Obwohl es ganz schön spät wurde, stehen wir am nächsten Morgen beide pünktlich vor Carolines Wohnung.
Das Wohnzimmer sieht immer noch aus wie ein Schlachtfeld. Die Lage der Leiche ist mit Kreide gekennzeichnet, und überall sind neben den Blutspuren auch Luminol- und Graphitspuren von der Beweissicherung zu sehen. Wir müssen unbedingt einen Tatortreiniger herschicken, notiere ich im Kopf.
Da schon eine Wohnungsdurchsuchung stattgefunden hat, konzentrieren wir uns darauf, Hinweise auf Carolines Verbindung zu Maik Thomson zu entdecken. Zu Müllers großer Enttäuschung gibt es dafür nicht den geringsten Anhaltspunkt. Keine Fotos, keine Briefe, nichts, was darauf hindeutet, dass sie zum Beispiel mal einen Surfkurs gemacht hat, wo sie ihn hätte kennenlernen können.
Wir erkundigen uns auch bei Carolines Chefin, ob sie einen Maik Thomson in ihrer Patientenkartei hat, aber auch das: negativ.
Während wir ihre Sachen durchwühlen, versuchen wir uns ein Bild von der Verdächtigen zu machen. Ein Kühlschrank voller Bioprodukte, unzählige Teesorten und Duftkerzen, eine Klangschale und natürlich die Buddhastatue, die heutzutage in keinem Haushalt fehlen darf. Andererseits gibt es auch Schubladen voller Reizwäsche, die so gar nicht in die grün-alternative Wohnung passen. Dazu eine Sammlung greller Dildos, bei deren Anblick es mich schüttelt.
»Ein Kind von Traurigkeit ist die nicht«, meint Müller, »man wird doch immer wieder überrascht.«
»Das kann man laut sagen!« Ich nicke und deute auf die Pokale in ihrem Bücherregal. »Sie macht auch Kampfsport. Judo.«
Ihren Büchermix könnte man ebenfalls als kreativ bezeichnen. Neben Frauenliteratur und Werken über Naturmedizin, Buddhismus und Meditation gibt es einen Meter Bücher zu Themen wie Erfolg, Macht und Stärke. Offensichtlich steht Caroline auf Selbstoptimierung.
Nun gut, wir wissen, sie wollte die Praxis kaufen, also ist sie ehrgeizig. Aber würde sie dafür einen Mord begehen? Wer ist Caroline Schumacher? Ist sie eine Mörderin, oder hat sie sich gegen einen Mordversuch gewehrt? Ist sie die skrupellose Täterin oder das bedauernswerte Opfer?
Bevor wir die Wohnung verlassen, packen wir ihr Notebook ein, ihr Mobiltelefon hat Amar schon aus dem Krankenhaus mitgenommen.
Im Revier erwartet uns kurz darauf das Kontrastprogramm zur leeren Wohnung der Verdächtigen. Tausend Anrufe. Presse, Bürgermeister, Kurdirektor, Fernsehsender, hier tobt der Bär. Unsere kleine Gruppe wird auf zehn Personen verstärkt, da bleibt nicht mehr viel Manpower, um den Sylter Verkehr zu überwachen.
Das ganze Team muss organisiert werden. Auch Schütz meldet sich und fragt, ob ich noch mehr Verstärkung brauche. Erst mal nicht. Wir einigen uns darauf, dass ich mich täglich bei ihm melde.
Amar, der mit dem Handy des Toten beschäftigt ist, ruft uns in sein Kabuff.
»Irgendwie kommt mir die Nummer von Thomsons Handy bekannt vor«, meint er.
»Wie lautet sie denn?«
Er liest sie vor.
Ich glaube es nicht. Das ist die Nummer, die ich bei Myriam Kehlheim auf dem Tisch gesehen habe, die Nummer des Handys mit der kroatischen SIM-Karte. Jetzt liegt es auf Amars Tisch.
Selbst Müller kriegt große Augen. Aber dann verteidigt er sofort seine Theorie: »Vielleicht hat der Tote es der Schumacher abgenommen.«
So ein Blödsinn. Die Nummer lag auf Myriam Kehlheims Wohnzimmertisch. Warum sollte wohl die Witwe Kehlheims die geheime Handynummer der Geliebten ihres Mannes haben? Glaubt Müller etwa, dass die beiden Frauen unter einer Decke stecken? Wie Leslie Mann und Cameron Diaz in dem Film Schadenfreundinnen?
Nein. Da gibt es nur eine Erklärung. Die Kehlheim steckt mit dem Toten unter einer Decke. Was auch Sinn ergeben würde. Schließlich hat sie allen Grund, einen Mörder zu ihrer Rivalin zu schicken, um dafür zu sorgen, dass der Erbe ihres verstorbenen Mannes nie das Licht der Welt erblickt.
