Um sieben Uhr reißt mich der Wecker meines iPhones aus dem Schlaf. Wie jeden Morgen schäle ich mich aus dem warmen Bett und schlurfe in die Küche, um die Kaffeemaschine anzuwerfen. Ein altes Gerät aus dem Restaurant meiner Eltern, aber immer noch ein edles Teil, das einen perfekten Cappuccino liefert.
Ich ziehe meine rosa Strickjacke über und setze mich mit der Kaffeetasse auf den kleinen Ausguckbalkon. Auf der anderen Seite habe ich einen größeren, so eine Art Dachterrasse, allerdings geht die auf den Hinterhof. Nur auf dem kleinen Balkon vorne kann ich das Leben in der Straße beobachten, was ich viel interessanter finde. Direkt gegenüber liegt Mattes Kiosk und Drugstore. Der hat quasi immer geöffnet und verkauft einfach alles. Wahrscheinlich nimmt Mattes auch das mit dem Drugstore etwas zu wörtlich, doch das will ich gar nicht wissen. Wie oft bin ich schnell über die Straße gehechtet, wenn mein Kühlschrank mal wieder gähnend leer war. Mattes, der Retter der Berufsjunkies.
Ich bleibe eine Weile in der Morgensonne sitzen und gönne mir eine zweite Tasse.
Jetzt eine Zigarette! Doch ich habe vor einem Jahr eine Menge Geld investiert, um aufzuhören. Hypnose, »Glückliche Nichtraucher«-Seminar, Online-Entwöhnung, das komplette Programm. Die ganze Kohle kann man ja nicht einfach wieder in die Luft blasen.
Als ich Amar um neun im Kommissariat treffe, ist der immer noch gut drauf. Anscheinend verwechselt er unseren Einsatz mit einem Sylt-Urlaub auf Staatskosten.
Da ich keine Lust auf Small Talk habe, schalte ich beim Fahren meine Oldies ein. Es dauert sowieso nicht lange, nach einer Stunde sind wir in Niebüll und erwischen auch gleich einen Autozug. Ich bin die Strecke schon so oft gefahren, dass ich gar nicht mehr aus dem Fenster schaue, sondern mich lieber in die Fallunterlagen vertiefe. Amar jedoch kommt aus dem Staunen nicht raus. Klar, er ist im Ruhrgebiet aufgewachsen und noch nie im Auto auf einem Zug übers Meer gefahren.
Endlich klappt auch Amar sein Notebook auf und fängt an zu arbeiten. Richtig so. Schließlich wollen wir vor den Syltern nicht wie Dösbaddels dastehen.
Der Fall ist nicht uninteressant. Ein Sylter Promiarzt geht wandern auf dem Jakobsweg und wird irgendwo an einer einsamen Stelle von seinem Mörder erwartet. Dieser betäubt ihn mit einem Taser und verpasst ihm dann einen Cocktail aus Opioiden und Psychopharmaka. Fentanyl, Oxycodon und Diazepam konnten nachgewiesen werden. Da wollte wohl einer ganz sicher gehen. Die Folge der Injektion war eine Atemdepression. Anschließend Koma, Atemstillstand und Tod.
Da an der Einstichstelle eine erhöhte Konzentration der Wirkstoffe nachweisbar war und es ansonsten keinen Hinweis auf Drogenmissbrauch gab, gehen die spanischen Kollegen von einer Fremdtötung aus.
So weit, so klar oder auch unklar. Denn wieso sollte sich ein Sylter Arzt in Spanien auf dem Jakobsweg ermorden lassen?
Ich lese weiter. Der Tod trat am Mittwoch, den 8. Mai 2019 ein, schätzungsweise zwischen elf und fünfzehn Uhr. Am nächsten Tag, also am Donnerstag, entdeckte der Sylter Hauptkommissar Michael Müller, der ebenfalls seinen Urlaub auf dem Jakobsweg verbrachte, den Toten im Wald, als er ins Gebüsch ging, um sich zu erleichtern.
