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Neele

»Ciao, Neele!« Meine beiden Kollegen machen sich schnell in den Feierabend, bevor mir noch irgendetwas einfällt, womit ich sie belästigen könnte. Dabei bin ich froh, dass sie verschwinden, denn ich werde jetzt auch gehen, weil ich heute mit meinem Boot rausfahren will.

Vorher überfliege ich noch mal den Bericht, den ich an den Staatsanwalt senden muss. Ein übles Thema war das. Da streiten sich zwei junge Typen, gerade mal achtzehn geworden, um eine Braut. Zwei testosterongesteuerte Kumpel, von denen einer ein Messer zieht. Leider landet die Klinge ganz geschmeidig zwischen der fünften und sechsten Rippe, genau im Herzbeutel des anderen. Exitus. Die Zeugen: zwei Türsteher und etwa dreißig Discobesucher. Und natürlich hat jeder etwas anderes gesehen. Ein Alptraum. Aber jetzt ist der Fall abgeschlossen. Zufrieden drücke ich auf Senden und stehe auf. Ab in den Feierabend.

In dem Moment klingelt mein Handy. Mein Vorgesetzter, Dr. Schütz. Das kann nichts Gutes bedeuten. Seufzend nehme ich das Gespräch an.

»Guten Abend«, begrüßt er mich, »mit dem Dickomord sind Sie durch, gratuliere.«

Wenn er so freundlich ist, hat er garantiert einen Auftrag, das kenne ich schon.

»Ein neuer Fall, Frau Eriksson. Ein Sylter Schönheitschirurg wurde in Spanien ermordet, im Urlaub auf dem Jakobsweg. Vorsätzliche Tötung, die spanischen Kollegen haben Amtshilfe beantragt, sie vermuten den Mörder hier in seinem Umfeld.«

Ich schweige erst mal und warte, was noch kommt.

»Der Mann ist auf Sylt eine Art Promi. Und außerdem, das ist jetzt etwas delikat: Der Leiter der Sylter Kriminalpolizei, ein Michael Müller, hat den Toten gefunden.«

»Was sagen Sie?«

»Er war gerade auf dem Jakobsweg wandern, im Urlaub, und hat den Arzt zufällig einen Tag vor dessen Tod kennengelernt. Und dann war ausgerechnet er es, der den Toten auf seiner Wanderstrecke entdeckt hat. Alles sehr seltsam. Aber der Kollege hat ein wasserdichtes Alibi.«

»Welches Alibi hat er?«, hake ich nach.

Dr. Schütz räuspert sich. »Wie gesagt, Müller lernte den Arzt zufällig im Hotel kennen und kam mit ihm ins Gespräch. Da sie beide in Sylt lebten, sind sie zusammen essen gegangen. Anschließend haben sie sich getrennt, und Kollege Müller hat einen Kellner getroffen, mit dem er die ganze Nacht und den nächsten Vormittag verbracht hat. Daher hat er auch einen Tag mit dem Wandern ausgesetzt und ist erst einen Tag später dieselbe Strecke gegangen wie zuvor der Arzt. Es gibt mehrere Zeugen, die seine Aussage bestätigen.«

»Ah.«

»Sie sehen, es war einfach ein komischer Zufall. Und ein großes Glück, dass der Kollege ihn am Tag darauf auf seinem Wanderweg entdeckt hat, denn so konnte der Tote schnell identifiziert werden, obwohl er nichts bei sich hatte, weder einen Rucksack noch irgendwelche Papiere.« Dr. Schütz räuspert sich wieder und fährt fort. »Jedenfalls muss Flensburg die Ermittlung übernehmen, und Sie wissen selbst, dass wir unterbesetzt sind. Sie, Frau Eriksson, sind momentan die Einzige, die frei dafür ist.«

Na bravo. »Was ist mit Kühbeck?«

»Ist noch mit dem Wettbüro-Mord der Hells Angels beschäftigt. Er ist nicht abkömmlich. Wie gesagt, Sie sind die Einzige, die verfügbar ist. Sie können den neuen Kollegen mitnehmen.«

»Sie meinen Herrn Ghosh?«

»Äh, genau.«

Na, immerhin kommt Amar Ghosh mit.

»Wie heißt er denn, der Tote?«, will ich wissen.

»Dr. Carsten Kehlheim. Kennen Sie ihn?«

»Nein, der muss neu sein auf Sylt. Wann soll ich hin?«

»Morgen. Sie haben sowieso Bereitschaft am Wochenende, soweit ich weiß. Sagen Sie einfach den Sylter Kollegen Bescheid, wann Sie kommen. Hauptkommissar Michael Müller, also der, der den Toten gefunden hat, ist wie gesagt der neue Dienststellenleiter dort. Die Unterlagen zum Fall finden Sie im Intranet unter der Nummer …« Er diktiert mir die vierzehnstellige Fallnummer. »Da können Sie sich schon mal einlesen.«

Mein Wochenende ist hin. Danke, Herr Schütz.