Plötzlich klingelt das sichergestellte Handy. Unbekannte Nummer. Wir halten alle die Luft an, und ich gebe Amar ein Zeichen, das Gespräch anzunehmen.
Er stellt auf Lautsprecher und meldet sich: »Ja?«
»Bist du das? Warum rufst du nicht an?« Eine Frauenstimme. Könnte die Stimme der Kehlheim sein.
»Myriam«, sagt er.
Knall. Sie hat aufgelegt.
»Amar, wir fahren sofort zu Myriam Kehlheim und suchen das Handy, von dem der Anruf getätigt wurde. Gefahr im Verzug.« Ich wende mich an Müller: »Kannst du inzwischen einen Durchsuchungsbeschluss ausstellen lassen und mit zwei Kollegen nachkommen?«
Er nickt, und schon hängt er am Telefon. Amar und ich nehmen einen Einsatzwagen und rasen nach Kampen, aber wir kommen zu spät. Das Gartentor steht weit offen, und Myriam Kehlheim ist nicht da. Gerade weggefahren, wie wir von einer Nachbarin erfahren. Hoffentlich nicht, um das verdächtige Handy zu entsorgen.
Wir gehen um das Haus. Auf dem Terrassentisch stehen die Reste ihres Frühstücks. Scheint ja ein schneller Aufbruch gewesen zu sein. Anschließend probieren wir, ob sich ein Fenster oder eine Tür des Hauses öffnen lässt. Gerade als wir beschließen, einen Schlüsseldienst zu rufen, fährt ein Porsche Cabrio mit Schwung in die Einfahrt.
Aha, die Dame des Hauses. Myriam Kehlheim steigt aus, ungeschminkt, mit Leggings, T-Shirt und Badelatschen, in der Hand die Rundschau.
»Sie schon wieder?«, fährt sie uns an. »Was erlauben Sie sich, einfach hier einzudringen?«
»Wir müssen Sie sprechen«, setze ich gerade an, als Müller mit zwei Beamten dazukommt. Er hält ihr den gerade durchgefaxten Durchsuchungsbeschluss vor die Nase. »Frau Kehlheim, wir müssen eine Hausdurchsuchung machen. Wir brauchen auch Ihr Mobiltelefon.«
Myriam schnappt nach Luft. Sie will etwas erwidern, besinnt sich jedoch anders und gibt Müller mit einer heftigen Bewegung ihr Handy, dreht sich um und murmelt im Weggehen: »Machen Sie doch, was Sie wollen.«
Amar nimmt sich das Handy vor, während wir das Haus durchforsten. Obwohl wir jeden Stein umdrehen, finden wir kein weiteres Mobiltelefon. Und auf dem Handy, das sie uns ausgehändigt hat, ist kein Anruf von der verdächtigen Telefonnummer. Falls es ein zweites Handy gibt, hat sie es wahrscheinlich gerade im Meer versenkt. Wir waren zu spät.
Myriam Kehlheim sitzt währenddessen in einem Sessel im Garten und blättert gelangweilt in einer Zeitschrift.
»Wenn so viel Geld im Spiel ist, gibt es garantiert einen Tresor«, überlegt Müller.
»Du hast recht.« Ich nicke anerkennend. »Fragen wir sie doch mal.«
Nach einigem Zögern steht sie auf und zeigt auf ein großes Gemälde im Wohnzimmer. »Hier.«
»Haben Sie einen Schlüssel?«
»Nein.«
Wer’s glaubt. Müller droht ihr: »In dem Fall müssen wir ihn öffnen lassen.«
Sie zuckt mit den Schultern.
Das kann jetzt eine längere Geschichte werden. Während unsere Kollegen das Bild abhängen, versucht Müller Burg-Wächter zu erreichen, das ist der Name des Herstellers, der auf dem Tresor steht. Sie geben uns die Nummer eines Technikers, der tatsächlich kurz darauf kommt.
Gut gelaunt hackt der mit Tattoos übersäte junge Mann auf die Tastatur seines Laptops ein und knackt das elektronische Schloss. Das Ganze hat nicht mal zehn Minuten gedauert. Gespannt starren wir rein. Nur ein Stapel Papiere liegt in einem Fach, ansonsten ist der Tresor leer.
Kein Schmuck, kein Geld, kein Gold, nichts von Wert. Ob die Witwe nicht doch den Code weiß und sich schon bedient hat?
Bei einer schnellen Durchsicht der Unterlagen stellen wir fest, dass es sich um die Ausbildungsbelege Kehlheims, Grundbuchauszüge und Kaufverträge handelt. Außerdem den Gesellschaftsvertrag der Praxis und diverse Schreiben. Wir stellen ein Protokoll für die Witwe aus und packen die Akten ein.
Die Kehlheim sitzt immer noch völlig unbeteiligt im Garten.
»Wo bewahren Sie Ihren Schmuck auf?«, erkundige ich mich, als ich ihr das Sicherstellungsprotokoll auf den Tisch lege.