Von Schütz weiß ich bereits, dass Müller den Arzt zwei Tage vorher kennengelernt hatte und mit ihm in einem Restaurant gewesen war. Zum Glück hatte der Hauptkommissar für den Tatzeitpunkt ein felsenfestes Alibi, das von mehreren Zeugen bestätigt wurde. Der Leiter des Sylter Kommissariats als Mörder, das wäre noch schöner gewesen.
Plötzlich hält der Zug mit einem Ruck an. Wir sind in Westerland. Auch Amar klappt sein Notebook wieder zusammen.
»Ganz schön schräge Geschichte«, brummt er vor sich hin.
Wo er recht hat, hat er recht.
Kurz darauf stehen wir vor dem Telekomgebäude, dahin musste die Kripo umziehen, solange die Westerländer Polizeidirektion renoviert wird. Ich parke meinen Audi, dann gehen wir auf der Suche nach dem Eingang um den dreistöckigen Klotz. Auf dem Parkplatz hinter dem Gebäude werden wir fündig. Ein großes Schild weist darauf hin, dass sich in den Containern, die man in mehreren Reihen aufgestellt hat, die Polizeiwache befindet, und eine weitere Hinweistafel mit der Aufschrift »Kriminalkommissariat« zeigt auf eine Hintertür des Telekomgebäudes.
Dort nehmen wir eine Treppe und klingeln an einer Glastür. Da ich uns telefonisch angekündigt habe, erwartet uns der Kommissariatsleiter schon. Die Begrüßung fällt etwas reserviert aus. Es ist immer wieder dasselbe. Die Kollegen, die uns anfordern müssen, sehen uns nicht besonders gerne, weil sie befürchten, dass wir Ihnen zu sehr reinreden. Was soll’s?, denke ich, wir müssen uns ja nicht lieben, wir müssen nur zusammenarbeiten.
In Müllers Büro nehmen wir an einem kleinen Besprechungstisch Platz, und während er uns den Stand der Ermittlungen erläutert, schaue ich mir den Wanderfreund an. Er ist ungefähr in meinem Alter, irgendwo zwischen fünfunddreißig und vierzig, und sieht trotz seines mürrischen Gesichtsausdrucks recht nett aus. Braune Locken, braune Rehaugen, und ein kleiner Hang zum viszeralen Fett, also eher Waschbär- als Waschbrett-Bauch. Aber dick ist er nicht. Eigentlich ganz attraktiv in dem weißen Hemd, das seine braun gebrannte Haut betont. Na ja, er kommt auch gerade aus dem Urlaub.
Die Tür geht auf, und eine Frau marschiert herein. Müller stellt sie als Kriminalkommissarin Marieluise Kleinschmidt vor. Von wegen klein, sie ist größer als ich, und das will schon was heißen. Einfach alles an ihr ist groß, Hände, Füße, Mund, aber vor allem ihr Busen, geschätzt F. Amar fallen fast die Augen aus dem Kopf, es ist zum Fremdschämen.
Die Kommissarin nimmt sich einen Stuhl und starrt mich an. Alles klar, meine Augen. Ich kläre die Kollegen zum Thema Heterochromie auf. Lasst euch nicht irritieren.
Dann legen wir los. Hauptkommissar Müller gibt ein Update. Die spanischen Kollegen haben schon die Daten von Kehlheims Cloud ausgewertet, alle Achtung.
Müller zeigt auf einen Stapel Ausdrucke. »Die Chatverläufe und Einzelverbindungen der Internettelefonate von Kehlheim. Ausschließlich deutsche Adressen und Telefonnummern.«
Das klang nach Arbeit.
»Haben wir auch sein Handy?«, fragt Amar, der sich langsam wieder fängt.
