, ein paar Alte sind noch da wie Opa Mihai – und ein paar vereinzelte Kinder wie ich. Alle gehen von hier weg, ich weiß. Aber vielleicht wird sich das eines Tages wieder ändern, und die Mütter, die im Ausland arbeiten, kommen zurück, und die Leute lernen diese Gegend zu schätzen. Auch von der Diktatur hat man gedacht, sie würde nie enden. Jedenfalls, seit ich bei Oma und Opa lebe, kommt Rădeni mir unheimlich schön vor … Der See, die Sonnenblumen, die blauen Berge, die bunten Klöster, und nur einen Steinwurf entfernt liegt Moldawien, das Oma den »Garten der Sowjetunion« nennt. Vielleicht wird es so geschehen wie mit den halbtoten Pflanzen, die die Nachbarn ihr bringen, weil sie so einen grünen Daumen hat.
»Was mühst du dich ab, wenn sie kaum mehr zu retten sind?«, fragt Opa sie manchmal.
»Und was kostet es dich, ihnen ab und zu ein bisschen Wasser zu geben und mit ihnen zu sprechen?«, erwidert Oma Rosa, während sie mit zwei Fingern die Erde im Topf befühlt. Und ein paar Wochen später sind sie wieder da: aufrecht, strahlend, neu ergrünt.
Als Opa von meinem Plan, Ferien auf dem Bauernhof anzubieten, erfuhr, schüttelte er den Kopf.
»Warum tust du so? Findest du das blöd, oder was?«
»Nein, Manuel. Die Idee ist gut, aber es wird nicht leicht.«
»Vielleicht war’s unter den Kommunisten einfacher.«
»Aber was redest du da …«, fuhr er auf. »Die haben Träume nicht mal zugelassen.«
»Ich will nicht von hier weg, wozu auch? Um Lastwagen zu fahren wie Papa oder Alte zu pflegen wie Moma?«
»Mit einer guten Ausbildung musst du solche Arbeiten nicht machen.«
»Ich will aber nicht mehr in die Schule.«
»Wenn du die Schule abbrichst, tust du deiner Mutter sehr weh, das weißt du.«
»Ja, aber wenn ich auch noch weggehe, wird niemand das Dach decken, nur noch der Baum wird das Haus schützen. Wer passt auf unsere Häuser auf, wenn alle gehen?«
Opa stützte sich auf die Harke, lockerte das Tuch, das er immer eng um den Hals trug, wischte sich mit dem Handgelenk den Schweiß ab, der ihm von der Nase tropfte, und sah mich aufmerksam an: »Ich könnte auch nicht woanders leben als hier, Junge. Was die Leute Fortschritt nennen, kommt mir wie ein Unfug vor, der die Menschen nur schlechter gemacht hat. Aber ich bin ein alter Mann, wenn ich so alt wäre wie du, ich würde nicht hierbleiben und auf diese sterbende Welt bauen.«
Moma war ein ganzes Jahr nicht mehr nach Hause gekommen. Sie wirkte sehr verändert, das T-Shirt, das wir ihr zum Geburtstag geschenkt hatten, schlabberte an ihrem Körper. Ich schämte mich für meine bösen Unterstellungen.
»Isst du auch genug in Mailand?«, fragte Oma Rosa.
»Ich habe nie viel gegessen, das weißt du doch«, antwortete Moma und sah woanders hin.
»Früher hattest du volle Wangen, jetzt sind sie ganz eingefallen«, fügte Opa hinzu.
»Vergiss nicht, Daniela«, redete Oma auf sie ein, »selbst wenn du in einer Familie landest, die dich mit Gold überschüttet, keiner kümmert sich um die, die sich kümmern. Also pass auf dich auf, haben wir uns verstanden?«
»Ich pass schon auf mich auf, Mama, keine Sorge«, sagte Moma und wechselte schnell das Thema.
Dass ich sitzengeblieben war, damit hatte Moma sich abgefunden; mit der Vorstellung, die Schule zu wechseln, nicht. Sie wollte auf Teufel komm raus, dass ich das Jahr in diesem verdammten Privatgymnasium wiederholte: »Wozu führe ich dieses Leben, wenn du dich nicht anstrengst? Weißt du noch, wie gut du in der Mittelschule warst?«
»Ja, aber ich hab mich verändert.«
»Als Kind hast du gesagt, du wolltest Lehrer werden.«
»Moma, das sagt man halt so. Ich hab auch gesagt, ich will Profi bei Steaua werden, dabei kann ich den Ball keine zwei Mal hochhalten!«
»Machen wir es so«, schloss sie und zündete sich eine Zigarette an. »Lass uns noch ein bisschen darüber nachdenken, und entscheiden tun wir, bevor ich wieder fahre.«
Ich beharrte nicht darauf, die Leier kannte ich zur Genüge, das lief immer auf dasselbe hinaus: Du kannst tun und lassen, was ich will.
Also haben wir die Sache nicht mehr erwähnt. Moma hatte viel zu tun, bestellte Elektriker und Maurer, um Reparaturen im Haus erledigen zu lassen, und vom Markt kam sie jedes Mal mit Geschirr und kleinen Dingen zurück, mit denen sie Küche und Wohnzimmer schmückte, oder mit Holzrahmen, in denen sie ihre alten Aquarelle aufhängte, wie Angelica und ich ihr geraten hatten.