Auf Sylt habe ich so viel Lust wie auf Bauchweh. Ich komme von der Insel, und meine gesamte Sippschaft lebt noch dort. Nur ich bin geflüchtet, mit neunzehn, gleich nach dem Abitur.

Eigentlich sollte ich unser Restaurant samt Hotel zusammen mit meiner ein Jahr jüngeren Schwester Stefanie übernehmen. Aber das kam für mich überhaupt nicht infrage. Meine Schwester und ich waren schon immer wie Katz und Maus und fanden nie einen Draht zueinander. Die Kluft zwischen uns war weitaus tiefer als die üblichen Eifersüchteleien zwischen nahezu gleichaltrigen Schwestern, wir sind einfach zu verschieden.

Außerdem war mir schon früh klar, dass ich keine Geschäftsfrau bin. Im Gegenteil. Da das Familienbusiness meine gesamte Kindheit prägte, entwickelte ich mit der Zeit eine Abneigung gegen jede Art von Geschäftstätigkeit. Wir wohnten früher direkt über dem Restaurant, so dass ich immer durch den Betrieb gehen musste, wenn ich von der Schule nach Hause kam. Und wehe, meine Kleider waren verschmutzt oder ich lächelte nicht. »Denk an unsere Gäste«, war der tägliche Spruch meiner Mutter, »wir sind Gastgeber und müssen uns auch so benehmen.« Wie ich das hasste.

Ich hatte also nicht die geringste Lust, in den Betrieb einzusteigen, was man mir sehr verübelte. Meine Schwester Stefanie opferte sich dann auf, zumindest nannte sie es so. Sie heiratete unseren hübschen Koch und stieg ins Familienbusiness ein, nicht ohne sich vorher notariell beglaubigen zu lassen, dass ich auf jeglichen Anspruch auf Haus und Restaurant verzichtete. Sie war halt schon immer recht geschäftstüchtig, meine kleine Schwester. Aber ich war so froh, dem Druck zu entkommen, dass ich alles unterschrieben hätte. Außerdem zahlten sie mich mit 250.000 Euro aus, so dass ich mir eine schnuckelige Dachgeschosswohnung – die Maklerin nannte es Penthouse – in Flensburg kaufen konnte. Ja, vor acht Jahren klappte das noch mit 250 Riesen.

Wegen meiner Großmutter fahre ich immer noch ab und zu mal auf die Insel. Sie ist mittlerweile im Pflegeheim, und meine Besuche sind ihre Highlights. Die wird sich freuen, wenn ich eine Weile auf Sylt sein muss.

Aber jetzt will ich erst mal den Abend nutzen, um mit meinem Boot rauszufahren, bevor ich vielleicht wochenlang auf der Insel festsitze. Also ab ins Auto. Auf dem Weg nach Bockholmwik rufe ich Amar an, um ihn über den neuen Dienstauftrag zu informieren. Er ist begeistert.

»Geil, Sylt«, schreit er mir ins Ohr, »das ist ja krass! Da war ich noch nie.« Ich muss dazusagen, Amar kommt aus Leverkusen, und da er immer hinter seinem Bildschirm sitzt, hat er noch nicht viel hier im Norden gesehen.

»Na schön, dann treffen wir uns morgen um neun im Präsidium«, sage ich zu ihm, »wir nehmen meinen Wagen.«

Als ich zum Yachthafen komme, sind fast alle Boote unterwegs. Kein Wunder bei dem Wetter. Die Temperatur liegt noch über zwanzig Grad, die Abendsonne schimmert golden über dem Meer, und ein warmer Wind streicht über meine nackten Arme. Ein Gefühl, als wäre man am Mittelmeer. Ich schnappe mir meine Jolle und segle Richtung Dänemark. Es ist einfach herrlich. Beim Segeln ist man an der frischen Luft, der Wind bläst den Kopf frei, und man hat immer was zu tun, so dass man nicht ins Grübeln kommt. Die perfekte Freizeitbeschäftigung. Außerdem kann man an den einsamsten Stränden anlegen und Robinson Crusoe spielen. Genial.

Meine Lieblingsbucht ist unterhalb von Dybbøl Banke, da ist nie was los. Heute liegt allerdings schon ein anderes Boot da, trotzdem ankere ich, ziehe meine Schuhe aus und wate durch das eiskalte Wasser zum Strand. Kein Mensch ist zu sehen. Ich setze mich auf einen Findling, der von der Sonne aufgewärmt ist, und träume vor mich hin.

Auf einmal höre ich Gitarrenklänge. Futsch mit der Ruhe. Es ist keine Melodie, weit entfernt davon. Immer wieder die gleichen Töne, dann eine Pause, und wieder von Neuem. Ich schaue mich um, aber außer Felsen, Sand und ein paar Büschen ist nichts zu sehen.