»Nein.« Müller schüttelt den Kopf. »Der Täter hat alles vom Tatort entfernt. Wir wissen nur, dass er einen Telekom-Vertrag hatte, eine Anfrage an den Anbieter läuft. Aber ihr kennt das ja, das kann dauern.«
Und ob wir das kennen. Davon können wir ein Liedchen singen. Wir haben uns übrigens aufs Du geeinigt. Macht Sinn, so unter Kollegen, ob man sich nun leiden kann oder nicht.
»Wisst ihr, ob es schon ähnliche Fälle auf dem Jakobsweg gab?«, fragt Amar, den Blick starr auf Müller gerichtet. Er gibt sich Mühe, das muss man ihm lassen.
Dieser schüttelt entschieden den Kopf. »Da haben wir uns auch schon erkundigt. In fünfzehn Jahren gab es nur zwei Tötungsdelikte auf dem Jakobsweg: eine verschwundene Engländerin, deren Leiche erst Jahre später gefunden wurde, und eine Vergewaltigung mit Todesfolge. Bisher wurden die Täter nicht ermittelt. Das hilft uns also nicht weiter.« Er wendet sich an seine Kollegin: »Marieluise, willst du weitermachen?«
Die ist schnippisch: »Ich denke, die Kollegen haben die Unterlagen gelesen.«
»Wir haben noch gar nicht alles ins Intranet gestellt, bring sie bitte auf den neuesten Stand!« Jetzt klingt Müller etwas gereizt.
Marieluise zieht eine Schnute, sucht aber ihre Notizen zusammen und versucht erst mal ihren engen Rock, der beim Sitzen hochgerutscht ist, wieder zurechtzustreichen. Die Dienstanweisung betreffs anforderungsgerechter ziviler Kleidung nimmt man hier auf der Insel anscheinend recht locker. Die junge Kommissarin stöckelt auf die Pinnwand zu und beginnt zu dozieren:
»Das ist die gesamte Reise Kehlheims. Am Mittwoch, dem zweiten Mai, ist er von Hamburg über Amsterdam nach Bilbao geflogen. Er hat das Guggenheim-Museum besucht und im Fünfsternehotel Meliá geschlafen. Am Donnerstag ist er nachmittags mit dem Expressbus nach St. Jean Pied de Port in Frankreich gefahren. Dort stieg er im Hôtel des Remparts ab, und am Freitag begann er mit seiner Wanderung.«
Mit einem Stab zeigt sie die Stationen auf der Karte. Hier auf der Insel steckt die Digitalisierung offensichtlich in den Kinderschuhen.
»In Estella hat er zum letzten Mal übernachtet. Hier hat ihn Michael getroffen.« Sie blickt zu ihrem Chef. »Kehlheim hat übrigens jeden seiner Schritte in den sozialen Medien gepostet. Gut für uns, aber leider auch gut für seinen Mörder oder seine Mörderin. So konnte man ihn leicht abpassen.«
»Danke, Marieluise.«
Sie setzt sich wieder umständlich auf ihren Platz, was ihrem knallengen Rock geschuldet ist. Wie kann man in unserem Job nur so etwas tragen? Sie ist doch keine Chefsekretärin in einer Vorstandsetage.
Jetzt meldet sich Amar zu Wort. »Sollten wir unserem Täter oder« – er blickt zu Marieluise – »unserer Täterin nicht einen Namen geben?«
Damit will ich garantiert keine Zeit vergeuden. »Wir nennen sie oder ihn der Einfachheit halber am besten Täter, einverstanden?«
Müller nickt und fährt fort: »Die Spanier haben auf Kehlheims gesamter Route Fahndungsplakate verteilt und suchen Pilger, die mit ihm Kontakt hatten. Bisher ohne Ergebnis.«
»Habt ihr seine Frau schon informiert?«
»Ich bin erst gestern von Spanien zurückgeflogen, aber ein Kollege von der Schutzpolizei war mit dem Keitumer Pastor bei ihr.«
»Mit diesem Kollegen sollten wir so schnell wie möglich sprechen!«, sage ich. Ich will wissen, wie die Ehefrau reagiert hat.