Sie starrt mich herausfordernd an. »Im Schlafzimmer.«
»Haben Sie ein Bankschließfach?«, frage ich unbewegt.
»Nein.«
»Und Ihr verstorbener Mann, hatte der eins?«
»Ich glaube nicht.«
»Er hatte doch sicher wertvolle Uhren. Wo bewahrte er die auf?«
»Keine Ahnung«, entgegnet sie schnippisch, »vielleicht in der Praxis. Hier sind sie jedenfalls nicht.«
Sie muss den Tresor ausgeräumt haben. Es ist verdächtig, dass wir überhaupt keine Wertsachen im Haus gefunden haben. Kehlheim hat sich den Tresor garantiert nicht nur für die Aufbewahrung von ein paar Unterlagen besorgt. Wohin die Witwe wohl die Wertsachen geschafft hat? Wir müssen überprüfen, ob sie ein Bankschließfach gemietet hat.
Die Kollegen sind mittlerweile schon am Gehen und winken mir zu. Leider haben wir bisher nicht den geringsten Hinweis auf eine Verbindung zu dem Toten gefunden. Ich stelle ihr noch eine letzte Frage.
»Surfen Sie?«
»Warum wollen Sie das wissen?«
»Bitte antworten Sie.«
»Ab und zu hab ich das mal gemacht.«
»In der Surfschule am Weststrand?«
»Nein, in List. Was soll das Ganze?«, schimpft sie aufgebracht.
Ich sehe Müller an, dass er das Gleiche denkt wie ich: Sie ist nervös, wahrscheinlich weiß sie, weshalb wir uns nach der Surfschule erkundigen.
»Gehen Sie manchmal ins Surfer-Eck?« Das ist die Kneipe, in der Maik gekellnert hat.
»Keine Ahnung!« Sie schnauft hörbar. »Vielleicht war ich irgendwann mal da, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern.«
Das werden wir überprüfen. Irgendeiner wird Thomson und die Kehlheim wohl mal zusammen gesehen haben, wenn sie sich kennen. Außerdem haben wir unzählige Fingerabdrücke im Haus genommen. Mit etwas Glück ist ein Abdruck von Maik Thomson dabei.
Zurück im Revier hören wir, wie Marieluise gerade die spanischen Kollegen am Telefon über die neuesten Entwicklungen informiert. Seit klar ist, dass die Ermordung Kehlheims nichts mit dem Jakobsweg zu tun hat, ist deren Motivation, an der Aufklärung des Falles mitzuarbeiten, merklich gesunken. Nur mit Mühe und Not kriegen wir sie dazu, noch einmal die Autovermietungen mit den Fotos der verdächtigen Frauen abzuklappern. Plötzlich fällt mir meine Oma ein. Ich schaue auf die Uhr und sehe, dass es schon fünf vor eins ist. Verdammt, der Notar.
»Ich bin in der Mittagspause«, rufe ich, renne raus und schwinge mich aufs Fahrrad.
Als ich im Pflegeheim ankomme, sitzt Herr Menges schon gemütlich mit meiner Oma bei einem Tässchen Tee im Besucherzimmer. Der Raum sieht aus wie das Wohnzimmer von Miss Marple. Blümchenvorhänge, Spitzendeckchen, ein runder Tisch aus Kirschbaum auf Hochglanz poliert und Rosengeschirr in einem Büfett. Hier werden die Interessenten des Heimes hereingeführt, um eine kuschelige Atmosphäre zu vermitteln. Auch bei wichtigen Familientreffen darf das Zimmer genutzt werden.
Die beiden älteren Herrschaften plaudern angeregt, und ich setze mich dazu.
»Fangen wir mal an«, sagt Menges.
Zuerst erklärt er mir das Konstrukt, dass er sich zusammen mit dem Steuerberater überlegt hat, um die Steuern zu sparen.
Anschließend greift er nach den Verträgen und beginnt mit der Verlesung. Da er heiser und Oma schwerhörig ist, wird es ein mühseliges Unterfangen, das fast zwei Stunden dauert.
Oma fragt dauernd: »Wie?«, und er muss sich ständig wiederholen und viel Tee trinken, um seine Stimme wieder auf Vordermann zu bringen.
So sitze ich hier auf heißen Kohlen, mitten in einer Mordermittlung. Aber ich kann mich nicht beklagen. Schließlich werde ich gerade zum Hausbesitzer gemacht. Ich kann es immer noch nicht fassen.
Zum Abschluss gibt es noch ein Gläschen Sekt, und wir schütteln uns die Hände. Ich bin gerührt. Danke, liebe Oma.
Auf dem Rückweg nehme ich mir vor, in Zukunft so oft wie möglich am Wochenende nach Sylt zu fahren, um Zeit mit ihr zu verbringen. Ja, das werde ich tun.