Nun ja, es wird ohnehin langsam Zeit, wieder abzulegen und zurück zu segeln.

Gerade als ich losgehen will, verstummt die schräge Tonfolge. Endlich Ruhe, ich setze mich wieder hin.

»God dag«, sagt plötzlich jemand hinter mir. Ich schaue auf und sehe eine Erscheinung. Ein Mann wie aus einer Davidoff-Werbung steht mit nacktem Oberkörper direkt vor der Abendsonne, in der Hand eine Gitarrentasche. So ein Piratentyp mit hagerer Figur, wettergegerbtem Gesicht, blonden, halblangen Haaren und einem umwerfenden Lächeln. Es verschlägt mir die Sprache.

Ich fange mich und sage: »Hej.« Damit hat sich mein Dänisch auch schon erschöpft.

Ihn scheint das nicht zu stören, denn er quatscht auf Dänisch weiter, bis ich auf Englisch sage, dass ich kein Wort verstehe.

»Oh, eine Deutsche«, ist seine Antwort. Er wechselt mühelos in meine Sprache: »Ich bin Mats, Mats Erikson.«

»Wie viele s?«, frage ich.

Er schaut mich verständnislos an.

»Neele Eriksson. Mit zwei s.«

Er lächelt. »Ist ja witzig. Ich hoffe, ich habe dich nicht zu sehr gestört?«

»Alles gut. Ich muss sowieso langsam wieder los.« Dennoch bleibe ich wie gelähmt sitzen.

»Ist das dein Boot?« Er deutet auf meine Jolle.

Ich nicke. »Bist du auch mit dem Boot da?«

»Ja, da hinten, hinter der Biegung. Ich mag diese Bucht, hier hat man seine Ruhe.«

»So?«, frage ich mit einem Grinsen.

Er schmunzelt. »Ich wollte mal was Neues ausprobieren. Und hier ist normalerweise kein Mensch. Darf ich mich setzen?«

Jetzt fällt sein Blick auf meine Augen.

Bei mir hat jedes eine andere Farbe, eins ist grün, eins blau. Das nennt man Heterochromie, eine Störung der Pigmentierung der Regenbogenhäute. Ist nicht weiter schlimm und hat auch keinen Einfluss auf die Sehfähigkeit, aber auf andere wirkt es irritierend.

Die folgende Bemerkung höre ich nicht zum ersten Mal: »David Bowie hatte auch solche Augen.«

»Ich weiß, doch bei ihm war es nicht angeboren, sondern ist durch eine Verletzung entstanden.«

»Ich habe das noch nie gesehen, entschuldige, dass ich dich einfach darauf anspreche.«

»Macht doch nichts, das passiert mir öfter«, entgegne ich lächelnd.

Er erwidert mein Lächeln und setzt sich auf einen Findling. Die Gitarre stellt er neben sich ab. Dann schaut er mir in die Augen. »Und welche Musik magst du?«

Sein Blick trifft mich ins Mark, ich muss mich zusammenreißen. Dass ich Oldies mag, will ich ihm nicht auf die Nase binden, daher antworte ich: »Alles Mögliche, mir fällt gerade nichts Bestimmtes ein.« Intelligente Antworten klingen anders.

Mats nimmt seine Gitarre aus der Hülle und fängt an zu spielen. Er kann eindeutig mehr als Tonleitern üben. Es klingt wunderschön, und dass ich eigentlich wegwollte, habe ich längst vergessen.

Irgendwann packt er seine Gitarre wieder weg, und wir quatschen ein bisschen, wobei er mich mehr ausfragt, als er über sich preisgibt. Von ihm erfahre ich nur, dass er in Sønderborg Musiklehrer und Chorleiter ist und außerdem auf Stadtfesten und Konzerten auftritt.

Irgendwann ist die Sonne weg, und es wird kalt. Wir gehen zu meiner Jolle.

»Schönes Teil«, bemerkt er.

»Danke.«

Ich ziehe das Boot seitlich heran, und als ich mich wieder umdrehe, spüre ich am ganzen Körper seine Nähe, obwohl wir uns nicht berühren.

»Gibst du mir deine Handynummer?«, fragt er.

Ich will ihm nicht zeigen, wie sehr mich die Frage freut, daher schaue ich so unbeteiligt wie möglich drein und nenne langsam meine Nummer, die er in sein Mobiltelefon eintippt.

»Danke. Ich wähle dich mal an, dann hast du auch meine Nummer, vielleicht kommst du ja öfter in die Bucht.«

Vom Boot aus sehe ich kurz darauf, dass er mir nachwinkt. Mal schauen, ob er sich meldet. Ein Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht.

Irgendwie war es eine Superidee, heute loszusegeln.