»Klar, wie ihr wünscht«, brummt Müller, »das wird sich einrichten lassen.«
»Und wir müssen an Kehlheims Computer rankommen. Den kann Amar checken. Am besten, wir gehen heute zur Witwe und klären das ab.«
Der Kollege schaut mich gereizt an. »Das ist schon geplant.«
»Wie viele Leute könnt ihr für den Fall abstellen?«, frage ich.
»Unsere Personaldecke ist im Moment ein Witz, zwei sind krank, einer im Vaterschaftsurlaub, und jetzt, wo die Saison wieder anfängt, ist auch bei der Schutzpolizei kein Spielraum.«
»Sind die alle hier in dem Telekomgebäude?«, erkundigt sich Amar.
»Nee, die Schutzpolizei ist in den Containern dahinten, solange die Wache renoviert wird.« Er deutet aus dem Fenster. »Warum fragst du?«
»Äh, nur so.« Amar zuckt mit den Schultern. »Ich überlege, wo wir arbeiten können.«
Müller steht auf und führt uns in eine Art Besenkammer, in die ein Tischchen und zwei Stühle gequetscht sind. Das ist alles. Ein kleines Fenster, wie man es von Toiletten oder Kellerräumen kennt, wirft ein schwaches Licht in die Kammer. Einen Arbeitsplatz auf Sylt hätte sich Amar wohl anders vorgestellt.
»Sorry«, sagt Müller, »aber wir sind im Moment platztechnisch etwas eingeschränkt.«
Nennt man das nicht Euphemismus?
Amar schlägt leicht mit der flachen Hand auf den Tisch. »Na ja, ein Computer passt wahrscheinlich drauf.«
Wir gehen zurück in Müllers Büro, das jetzt im Vergleich zu unserer Absteige richtig luxuriös wirkt, und machen einen Schlachtplan.
Der sieht so aus, dass Amar und Marieluise Kehlheims Kontakte und E-Mails checken, während der Sylter Kripochef mit mir zur Witwe fährt. Wir wollen den Computer des Toten von dort mitnehmen, damit Amar die Daten auswerten kann.
Bevor wir losfahren, versuche ich, den Polizisten zu erreichen, der gestern bei der Witwe des Opfers war. Er wohnt natürlich auf dem Festland, wie viele, die hier nichts geerbt oder erschwindelt haben, und kann heute nicht kommen. Am Telefon erfahre ich, dass er es einfach dem Pfarrer überlassen hat, mit Myriam Kehlheim zu sprechen. Na super.
Der Pfarrer, den ich anschließend anrufe, spricht von einem schweren Schicksalsschlag und der Tapferkeit der Witwe. Er will später noch mal bei ihr vorbeischauen. Wobei es eigentlich nicht seine Aufgabe sei, wie er betont, da die Kehlheims nicht Mitglieder der Kirche seien.
Ich weiß schon, warum ich aus dem Verein ausgetreten bin.
Das ist also schon mal völlig schiefgelaufen. Dabei wird jedem Polizisten eingebläut, die Reaktionen beim Überbringen einer Todesnachricht genau zu beobachten, denn Tatsache ist nun mal, dass über achtzig Prozent aller Morde im engsten Familienkreis begangen werden. Wenn ich an meine Familie denke, kann ich das sehr gut nachvollziehen.
Wir nehmen Müllers Auto, er fährt einen alten Ford Escort, beige mit roten Ledersitzen, ein cooles Teil, hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Auf dem Weg frage ich ihn, wie er nach Spanien geflogen ist, zum Jakobsweg, und wie lange das gedauert hat.
»Du willst wahrscheinlich wissen, wie lange der Täter von hier unterwegs war, um Kehlheim auf dem Jakobsweg abzumurksen?«
Ich nicke.