Fast einen Monat haben wir zusammen zu Hause verbracht, und das Haus war jeden Tag erfüllt von den Düften der Sachen, die sie für uns kochte. Meine Schwester und ich waren verrückt nach italienischem Essen, wenn es nach uns gegangen wäre, hätten wir uns nur von Tagliatelle mit Bolognese und paniertem Schnitzel ernährt. Ihre Freundin Anna war ebenfalls für die Ferien nach Rădeni zurückgekehrt, und mit ihr saß Moma – in ärmellosem Kleid und mit Ledersandalen – Stunden in der Küche und redete, oder sie fuhren zusammen mit dem Fahrrad durch die Obstgärten. Die Zeit mit Anna brachte den Glanz in Momas Augen zurück.
Eines Nachmittags, als Moma und ich in der Mansarde ein bisschen saubermachten, erzählte ich ihr, dass ich ein Bed and Breakfast oder einen Ferienbauernhof aufziehen wollte.
»›Zum Waggon‹ werde ich ihn nennen, Opa zu Ehren«, sagte ich überschwänglich.
Sie lachte und nahm mich in die Arme.
»Hör auf, mich so zu behandeln!«, schrie ich und stieß sie von mir.
»Hey, beruhige dich, ich wollte dich doch nur umarmen!«
»Du behandelst mich, als wär ich ein Vollidiot!«
»Ich möchte dir nur zeigen, wie lieb ich dich habe!«
»Dann lass mich die Schule wechseln.«
»Hör zu, Manuel, das hast du dir jetzt in den Kopf gesetzt, aber schon morgen wirst du es anders sehen. Auf dem internationalen Gymnasium lernst du Sprachen, dann kannst du studieren, was du willst, alle Wege stehen dir offen. Glaubst du wirklich, als Bauer in Rădeni könntest du glücklich werden? Komm, Schatz, sieh es doch ein!«
Ich trat ans Fenster und betrachtete den sonnenbeschienenen Pfad. Es ging mir besser, wenn ich ihr den Rücken zudrehte.
Dann ging ich nach unten und wartete unter der Pergola, dass es Zeit fürs Essen wurde. Als wäre nichts gewesen, begann Moma, den Tisch zu decken und über belangloses Zeug zu plappern, doch ich wollte nicht mal ihren Blick kreuzen. Um sieben kamen die Großeltern, die zum Glück immer mit uns zu Abend aßen. An diesem Abend war auch Mario dabei, der Nachbar, der Opa Mihai in der Nacht der Disko nach Iaşi gefahren hatte. Ich mochte Mario, mit seinem abstehenden Schnauzbart und seinem bärigen Lachen.
Angelica fiel es noch schwerer als mir, mit Moma zu reden, sie war so obsessiv. Schule, Geld, Essen, Hausputz … sie regte sich über alles auf, über Krümel auf dem Tisch genauso wie über Katzenhaare an den Kleidern. Vor dem Schlafengehen teilten wir uns eine Zigarette unter der Pergola. Heimlich, denn wenn Moma erfahren hätte, dass wir rauchten, hätte es eine endlose Standpauke gesetzt, während der sie natürlich eine Camel nach der anderen geraucht hätte.
Es wurde September, und die Schule ging wieder los, welche, ist ja klar. Obwohl ich das ganze Jahr damit verbrachte, aus dem Fenster zu schauen und zu würfeln, kam ich durch, weil ich vieles halt schon wusste. In der Klasse war ich ein Niemand, die Schüler aus der 1c waren identisch mit denen aus der 1a im Jahr zuvor, aber sie ließen mich in Ruhe. Und mir war es recht so. Moma hatte ein Passwort, mit dem sie meine schulische Performance kontrollieren konnte, und schrieb den Lehrern Mails, um aus der Ferne Informationen über mein Betragen und meine Leistungen einzuholen. Wenn ich die Hausaufgaben fertig hatte, spielte ich ein bisschen Nintendo, las einen Comic und ging dann in Opas Gemüsegarten. Petru sah ich nur selten – manchmal aßen wir nach der Schule gemeinsam ein Brötchen –, aber abends ging ich nicht mehr aus. Ich stand unter Sonderbewachung, Fehlverhalten ausgeschlossen.
Die Nachmittage waren endlos, stundenlang lag ich auf dem Bett und starrte an die Decke. Ich dachte an Moma, die so weit weg war, manchmal an Papa, wie er mit seinem Laster über die verlassenen sibirischen Straßen fuhr, oder an Angelica, die bestimmt nicht studierte, um den Rest ihres Lebens oben in der Mansarde zu verbringen. Aber mir war das inzwischen alles egal. Ich kam mir vor wie der Einzige, der sein Leben nicht in Angriff nehmen konnte. Die können mich alle mal, sagte ich mir, aber ohne den Zorn von früher. Wenn ich überhaupt mal die Fäuste ballte, dann bei der Erinnerung an die Nacht mit Irina und der Vorstellung, wie sie in der Diskothek jetzt mit einem anderen tanzte. Oder nein, bei der Vorstellung, wie sie mit einem anderen eine Zigarette rauchte und ihm all die Dinge erzählte, die sie mir anvertraut hatte, und wie sie den Rauch auf diese vulgäre und zugleich süße Art ausstieß, die sich mir unauslöschlich eingeprägt hatte. Wohingegen ihr der pickelige Loser von damals, der ihre Hand losgelassen hatte und zu seinem Opa gerannt war, bestimmt nicht fehlte. Manchmal durchstöberte ich die sozialen Medien, die Adressen der kirchlichen Einrichtungen und Gotteshäuser in Iaşi, aber es war zwecklos. Ich wusste ihren Nachnamen nicht, ich wusste ihre Adresse nicht, ich wusste auch den Nachnamen ihrer Freundin nicht – gar nichts wusste ich! Abends vor dem Schlafengehen dachte ich an sie und befriedigte mich, aber danach fühlte ich mich nur noch mieser. Leer.