»Drei Stunden zum Airport Hamburg, vier Stunden Flug nach Bilbao, eine Stunde Autofahrt zum Jakobsweg plus drei Stunden Wartezeiten, macht elf Stunden hin, elf Stunden zurück. Unser Mörder war also auf alle Fälle zwei Tage unterwegs, mindestens von Dienstag bis Mittwochabend letzte Woche.«
»Wenn er von hier ist!«
»Jo«, brummt der Kollege, »sobald wir die Kontakte von Kehlheim haben, können wir die Flughäfen und Autovermietungen überprüfen.«
»Du hast ihn doch kennengelernt, wie war er eigentlich, der Kehlheim?«
Müller hebt die Schultern. »Wir haben gleichzeitig im Hotel eingecheckt und festgestellt, dass wir beide auf Sylt leben. Darüber sind wir ein bisschen ins Quatschen gekommen, und später haben wir uns zufällig in der gleichen Bodega wiedergetroffen und zusammen gegessen. Was soll ich sagen? Ich habe mich erkundigt, was es kosten würde, meine Tränensäcke zu entfernen. Man trifft ja nicht jeden Tag einen plastischen Chirurgen. Hat mich nur mal rein theoretisch interessiert.«
Ich schaue ihn an, sehe jedoch keine auffälligen Tränensäcke, die man entfernen müsste. Sind wir vielleicht ein bisschen eitel? Der moderne Mann steht den Frauen offenbar in nichts nach.
»Hat er auch was über sich gesagt?«
»Nicht viel, das übliche Jakobsweg-Gequatsche von Selbstfindung. Er wollte sein Leben verändern und stand wohl vor einer schweren Entscheidung. Leider weiß ich nicht, welche, Schiete. Er hat mich gefragt, ob ich eine Familie und Kinder habe. Das sei doch der Sinn des Lebens, hat er immer wieder gesagt. Ich glaube, ihm fehlte wohl Nachwuchs. Außerdem hat er herumgejammert, er hätte jetzt gerade wieder einen dusseligen Fehler gemacht, den er bereue. Und ich Blödmann habe nicht nachgehakt, welchen. Ehrlich gesagt, habe ich ihn leider nicht motiviert, mehr über sich zu sprechen. Das ist sehr ärgerlich. Aber wer denkt denn auch, dass er sich am nächsten Tag abmurksen lässt? Und wir haben auch ein bisschen zu viel Vino Tinto getrunken.«
»Hat er etwas über seine Frau erzählt?«
»Er hat gesagt, dass er noch verheiratet ist. Das ›noch‹ hat er betont.«
»Die Ehe hat also gewackelt. Und jetzt erbt die Witwe wahrscheinlich ’ne Menge Kohle.«
Inzwischen sind wir auch schon in Kampen.
»Willst du mit der Kehlheim sprechen?«, biete ich ihm an. Besser, ich lasse hier nicht die Chefin raushängen.
Müller hebt die Schultern. »Kann ich machen.«
»Gut«, sage ich und nicke.
Der Promi-Ort der Insel ist eigentlich langweilig. Reetdachhäuser, die sich hinter Friesenwällen verstecken, auf denen jede Menge Friedhofsträucher angepflanzt sind, Kirschlorbeer, Zwergkiefern und Thuja. Und in der Mitte das Ortszentrum mit unbezahlbaren In-Restaurants und Luxusmarkenshops.
Das Reetdachhaus der Arztwitwe befindet sich in einer Seitenstraße. Auch wenn es nicht besonders groß wirkt, ist es garantiert einige Millionen wert.
Wir machen das Gartentor auf und treten in eine andere Galaxie. Das habe ich schon öfter erlebt hier in Kampen. Die hohen Büsche schirmen die Häuser so ab, dass man quasi allein auf der Welt ist.
Hier ist es vollkommen ruhig. Im Garten bekommt man nichts von der Außenwelt mit. Innerhalb der Sichtschutzmauern ist alles perfekt: der vom Gärtner gepflegte Rasen, die in Form gestutzten Büsche und die hellblauen Hortensien, die das Haus einrahmen. Es ist wie beim Traumschiff oder bei Rosamunde Pilcher. Alles ein bisschen viel halt.
Wir klingeln ein paarmal und warten. Gerade als wir wieder gehen wollen, wird die Haustür geöffnet, und wir zücken unsere Dienstausweise.
Obwohl Myriam Kehlheim ziemlich mitgenommen aussieht, ist sie auffallend attraktiv. Verwuscheltes Blondhaar, Traumfigur, perfekt modelliertes Gesicht. Kein Wunder, sie war ja mit einem Schönheitschirurgen verheiratet, saß also direkt an der Quelle. Ich weiß jedenfalls, dass sie nicht so jung ist, wie sie aussieht. Sie ist sechsunddreißig, genau wie ich.
Nachdem wir ihr unser Beileid bekundet haben, versucht Müller sie zu befragen, aber sie gibt nur einsilbige Antworten, und selbst die kommen ziemlich verwaschen aus ihrem Mund. Sie teilt uns mit, dass sie ein Beruhigungsmittel genommen hat und sich hinlegen muss. Ihrem Atem nach zu urteilen, war das Beruhigungsmittel in einer Weinflasche abgefüllt. Daher verschieben wir die Befragung auf Sonntag und erklären ihr, dass wir den Computer ihres Mannes mitnehmen müssen.
Das passt ihr nicht, aber nach einigem Zögern willigt sie ein. Den Termin für die morgige Befragung lege ich ihr gut sichtbar auf eine Kommode. Wer weiß, woran sie sich morgen noch erinnert?
Im Notrevier, wo wir kurze Zeit später wieder eintreffen, dampfen die Köpfe der beiden Kollegen. Amar hat sich auf dem Tischchen in der Kammer ausgebreitet, so dass für mich kein Zentimeter Platz bleibt. Also muss Müller notgedrungen einen Beistelltisch in seinem Büro für mich freiräumen.
»Gibt’s was Neues?«, frage ich, nachdem wir uns alle um Müllers Schreibtisch versammelt haben.
»Kehlheim hat ein paarmal mit einer deutschen Handynummer gechattet, die einer gewissen Caroline Schumacher gehört. Sie wohnt in Westerland. Hier ist die Adresse.« Amar wedelt mit einem Zettel.
»Ich würde sagen, da fahr ich mal hin. Mal sehen, in welcher Verbindung die Frau zu unserem Opfer steht.«
»Und ich werde seinen Praxispartner besuchen, einen Dr. Timo Schiller«, meint Müller, »der wohnt in Keitum.«
»Dann mach ich mich an Kehlheims Computer«, sagt Amar.
»Jetzt bleiben mir wohl die Adressen«, mault Marieluise.
»Kommt ihr noch mal rein?«, will Amar wissen.
»Lass uns morgen treffen, ich bin erst gestern Abend zu Hause angekommen. Heute muss ich früh ins Bett.« Wie zur Bestätigung gähnt Müller.
»Apropos Bett, wo schlafe ich eigentlich?« Amar schaut mich fragend an.
Ich gebe den Blick an die Sylter weiter.
»Ähm, wir haben noch nichts gebucht, weil die Info kam, dass Sie sich selbst etwas besorgen. Das war wohl ein Missverständnis. Jetzt müssen wir schauen, ob wir ein Zimmer finden. Ist halt schon Saison.«
Nach einigem Hin und Her erklärt sich Marieluise bereit, sich darum zu kümmern, was mein Kollege mit einem strahlenden Lächeln belohnt. Wenn er mal nicht zu viel erwartet.
Ich selbst kann im Häuschen meiner Oma wohnen, das leer steht, seit sie im Pflegeheim ist. Doch ich habe partout keine Lust, mein Gästezimmer anzubieten.